Johannes Peter Zimmermann

Mund der Wahrheit


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steilen Stirn erstrahlen stahlblaue Augen und auch bei seiner Garderobe überlässt er nichts dem Zufall. Er pflegt einen eigenen Modestil, der auf mich elegant und doch rockig wirkt. Schwarz scheint seine Lieblingsfarbe zu sein. Zu jugendlichen Jacketts mit Schal oder Tuch trägt er meist lässige feingestreifte Stoffhosen, manchmal mit Hosenträgern und darunter auffällig lässige Westernstiefel. Er schmückt sein Äußeres mit Ringen und Ketten von Thomas Sabo und ähnelt etwas dem Stargeiger David Gerret, wenn er sein schulterlanges Haar zu einem Zopf zusammenbindet. Zufällig hat er auch noch den gleichen Vornamen wie der berühmte Violinist. David ist vom Typ her eher eine Rampensau, den ich mir aufgrund seines Charismas als Lead-Gitarrist in meiner alten Rockband gewünscht hätte. Sogar in seiner ganzen Bewegung ähnelt er ansatzweise solchen Jungs wie Markus Schenker oder Richie Samborra. Das ein oder andere mal fragte mich Madame nach den vielen jungen Männern und Frauen, die am Wochenende im Haus ein und ausgingen. Ich hatte Pierrette von Davids Studien im Bereich Biologie berichtet, ohne mich damit in gewisser Weise nicht vollends schuldig zu machen, die Unwahrheit zu sagen. David erarbeitet seine biologischen Feldversuche und Echtzeit-Studien Gott-sei-Dank zumindest meistens nur an den Wochenenden, so dass mir Zeit genug bleibt, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, ohne von lautem Gestöhne, Gekreische, Gelächter und Gequietsche abgelenkt zu werden. Ich mag ihn nicht besonders, obwohl er mir keineswegs unsympathisch ist. Im Gegenteil, irgendwie beneide ich ihn um vieles. Vielleicht liegt es daran. Es wurmt mich sicher, dass er sein Leben so unbeschwert und unverletzt leben kann, frei von Konventionen und allem Ballast des Erlebten. Im Grunde ist er das Gegenteil von mir: offen, zugewandt, lebensfroh und Spaß orientiert. Er lebt im Jetzt, in der Gegenwart. Er ist lebendig, sehr lebendig und mir ist eigentlich bewusst, dass es nicht Jens ist, den ich nicht mag. Ich mag mich nicht.

      So lebe ich ein aufgeräumtes und unaufgeregtes Leben in chronischer Sentimentalität und Melancholie ohne Freude oder Glück zu empfinden. Ich bin tot, auch wenn ich lebe und die wenigen glücklichen Augenblicke schenken mir mein Freundespaar Jim Beam und Fender Stratocaster, meine alte E-Gitarre. Meinen Lebensunterhalt bestreite ich mit Schreiben. Ich betätige mich als erfolgloser Schriftsteller, was mich zwangsläufig nicht ernährt, so dass ich inzwischen freiberuflich in der Werbung als Texter oder sagen wir neudeutsch besser in der abenteuerlichen Welt der Marketingkommunikation und public relations tätig bin. Das klingt spannender als es ist, denn hauptsächlich erarbeite ich einfache Werbetexte, wortspielerische Slogans, und Claims sowie Rundfunkwerbungen als Auftragsarbeiten. Hin und wieder platziere ich sogar mal bei einem Kunden eine ganze Kommunikations-Kampagne, eine eigene musikalische Werbekomposition oder ein Jingle. Es ist ein hartes und oft undankbares Brot und der Wettbewerb ist auch in der Welt der Kreativen angekommen, aber es sichert mir ein bescheidenes Einkommen, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten und verhilft mir sogar gelegentlich zu so etwas wie beruflicher Zufriedenheit. Eine tiefere Erfüllung oder gar Sinnhaftigkeit in meinem Tun entdecke ich dabei kaum. Nur manchmal in meinen vielen schlaflosen Nächten- und das sind gewiss wohl meine kreativsten Phasen- dann berührt mich etwas, dass mein Herz mit Freude erfüllt. Es ist immer dann, wenn ich das Gefühl habe, meine Seele bei einer Arbeit öffnen zu können. Es sind die Augenblicke, wo ich etwas nicht für meine Auftraggeber schreibe, sondern für mich selbst, für meine Geschichte, für meine Seele oder für Anna. Meine Anna.

      Inzwischen ist es still geworden vor unserem Haus am Oberen Rheinweg. Man hört zu dieser späten Stunde kaum etwas von draußen, außer dem unablässigen Rütteln des Windes an den Fensterläden und Türen und nur ganz leise vom Fluss her das unablässige Fließen des Wassers. Auch unten auf dem Weg ist das Gemurmel der bei Tage so zahlreich hier flanierenden Passanten verstummt.

      Von meinem Küchenfenster kann ich im Winter, wenn die Lindenbäume ihr dichtes Blattwerk abgelegt haben, hinüber auf die Altstadt von Basel sehen, mit dem imposanten Münster und der fast sechshundert Jahre alten Universität. Doch mein Lieblingsblick gilt dem Fluss. Stundenlang kann ich ihm zusehen, wie seine Wogen und Wellen dem Meer entgegenziehen. Ich mag es den vorbeifahrenden Schiffen hinterherschauen und den permanenten Wandel des Stroms zu folgen. Mal strömt er majestätisch und breit durch die Enge zwischen Groß- und Kleinbasel. Dann ist er satt und träge, gemütlich und zufrieden wie nach einem Festtagsmenü. Wiederum gibt es auch Tage, da zeigt der Fluss ein ganz anderes Gesicht. Dann ist er abweisend und missmutig, fließt braun und bissig unter den fünf innerstädtischen Brücken hindurch.

      Er wirkt dann rastlos, ungeduldig und wie ein Getriebener.

      Ein paar hundert Meter weiter in Höhe von St. Johann wendet sich das Flussbett des Rheins in einem breiten Bogen dem Norden zu, passiert im Industriehafen vor Weil das Dreiländereck Schweiz-Deutschland-Frankreich, um dann über so viele Staustufen und durch meine alte Heimatregion rund um Köln majestätisch dem Meer entgegen zu fließen.

      Mit ihm sind oft und viele meiner Gedanken und Erinnerungen in Richtung Aachen und der rheinischen Hauptstadt Colonia Claudia Ara Agrippinensum flussabwärts geflossen. Die eine oder andere Träne ist gelegentlich schon mit dabei, wenn ich abends auf den Uferstufen sitzend gedankenverloren in das Wasser starre.

      Basel, diese bezaubernde, kleine Schweizer Stadt am großen Fluss ist mir ein gutes, liebevolles Zuhause geworden. Sie ist ein Zuhause für einen Heimatlosen geworden. Für dieses Gefühl bin ich unendlich dankbar. Ich fühle mich sicher und geborgen hier. Einige Wissenschaftler behaupten, Basel sei wohl oder übel eine der gefährlichsten Städte Europas, aber das ist nicht kriminalistisch gemeint. Die Erbebenwahrscheinlichkeit im Rheingraben zwischen Schaffhausen und Saint Louis ist Forschern zufolge enorm hoch und das Stadtgebiet von Basel vermutlich im Epizentrum eines demnächst zu erwartenden gewaltigen Bebens. Nach allem was mir wiederfahren ist, sind das keine beunruhigenden Expertisen und Angst einflößenden geotektonische Analysen für mich. Ich habe mein Erdbeben schon gehabt, ich hatte bereits den Boden unter den Füssen verloren, lebe noch immer in den Ruinen meines Schicksals und seine Nachbeben erschüttern mich noch bis in die Gegenwart.

      In einer Zeit, in der es ohnehin keine Verlässlichkeiten und Wahrheiten mehr zu geben scheint, in einer Zeit ohne Rücksicht und Respekt sind die Menschen einander mehr Bedrohung geworden als die höchsten Amplituden einer nach oben offenen Richterskala . Vielleicht genau darum war mir auf meinen Reisen kein Ort am großen Fluss mehr ans Herz gewachsen wie diese historische Stadt, die lange Zeit die deutsche und europäische Geistesgeschichte geprägt hat und die von allen Schweizer Städten wohl die weltoffenste ist. Seit Jahrhunderten leben hier Migranten aus aller Herren Länder friedvoll mit einander, dulden einander, tolerieren einander und lernen voneinander. Im doppelten Sinn hat Chemie diese Region reich werden lassen, sowohl die industrielle als auch die zwischenmenschliche. Mein privater Vergleich hinkt gewiss, aber mir war Basel immer ein kleines Köln nur heimeliger und weniger laut und dreckig. Diese Sicht hatte ich von Beginn an nicht nur wegen der ausgeprägten Fastnachtskulturen ob nun rheinisch-katholisch oder alemannisch-protestantisch oder der besonderen Lage am Rhein. Diese Vertrautheit entsprang und blieb bis heute vor allem wegen des multikulturellen Lebensgefühls, der überall spürbaren Internationalität, einer erlebbaren Toleranz und zugewandten Freundlichkeit. Zürich hingegen war mir eher stets ein übersteigertes Düsseldorf, ein suspekter Ort, wo es weniger um Sein als um Schein geht, mehr um Materie als um Seele und Geist. So fühle ich mich angekommen in einem bescheidenen Leben in meiner Heimstadt Basel, in meinen kleinen vier Wänden mit den drei keinen Sprossenfenstern. Täglich beobachte ich während der gelegentlichen Arbeitspausen mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Küchenfenster stehend die vielen Menschen, die unten auf dem Oberen Rheinweg entlangspazieren. Ich betrachte, wie die Münsterfähre „Leu“ mit ihrem Fährmann Jacques Thurneysen nur die Kraft des Wassers nutzt, um am langen Seil treibend ganz ohne Motorkraft zwischen den beiden Ufern hin und her zu pendeln. Mit einem gönnenden Lächeln und manchmal auch einem weinenden Auge betrachte ich junge Liebespaare, die unten vor dem Haus Händchenhaltend auf einer der Holzbänke verweilen und miteinander schweigen, andere wie sie miteinander kokettieren und hin und wieder andere miteinander streiten oder sich küssen. Jogger und Velofahrer, die sicher nicht ganz uneitel hier ihre körperliche Fitness herzeigen passieren mein Fenster ebenso wie die Alten, die Gebrechlichen und Kranken, die sich überall auf eine der vielen Bänke in einem kleinen Schwätzchen verlieren. In den Sommermonaten, wenn Vater Rhein frisches, klares Wasser durch sein Flussbett schiebt, nutzen viele Baseler aber auch Gäste der Region die Fliesskraft des alten Stroms und lassen sich von der Schwarzwaldbrücke