Johannes Peter Zimmermann

Mund der Wahrheit


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erodieren das steinerne Gesicht der Berge und nagen unablässig und erbarmungslos an ihnen. An mir knabbert auch etwas; jede Stunde, jeden Tag. Meine Liebe weiss seit jenen Ereignissen weder wohin sie soll, noch wozu sie überhaupt da ist. Sie ist nur noch ein bohrender Schmerz, überflüssig, unnötig, sinnlos. Und sie krebst am mir. Sie ist unablässig da, nicht ausschaltbar, nicht stillbar. Sie ist präsent, unbarmherzig, allumfassend, leidenschaftlich und grausam, genau wie Wind und Wasser an diesen Gneis- und Basaltfelsen wühlen. Doch nicht minder gegenwärtig ist auch mein Hass auf die, die mir alles genommen hatten.

      Ehrfürchtig denke ich auch jetzt wieder an diese eine heilige, spektakuläre Felswand. Die brutale, ewige Wand des Eiger. Die Wand der Dramen und Triumphe, des Überschwangs und des Todes. Allmächtig überwältigt mich mein Zauberberg jedes Mal, wenn ich an ihn denke oder den Eiger-Trial entlang wandere. Auch Anna und ich, wir waren hier einmal ungetrübt glücklich vor vielen Jahren. Unzählige Male hatte ich ihr von der Magie dieses Ortes vorgeschwärmt solange, bis dass wir eines Tages hinfuhren. Sie war elektrisiert vom Panorama und der Kraft, die diese Berge versprühen. Ich hatte ihr bei einer Wanderung die einzelnen Gipfel, Fluchten und Gletscher der umliegenden Gebirgsketten beschrieben und erzählt, was ich wusste und fühlte. Gerade jetzt fühlt es sich wieder an als wäre es gestern gewesen, obwohl es eine halbe Ewigkeit her ist. Wir hatten bei einer unserer spätsommerlichen Bergtouren auf einer verlorenen, nach Wildblumen duftenden Alpenwiese pausiert und man hatte von dort aus einen phantastischen Rundumblick auf das gewaltige Jungfrau Massiv, die First und das Wetterhorn.

      Wohl fast eine Stunde hatten wir damals stumm nebeneinander gesessen. Zwei Falken hatten ihre Flügel ausgebreitet und segelten im Wind und von ferne hörte man ein leises Grollen aus der Gletscherschlucht des oberen Grindelwaldgletschers, wo regelmässig ein paar kleinere Muren ins Hochtal abgingen. Dann hatte Anna ganz leise zu mir gesagt:

      „Fühlst du das, Peter? Spürst du es auch? Hier an diesem Ort? Hier ahnt man es, oder? Hier ahnt man, dass es etwas Göttliches gibt in dieser Welt. Wenn du diese gewaltigen Berge siehst, die Felsen, Gipfel und Grate, wenn du den Bergwind fühlst, das Eis riechst, dann weiss man es doch, oder Peter? Dann erkennt man Gott und sich selbst in den Dingen. Dann erfährt man, wie klein wir eigentlich sind und wie unglaublich überheblich. Du spürst es doch auch Peter! Man ahnt …“ , sie stockte kurz. „Man ahnt …. ‚Ewigkeit‘. Die Ewigkeit, die keine Uhr mehr messen kann, keine Wissenschaft mehr ergründen und kein Geist mehr fassen kann.“ Jedes ihrer Worte hatte sich in diesem Augenblick in meine Seele gefräst. In dem Moment wusste ich, dass sie mein Leben ist. Ich griff nach ihrer Hand und hielt sie ganz fest. Tief sah ich in ihre klaren braunen Augen. „Anna, so ewig wie diese Berge hier ist auch meine Liebe zu Dir. Sie wird alles überdauern, selbst diese Felsen und Gletscher wir sie überdauern.“ Ihre Augen hatten geleuchtet und sie lächelte nur, geradeso wie immer, wenn ich ihr wieder einmal zu gefühlsduselig geworden war. „ Du alter Romantiker!“, hatte sie verzeihend gesagt und gab mir einen langen warmen Kuss.

      Nur wenige Monate später sollten die Berge diese Liebe überlebt haben.

      Nur wenige Monate später sollte unsere friedliche Zweisamkeit und unsere ganze kleine private Welt darin kollabieren.

      Am Ende war ich nur ein Mensch, nur Peter. Ich war nicht stark genug für einen Kampf, den ich nicht gewinnen konnte. Ich war nur Peter von Bergen, ein Mann, den ich schon seit über vierzig Jahren zu kennen glaubte und dessen Eigenarten und Absonderlichkeiten ich seit über vier Jahrzehnten mit mir herumschleppe.

      Der Peter, dessen Blut zirkuliert, obwohl er sein Herz nicht mehr fühlen will.

      Der Peter, der atmet, obwohl er nicht mehr wissen will wozu.

      Der Peter, der lebt, obwohl er schon vor vielen Jahren gestorben ist.

      Der Peter, der gestern Abend einmal mehr seine Existenz in einer Flasche Hochprozentigem ertrunken hat.

      Traumbilder wollen wieder auftauchen. Immer wieder sehe ich sie in meinen Nacht- und Tagträumen. Immer wieder Anna mit ihren Anna-Augen, ihren Anna-Lippen, ihrem Anna-Gang.

      Und ich hatte mich selbst gesehen, den sterbenden Hengst am Strand. Sein Tod kam aus dem Hinterhalt – wie bei mir, sein Sterben erlebente er wie eine Erlösung, eine Hoffnung.

      Das Glockengeläut des Baseler Münsters läutet mich in die Wirklichkeit zurück.

      Es ist schon sechs. Eigentlich müsste ich mich ranhalten; die Swiss-Maschine wird am Euroairport nicht auf mich warten.

      Ich greife noch mit müdem Blick zur Fernbedienung und bemerke dabei, dass meine linke Hand wieder unbewusst das Tattoo mit den beiden geographischen Zahlenreihen auf meinem rechten Unterarm berührt. Es ist bereits sehr verblasst in den letzten Jahren.

       41° 53’ 18’’ N 12° 28’ 53’’ O

       40° 42’ 42’’ N 74° 0’ 45’’ W

      Einundvierzig Grad, dreiundfünfzig Minuten, achtzehn Sekunden Nord

      Zwölf Grad, 28 Minuten, dreiundfünfzig Sekunden Ost und die andere Vierzig Grad, zweiundvierzig Minuten, zweiundvierzig Sekunden Nord Vierundsiebzig Grad, null Minuten, fünfundvierzig Sekunden West.

      Ich schalte schnell noch den Fernseher ein und wähle wie immer das Frühstücksfernsehen von ARD und ZDF. Gott-sei-Dank die Kölner sind dran. Sven Lorik vertreibt mir meine alltägliche Melancholie am frühen Morgen nach einer ätzend qualvoll langen Nacht. Es gelingt ihm mal wieder mich doch noch mit seiner den Menschen zugewandten Art zu motivieren, mir einen Kaffee zuzubereiten. Gedanken wechseln in meinem Kopf wie die Wellenbilder des Flusses da draussen. Gedanken verschwimmen wie die sich in seinem Wasser spiegelnden Lichter der Stadt.

      Ich denke an die zu erledigenden Text-Aufträge aber es ist wie verhext: Mir fällt nichts mehr ein. Ich bin leer, mein Kopf ist tot, ohne Inspiration, ohne Esprit und ohne Witz. „Es wird Zeit für diese Reise“, denke ich bei mir, während Peter Grossmann wieder ein spannendes Fussballthema im Sportblock mit Professor Froböse ausdiskutiert. Ich tauche einmal mehr ab in eine Ablenkung, in die Komfortzone des Alltäglichen, die mich wie antrainiert daran hindert, Gedanken aufkeimen zu lassen, die immer wieder mein Herz zum Bersten bringen.

      Mein mit unsauberer Schrift voll geschriebener Papierblock liegt noch offen auf dem alten Holztisch und ich überfliege noch einmal den namenlosen Brief, den ich gestern im Laufe des frühen Abends verfasst habe.

       vom 26.März 2015

       Geliebte,

       sind wir von allen guten Geistern und auch von Gott verlassen? Oder war er überhaupt jemals da? Was ist los mit mir und dieser Welt? Ich hasse und liebe. Und oft das Gleiche gleichzeitig. Wie geht das nur zusammen ? Anna, mein Herz, meine Liebe!

       Vielleicht aus Gewohnheit bete ich nach all den Jahren noch immer für Dich, dass es Dir gut gehen möge. Ich weiß nicht, ob das Beten ist, was ich da tue. Keine Ahnung. An was, an wen glaube ich eigentlich noch? Ich denke schon, dass ich glaube. Du hast es ja damals gesagt. Ich glaube immer noch an einen Schöpfer. Es muss etwas geben, dass uns begleitet. Ja etwas, das uns begleitet; Aber es beschützt uns auch nicht, bewahrt uns nicht. Es bestraft auch nicht. Aber es ist bei uns, wenn es dunkel wird um uns herum. Irgendetwas oder irgendjemanden gibt es da vielleicht. Etwas jenseits unserer Vorstellungskraft, das grösser ist als wir Menschen mit unseren Schwächen und unserer Einfalt.

       Irgendwas oder irgendwer ? Ich weiß es nicht. Wer sind wir schon im galaktischen Treibsand der Jahrmillionen, dass wir so anmaßend und überheblich sind.

       Was bleibt, wenn wir Menschen ganz bei uns sind; wenn wir ganz Mensch sind?

       Was bleibt aber vom Menschen, wenn jeder nur noch nach dem eignen Vorteil strebt? Wenn Banker mit Nahrungsmitteln spekulieren? Wenn korrupte Vorstände Millionenbonifikationen abgreifen? Wenn fanatische Anhänger von Religionen Jets in Hochhäuser fliegen, ihre Nächsten abschlachten? Wenn selbst Gottes Diener Kinder missbrauchen? Wenn Millionäre ihre Dekadenz in den Medien zur Schau stellen? Wenn bestechliche Politiker Ehrensold und Vortragshonorare erhalten, um Menschen