Johannes Peter Zimmermann

Mund der Wahrheit


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treiben. So mancher Unerschrockene stolziert dann in Badehose oder Bikini mit einem wasserdichten Schwimmsack für die wichtigsten Utensilien ( man nennt ihn hier ortsüblich nur „s`Fischli“ ) unter den Arm geklemmt an den Restaurants der Promenade vorüber zurück, um sich dieses Vergnügens ein zweites oder auch drittes oder viertes Mal zu erfreuen. Das Rheinschwimmen hat eine mehr als tausendjährige Tradition und wird im „Baselbiet“ ebenso gepflegt wie der Pontonier-Sport mit den schweren hölzernen Übersetzbooten, den langen Weidlingen und ihren kraftraubenden Manövern.

      Und immer wieder betrachte ich vom Balkon die unentwegten Passagen der kleinen, motorlosen Holzboote über den Rhein. Sie sind mir ganz besonders ans Herz gewachsen, die pittoresken Fähren, die unablässig ihren regelmäßigen Pendelverkehr an vier Stellen zwischen den beiden Stadthälften Klein- und Groß Basel aufrechterhalten solange Strömung und Wasserstand des Flusses es ihnen erlaubt. Bis in die späten Abendstunden bringen die „Fährlis“ Touristen und Einheimische, Fremde, Freunde und Liebende in romantischer Langsamkeit von einem Ufer zum anderen. Auch mich entschleunigt diese kurze Fahrt über den Rhein immer wieder.

      Doch jetzt war es Nacht. Die Fährleute hatten ihren Betrieb für diesen Tag eingestellt und der noch eisige Frühlingswind hüllte die Stadt in eine dunkle Decke der Müdigkeit ein.

      Ich setzte mich wieder hin und starre auf das Display des offenen Notebooks. Auf dem Sofa sitzend blicke ich auf die weiße, unberührte Seite des Word-Dokuments, das darauf wartet meine ersten Buchstaben aufzusammeln. Mir fällt nichts ein. Mein Kopf ist leer, wie so oft in den letzten Wochen. Keine Inspiration, keine Idee, nicht einmal ein Fetzen an sprachlicher Kreativität lässt sich aus meinen Gehirnwindungen herausquetschen. Zu sehr beschäftigt mich meine bevorstehende Reise, zu sehr lenken mich meine Erinnerungen und meine Gefühle ab von der Aufgabe, die ich heute noch vollenden muss. Dringend sollte ich jetzt mal etwas Brauchbares an den Marketingleiter meines Auftraggebers schicken, aber keine Intuition, kein Einfall will das Weiß vor mir mit schwarzen Lettern füllen.

      Ich öffne mein Email-Account und schreibe:

      Sehr geehrter Herr Schempfli,

      ich bedauere sehr, dass ich Ihnen bis zum heutigen Abend keine mich selbst zufriedenstellende Textidee oder einen Leitgedanken für ihre neue Weihnachtskollektion senden konnte.

      Meine derzeitigen Ideen sind unzureichend und bleiben bruchstückhaft. Sie drücken nicht das aus, was ich sagen möchte und wie Ihr Haus diese Kampagne gerne kommunizieren möchte.

      Bitte geben Sie mir ein paar Tage Zeit. Ich versichere Ihnen dann einen Text zu liefern, der nicht nur die Emotionalität und die Wertigkeit des Projekts, sondern Ihres ganzen Hauses ausdrücken wird. Ich begebe mich auf eine Reise, die mir hoffentlich wieder die gewohnte Kreativität und Inspiration schenken wird.

      Insofern werbe ich um Ihr Verständnis und Ihre Geduld.

      Ihr

      Peter von Bergen

      Dann drücke ich den Button „E-Mail senden“ und klappe den Computer zu.

      Ich gehe zum Fenster, vorbei an meinen beiden treusten Gefährtinnen: einer 72er Fender Stratocaster E-Gitarre und der halbakkusitischen Ovation aus der Celebrity-Serie. Durch das leicht trübe Fensterglas schaue ich hinab auf den unruhig dahin fliessenden Strom, aufgepeitscht von einzelnen, aufbrausenden Windböen und getrieben von der Sehnsucht nach der endlosen Weite des Ozeans. Mein Fluss!

      Jeder Tropfen dieses Wassers wird bald in meiner alten Heimat sein. Der Rhein ist mir wie eine pulsierende Lebensader, eine emotionale Standleitung hin zu Orten und Plätzen, zu Menschen und all jene Erinnerungen, die sich tief in meine Seele gegraben haben. Das Schicksal hat mich hier nach Basel und somit einmal mehr an den Strand des großen Flusses gespült, so als wolle er mir zeigen, dass wir für immer miteinander verbunden sind.

      Das Licht der Nacht

      Du verdrängst die dunklen Schatten,

      die der Tag mir übrig lässt.

      als die Sterne Sehnsucht hatten,

      warst Du es, die mich nicht verlässt.

      In der Leere schwarzer Hülle,

      In der Tiefe stiller Fülle,

      In des Lebens kaltem Schacht,

      Bist du das Licht – in meiner Nacht.

      Ungläubig reibe ich mir die Augen. Auf dem Sofa sitzend muss ich wohl eingeschlafen sein. Es ist Mitternacht und ich habe vielleicht anderthalb Stunden geschlafen. Ein traumloser Zustand der Schwerelosigkeit hatte mir für eine kleine Weile ein wenig Ruhe geschenkt . Mein Blick schweift vorsichtig über eine leere und eine halbvolle Flasche Jim Beam, das Notebook, das grosse Bündel mit den unzähligen Briefen, die ich nie abgeschickt hatte und das Flugticket der Swiss, welches vor mir auf dem Tisch liegt. Ich schliesse meine müden Augen. Sie freuen sich über eine weitere kurze Pause, die Ihnen meine geschlossenen Pupillen verschaffen, bevor ich sie wieder öffne. Ich presse die Lider fest zusammen und dann….. dann sehe Anna. Wie immer. Ich sehe ihr unfassbares Lächeln, ihre noblen Gesichtszüge, den verheissungsvollen Wimpernaufschlag und die dunklen und so unergründlichen Pupillen. Ich sehe sie direkt vor mir. Es waren ihre verborgenen Aussergewöhnlichkeiten, ihre ganz eigenen Besonderheiten, die sie für mich so zauberhaft und einzigartig machten: Ihre unnachahmliche Art, sich die Nase zu putzen und ihren selbstkritischen Blick in den Spiegel. Dieses unschuldige Blinzeln immer kurz nachdem sie aufgewacht war und all die anderen unzähligen Kleinigkeiten, die ausser mir wohl kaum jemandem aufgefallen waren. Selbst ihr leises Schnarchen, wenn sie einmal mehr neben mir auf dem Sofa eingeschlummert war, habe ich noch im Ohr. Unverwechselbar waren ihre zur Gewohnheit gewordenen Bewegungsabläufe, wenn sie an verregneten Novemberabenden ihren Schwarztee zubereitete oder sich beim für mich völlig überflüssigen, aber akribischen Schminken die dunkelbraunen Augen so detailverliebt begutachtete. Stets zog sie den Lidstrich ein paar Millimeter über das Ende der mandelförmigen Augen hinaus und streifte mit einer geschmeidig-routinierten Bewegung die Mascara-Bürste immer nur einmal über die vollendet geschwungenen langen Wimpern. Ja, es waren all diese ihr so eigenen Absonderlichkeiten, die sie für mich so attraktiv und atemberaubend machten. Für mich waren es eben nicht die auffälligen, für jeden erkennbaren Vorzüge ihrer Proportionen, die dunkelbraunen Rehaugen, die hübsche Nase über den vollen Lippen und der schlanke Hals. Es war auch nicht das lange ebenholzfarbene Haar, das ihre hohen Wangenknochen umspielte. Es war so viel mehr als das.

      Immer und immer wieder schwebt mir ihr Bild vor mir, wenn ich meine Augen schliesse. Zittrig streichelt meine linke Hand streichelt meinen rechten Unterarm auf und ab.

      Ich greife nach der Whiskeyflasche und nehme einen grossen Schluck aus der Flasche. Mich schüttelt es vom Hochprozentigen. Wieder kreisen meine Gedanken um Vergangenes, Verlorenes, Verschollenes. Meine Sehnsüchte klammern sich an die Whiskeyflasche und dem Bündel Briefe, die meine Hände fest umschlossen halten. Ich stehe auf, wanke vorsichtig über die alten Holzdielen und knie mich vor die schwere Truhe in der Zimmerecke. Noch ein Schluck Whiskey und ich nehme wieder einmal allen Mut zusammen und öffne vorsichtig den mächtigen, hölzernen Deckel. Meine feuchten Augen finden Bilder und Briefe, Postkarten und Fotos, hunderte Fotos von mir, von ihr, von uns. Eine einsame Träne tropft über meine Nasenspitze auf eine Aufnahme von Anna an der Reling eines Circle-Line-Cruises Schiffes vor New Yorks Wahrzeichen der Statue of Liberty, der Freiheitsstatue. Ich erinnere mich genau. Das Bild hatte ich sechszehn Stunden vor jenen Minuten gemacht, die alles veränderten. Eine weitere Träne fiel auf die Zeugnisse der Vergangenheit in die Truhe. Dann noch eine bis sich meine ganze Trauer und Wut in die hölzerne Kiste voll mit Devotionalien eines verlorenen Lebens ergiesst. Rasch schlage ich den gusseisenbeschlagenen Deckel zu und ertaste die Flasche Alkohol neben mir. Meine Lippen erflehen den betäubenden Saft, der gierig meine Kehle herunterrinnt. Ich trinke die ganze Flasche leer, wische mir mit den Ärmeln meines Pullis die Tränen aus den Augen und von den Wangen. Anna! Orientierungslos blicke ich durch meine kleine Behausung; dann überkommt mich erneut ermattende Müdigkeit und endlich, mit Mühe und erheblicher Anstrengung knipse ich das einsame Glühlämpchen aus.

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