Johannes Peter Zimmermann

Mund der Wahrheit


Скачать книгу

Kunden und Partner über den Tisch ziehen, um sich und ihre Aktionäre maßlos zu bereichern? Wenn Medien mit ihrem ganzen Trash am Voyeurismus mit dem Primitiven verdienen?

       Ist es recht, dass wir Flüchtlinge aus den Hunger- und Krisengebieten des Planeten die Türe vor den Augen zumachen, sie mit Waffengewalt von uns fern halten und zuschauen, wie das Mittelmeer zu einem gewaltigen Friedhof der Armen wird.

       Anna, Gott !!! Was bleibt dann noch ?

       Jetzt – am Ende der Moral – was bleibt ?

       Geliebte, ich bete nicht mehr nur noch für dich sondern für uns alle, zum ersten Mal auch wieder einmal für mich.

       Ich habe keine Ahnung zu wem, aber das ist jetzt auch egal.

       Lieber Gott ! Bitte schicke endlich wieder deine Plagen über uns. Sende uns ein paar Katastrophen auf diesen Planeten – aber dieses Mal nicht zu den Ärmsten der Armen! Bringe uns die Erdbeben nach Frankfurt, die Tsunamis nach London, sende Stürme nach Zürich und lege Brände in Hongkong, Moskau, Dubai, New York und Peking.

       Bitte beschere Eruptionen und Dürren denen, die keine Barmherzigkeit mehr kennen.

       Beschere ein Armageddon all denen, die Geld mit Geld um des Geldes willen machen. Sende deinen Zorn den Zufriedenen und Satten, den Dekadenten und Arroganten, damit wir alle wieder Mensch werden. Vielleicht lernen wir dann endlich wieder das zu werden, was wir auch sein könnten; mögen wir lernen demütiger und dankbarer zu sein.

       Bitte Gott! Bombe uns, die Kinder des Wohlstands, auf das Existenzielle zurück. So wie du es mit mir getan hast.

       Ich glaube an Dich, Peter.

      Beim Lesen dieser Zeilen beginne ich zu Zittern. Diese Zeilen habe ich vor ein paar Stunden unter Einfluss von meinem guten Freund Jack Daniels geschrieben. „Für einen Werbetexter ziemlich düsteres Zeug“, spreche ich mit mir selbst. Ich nehme das Blatt und falte es einmal. Ich gebe es in ein vergilbtes Couvert und schreibe das gestrige Datum darauf. 26.März 2015. Anschließend lege ich es in den großen braunen Umzugskarton in der Ecke zu den anderen zweitausenddreihundertachtundsiebzig Umschlägen. Einige davon sind versehen mit einem Datum aus der jüngsten Vergangenheit, von letzter Woche oder vom vergangenen Monat. Andere Umschläge tragen weitaus ältere Daten. Ich finde viele Daten, auch zufällig den 29.März - Annas Geburtstag. Oder Briefe vom 15. April 2003, 23. Juni 2011 , 1. November und der 24.Dezember 2009.

      Ich wollte diese Briefe irgendwann einmal wieder lesen und sie zumindest mal in eine chronologische Reihenfolge bringen, wenn ich sie schon nicht an Anna adressieren kann. Eines Tages werde ich das tun.

      Die soeben konsumierten extra starken Schmerztabletten schenken mir für ein paar Stunden Linderung, denn in meinem Schädel tobt immer noch das Chaos. Es galoppiert immer noch ein rastloses, wildes Pferd um sein Leben und zermartert mir trampelnd die linke Hirnhälfte, während sich meine rechte Gehirnhälfte immer noch mit tausenden Gedanken und einer betäubenden Melancholie beschäftigt.

      Zwar hat sich inzwischen mein unkontrolliert pumpender Herzschlag auf eine erträgliche Frequenz zurückgeschraubt, so dass ich es wagen kann, einen flüchtigen Blick in den Spiegel zu werfen, doch Freude bereitet mir dieser Anblick auch am heutigen Morgen nicht. Ich besinne mich, dass ich Wichtiges zu tun habe.

      „Heute ist es soweit. Heute fliege ich wieder hin!“ Ich strecke meinem Spiegel ein unrasiertes und ausgemergeltes Gesicht entgegen, prüfe die zahlreichen Falten und Furchen, die das Leben in den letzten Jahren hineingefräst hat und die tiefen dunklen Ränder unter den gebrochenen, rot unterlaufenen Augen. Aber aufrichtige Selbstkritik macht sich keine bei mir breit, sondern mehr eine nüchterne Gewissheit über meinen erbärmlichen Zustand bevor ich schliesslich doch noch andächtig beginne, ein mir gleichgültiges Gesicht zu rasieren.

      „An die erlesene Ausstrahlung des Araberschimmels aus meinem Traum komme ich bei weitem nicht mehr heran, aber es interessiert ja auch niemanden mehr,“ entschuldige ich mein mangelhaftes Engagement bei der täglichen Körperpflege, während ich mich lieblos für meine bevorstehende Reise in die Welt ausserhalb meines abgeschotteten Territoriums präpariere.

      Duschen, Zähne putzen, Haare bürsten, anziehen. Warum eigentlich dieser ganze Aufwand ? Wahrscheinlich pflege ich mein renovierungsbedürftiges Äusseres nur noch deshalb, um nicht bei meinen Kunden und Mitbürgern Mitleid zu erwecken. Ich hole mir die steinalte ausgewaschene 501 und stöbere in meinem Schrank nach etwas Brauchbaren. Ich zerre einen kaum getragenen hellgrauen Rollkragen-Pulli aus den Tiefen des Schranks. Den hatte ich schon Jahre nicht mehr an. „Dass ich den noch habe!“, wundere ich mich. Da! Wie gebannt blicke ich auf die weiche, hellgraue Wolle des vergessenen Kleidungsstücks. Wie vom Blitz getroffen erstarre ich voller Ehrfurcht und Unbehagen, voller Glückseligkeit und Scham.

      Ein langes, dunkles Haar schlängelt sich auf dem gewebten Stoff. Annas Haar. Behutsam, wie bei einem Gottesdienst zelebriere ich das Aufsammeln des dunklen Haares. Ich nehme es vorsichtig wie ein Heiligtum zwischen meine zitternden Finger und peile minutenlang dieses Relikt aus einer anderen Epoche an. Ich halte es an meine Nase, um vielleicht noch etwas zu erriechen. „Es ist krank, was ich hier tue“, denke ich im Innersten. „Völlig krank, aber ich komme nicht raus aus diesem Irrgarten. Ich finde nicht heraus aus diesem Labyrinth.“

      Prüfend und fragend drehe und wende ich das wertvolle Überbleibsel aus einer besseren Zeit vor meinen weit aufgerissenen Augen.

      Bilder durchkreuzen meine Linse. Wieder bebt mein Herz. Wieder rast mein Puls.

      Als hielte ich die Glückseligkeit der Menschheit in meinen Händen, die vor der Schlechtigkeit der Welt bewahrt werden muss, so verharre ich mit dem Haar in der Schale meiner zusammengelegten Hände.

      Schliesslich fange ich mich wieder und gebe das Haar behutsam in einen leeren weissen Briefumschlag, falte diesen vorsichtig und nehme ihn an mich, bewahre ihn auf – wie einen Schatz, den niemand mir wegzunehmen in der Lage sein soll. „Du brauchst dringend professionelle Hilfe. So kann das nicht ewig weitergehen!“, rede ich leise zu mir selbst. Ja, ich bin krank. Anna, irgendwo da draussen lebst du hoffentlich ein glückliches Leben, hast einen liebevollen Mann, ein paar Kinder, ein Häuschen im Grünen. Hoffentlich hast du mich aus deinen Erinnerungen vertrieben und auch aus deinem Herzen verbannt. Meine Gedanken quälen mich.

      „Es wird jetzt wirklich Zeit. Ich muss los. Ich muss jetzt endlich zum Flughafen!“, ermahnt mich mein Herz.

      Rasch suche ich ein paar weitere ungebügelte Kleidungsstücke heraus, die ich für meine alljährliche Tortur mitnehmen möchte.

      Eher hastig und unkonventionell packe ich die speckige braune Reisetasche und werfe artig die notwendigsten Toilettenartikel, den Schreibblock und meinen historischen Walkman hinein. Diesen allerdings lege ich ganz behutsam oben auf mein Reisegepäck in der Sorge, er könnte jederzeit in seine historischen Bestandteile zerfallen. Im Zeitalter des iPad wirkt dieser abgenutzte tragbare CD-Player aus den Achtzigern wie eine Antiquität aus den Zeiten von Thomas Alva Edison. Aber dieses alte Teil ist mir heilig. Ich mag es analog und eindimensional.

      Ich mag es einfach und nicht, dass ich mehrere Dinge gleichzeitig machen kann oder muss. Für mich ist Multitasking Köperverletzung. Multitasking teilt Aufmerksamkeit. Geteilte Aufmerksamkeit für gespaltene Persönlichkeiten ?

      Meine nicht für einen Daueraufenthalt ausgestattete, karg möblierte Bleibe ist ohne jede gemütliche Note eingerichtet, auch wenn die verputzten, weissen Wände und der Dielenboden eine Vertrautheit und Behaglichkeit ausstrahlen, die mir ein Hauch von Geborgenheit bescheren. Ich hatte mir nach meinem Einzug vor bald zehn Jahren nicht die Mühe gemacht, die paar Quadratmeter durch Dekorationsarbeiten aufzuhübschen.

      Lediglich ein paar alte Fotos von meinen Eltern, unserem Cockerspaniel, meiner alten Rockband und Anna haften in schlichten Wechselrahmen an der sonst kargen Zimmerwand. Daneben hängt ein Poster mit dem Kölner Stadtwappen und dem „kölschen Grundgesetz“. Wieder einmal lese ich die ersten Paragraphen:

      „Paragraph