Johannes Peter Zimmermann

Mund der Wahrheit


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quält sich die silberne Ellipse des Frühlingsmondes träge durch die letzten hellgrauen Nachtwolken, um sich gleich wieder hinter einem dunstigen Schleier zu verstecken. Es ist bereits früher morgen und ein frischer Tau hat seine ersten silbernen Wassertropfen wie kleine Kristallmurmeln auf die Knospen der Linden und die vereinzelten handförmig gefächerten Blattwedel des einsamen und noch rotbraun gefärbten Kastanienbaums gelegt, der sich von der anderen Flussseite am Münsterberg einigen sanften Windböen entgegenräkelt. Ein paar tief fliegende Boten des sich verabschiedenden Winters zwitschern mir aus den kargen Ästen ihren schrillen Gesang durch das weit geöffnete Fenster zu und ein einsamer Schillerfalter flattert aufgeregt im blassen Licht der flirrenden Morgenröte als zelebriere er im Flug einen ersten Tanz in Erwartung des nahenden Frühlings. Viel zu früh hat ihn das Leben in die feuchte Kälte eines klaren Märzmorgens hineingeboren und seine blau-braun gemusterten Flügel aus dem wohligen Kokon entlassen. Auch heute haben mich meine verstörenden Träume mehrfach aufgeweckt und wieder habe ich mich in Phantasien und konfusen Gedankentunneln verstiegen. Nach einer Nacht mit wenigen kurzen Schlaf- und vielen langen Wachphasen, nach einer ganzen Flasche Whiskey und unzähligen Erinnerungssplittern findet mein Geist langsam den Weg aus einem Labyrinth an Bildern hinein in den sich ankündigenden Tag. Bald wird wieder die Betriebsamkeit des Tages die friedliche Ruhe der Dunkelheit verdrängt haben. Schon bald wird die Strassenreinigung die Trottoire und Plätze vom Unrat der Nacht befreien und das Leben zurückkehren in die Restaurants am Oberen Rheinweg, in die Geschäfte der Freien Strasse, ins Bankenquartier und auf den Marktplatz vor dem prachtvollen roten Rathaus. Das hektische Treiben wird wieder seinen alltäglichen Gang gehen. Angestellte hasten in ihre Büros, Verkäuferinnen in ihre Läden und die Strassenbahnen der Baseler Verkehrsbetriebe werden wieder unablässig und pünktlich ihren vorgezeichneten Routen folgen. Wie eh und je werden wohl auch heute wieder an den Marktständen vor dem Rathaus mancherlei Schweizerische und internationale Spezialitäten angeboten, wie Korbwaren und frisches Obst, Gemüse, Bergkäse oder das typische Basler Ruchbrot. Wochenmärkte und besonders dieser haben für mich immer ein ganz spezielles Flair, eine altmodische Romantik, ohne dass ich es genau ausmachen könnte, was es genau ist. Es ist vielleicht das Traditionelle und Ursprüngliche was ich hier geniesse. Im Zeitalter, wo sich Menschen ihre Äpfel im Internet bestellen, entdecke ich auf einem Markt ein längst verlorenes, nostalgisches Lebensgefühl wieder. Hier in Basel liegt es aber gewiss auch an der historischen Kulisse der alten Gebäude, die den Marktplatz stilvoll einfassen. Gerade an diesem geschichtsträchtigen Ort im Zentrum Basels vor dem gut fünfhundert Jahre alten Rathaus mit seinem einzigartigen Innenhof und den kostbaren Statuen und Wandmalereien ist es die Seele einer Stadt, die man förmlich einatmen kann. Unterhalb des Münsterhügels inhaliert man zwischen Singerhaus und Falknerstrasse Basels Savoire-Vivre. Die phantastische Akustik des Rathausinnenhofes nutzen regelmässig Sänger, Musikanten und Chöre für ein kleines Potpourri ihrer Fähigkeiten und geniessen die kurze Aufmerksamkeit der vielen Passanten und Marktbesucher.

      Mitten unter Menschen habe ich hier nach all den Wirren und Wendungen, nach all den Sünden und Sühnen meinen sicheren Hafen gefunden vor denen, die mir nicht gut getan haben und denen ich wohl vermutlich auch nicht gut getan habe. Ich habe Zuflucht gefunden vor mir selbst und vor der einen, die mir alles war. Ich habe Zuflucht gefunden auch vor denen, deren Einfalt und Dummheit, deren Egoismus und Herzlosigkeit mir mein Leben zerstört haben. Obwohl so vieles so nah erscheint, ist das Meiste doch so unendlich weit weg von mir und meiner Gegenwart. Mein selbstgewähltes Exil lebe ich gewiss nicht in einer abgeschiedenen Enklave oder Einöde fernab der Zivilisation, sondern vielmehr wie eine Zuschauer, wie in einem Theater oder Kino. In den täglichen Premieren, die das Leben für mich aufführt, betrachte ich das Spektakel des Alltäglichen als einer, der in sicherer Distanz mitfühlt, mitlebt, mitleidet und mitliebt ohne jemals ein Teil der eigentlichen Geschichte zu sein. So bleibe ich verschont von neuen Verletzungen und neuen Wunden. Ich nehme am Leben teil als Voyeur in sicherer und respektvoller Entfernung zu den Menschen, ihren Eitelkeiten und den ihnen so unendlich wichtigen Habseligkeiten. Ich halte Abstand zu den profanen Problemen ihres Alltags, ihren geschäftigen Belanglosigkeiten, gesellschaftlichen Konventionen, den übersteigerten Geltungsbedürfnissen, den altvertrauten Neurosen und Profilierungssüchten. Ihre Einfalt und ihre Zerbrechlichkeit sind mir vermutlich viel bewusster als ihnen selbst. Ich hege keinen Groll gegen die Menschen an sich, aber ich halte stets Abstand zwischen Ihnen und mir. Nie wieder will ich, dass mich menschliches Schicksal berührt. Nie wieder soll die Hilflosigkeit und Not anderer mich so selbstzerstörerisch berühren. Mein Schicksal berührt auch niemanden, ausser Gerry vielleicht, einem inzwischen Freund gewordenen früheren Bandkollegen, der mittlerweile in Berlin lebt und zu dem mich eine stetig wachsende Freundschaft verbindet. Auch ihn werde ich bald wiedersehen. Endlich. Aber hier in Basel bin ich ein Voyeur des Lebendigen. Ich bin da und sehe dem Leben zu wie es sich mir zeigt, ohne Rührung und ohne Teilhabe.

      Gelegentlich beobachte ich von einem Strassen-Café oder von einer Parkbank aus die umtriebigen Geschäftigkeiten der Yuppies und modernen „Business People“, ihren selbstgewählten Tätigkeitstaumel auf der ewigen Jagd nach Anerkennung, Geld und Prestige. Nur selten beobachte ich ihre Musse. Und selbst in den Momenten der Zerstreuung verweilen die meisten von ihnen scheinbar nicht im Augenblick, sondern bearbeiten mit hektischem Daumen die Displays ihrer Smartphones und Tablets, unfähig im analog Lebendigen zu sein. Da ist es in Basel nicht anders wie in London, Berlin, Sao Paulo oder Tokio. Es ist wohl ein weltweites Phänomen zu sein, die ich gerne mit „digitalem Autismus“ bezeichne. Mir ist es fremd und es mutet wie einen Krankheit an, wenn sich Menschen ausgerüstet mit überdimensionalen Kopfhörern und grossformatigen Smartphones von der Aussenwelt abkapseln. Wen wundert da die wachsende Isolation, Bindungsängste und rücksichtslose Fokussierung auf den eigenen Vorteil im Sinn einer erbarmungslosen Selbstverwirklichung - immer hip, trendy und den neusten Werbeversprechen und Trendvorgaben aus dem digitalen Kosmos hirnlos Folge leistend? Unser digitaler Big-Brother hat viele von uns komplett umdressiert und unsere Existenz vollumfänglich berechenbar gemacht und ökonomisiert. Vielleicht gelingt es ja eines Tages einem allmächtigen Computer-Virus diesem gigantischen Irrsinn ein Ende zu bereiten. Wäre ich begabt in der Welt der Informationstechnologie, dann würde ich mich diesem hehren Ziel widmen: der Entwicklung eines globalen Computervirus, der uns in unsere menschliche Bestimmung zurückkatapultiert. Nun, ich werde weder den Baslern noch dem Rest der Welt mit meinen minimalen IT-Kenntnissen dieses Glück bescheren können. Ausserdem ist heute meine alljährliche Reise das, was mich mehr umtreibt als das analoge und digitale Leben da draussen.

      Basel hat mich in all den Jahren vieles gelehrt. Es hat mir Trost gespendet, wenn ich betrübt war. Es hat mir zugelächelt, wenn ich verzweifelt war und mich jeden Morgen wachgeküsst, wenn ich nicht mehr aufstehen wollte. Aber erst bei meinen Ausflügen in die Schweizer Bergwelt habe ich etwas viel bedeutungsvolleres gelernt: Demut.

      Ich habe die tiefe Bewusstheit der eigenen Endlichkeit erfahren und die kältestarrenden Viertausender haben mir meine eigenen Unzulänglichkeiten und Verfehlungen vor Augen geführt. Die beeindruckende Bergwelt der hochalpinen Gebirgsketten mit ihren gigantischen Basalt- und Kalksteinmassiven, den majestätischen Gletschern und schroffen Felsformationen hat mich seit jeher fasziniert. Wo ist man sonst dem Himmel und seiner eigenen Vergänglichkeit so nah? Die Endlichkeit aller Dinge ist in all den Jahrmillionen alten Felsen komprimiert, fühlbar, geradezu greifbar und körperlich erfahrbar. Einer dieser Sehnsuchtsorte ist das Jungfraumassiv im Berner Oberland. Am Ende des Lütschentales öffnet sich weit oben ein beeindruckender Talkessel mit seinen mächtigen Viertausendern, den grossen Gletschern, Fels und Firn. Ich stehe inzwischen noch etwas wacklig mitten in meinem Zimmer und stelle mir mit geschlossenen Augen die Farben des Himmels beim Sonnenaufgang über den Gipfelgraten vor. Dieser zauberhafte Ort gilt wohl zu Recht als einen der schönsten Bergdörfer der Welt. Grindelwald, Wengen und Mürren und das ganze Berner Oberland hatten mich schon als junger Mann unzählige Male zum Wandern, Klettern, Ski-Fahren willkommen geheissen. In der Tat: Eiger, Mönch und Jungfrau thronten wie Kathedralen des Übermenschlichen über dem Talkessel und ragten mit ihren schneebedeckten Gipfeln hoch bis in die Wolken. Unverrückbar waren sie da wie eh und je, auch wenn Wind und Wetter seit Jahrtausenden an ihnen zerrten. Mir geht es ähnlich wie den kältestarrenden Felsen mit meiner Liebe zu Anna. Etwas zerrt seit Jahren an mir. Geduldig und stur rüttelt etwas an meiner Kruste. Etwas Unausweichliches fordert mich heraus und nagt an meiner Seele. Meine Liebe zu dieser Frau reibt