Johannes Peter Zimmermann

Mund der Wahrheit


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von einem Gefühl grenzenloser Freiheit und gleichzeitig berauscht von der unstillbaren Sehnsucht nach Stille, Schlaf und Zeitlosigkeit. Ein kühler Luftzug wehte lautlos zu mir herüber und der vertraute Duft von Forsythien, die wild entlang der Bahntrasse wuchsen, erreichte zärtlich meine Sinne. Tief in mir fühlte ich, wie sich mein Schicksal in wenigen Augenblicken hier an diesem Bahngleis erfüllen sollte. Ein ewiger Frieden näherte sich mir mit seinen ausgebreiteten Armen und wartete darauf mich fest an sich zu drücken wie eine Mutter, die ihr Kind umarmt, wenn es nach Hause kommt. Meine inzwischen aufflackernde Erregung rührte mehr aus der Dramaturgie des Augenblicks und der sich in Höchstgeschwindigkeit nähernden Gewissheit auf die Befreiung von aller Lebenslast als aus irgendeiner vermeintlichen Todesangst. Es war erschreckend, aber da war keine Spur von Furcht in mir. Die unaufhaltsame Urkraft des heranrasenden Zuges wimmerte immer lauter werdend in meinen Ohren. „Komm schon. Nur ein weiterer kleiner Schritt hin in Richtung Frieden“, sprach ich mir Mut zu. Nun waren es noch sieben Meter, dann sechs. Ohnmächtig meinen Beinen noch Befehle zu erteilen, vernahm ich grollend und schnaubend wie der Thalys auf mich zuraste. Ich atmete das Leben ein, wie noch nie zuvor, spürte es in jeder Zelle; ich ahnte was es hiess lebendig zu sein. Doch sehnte sich meine geschundene Seele nach all dem Leiden der Lebendigkeit den schmerzlosen Frieden der Vergänglichkeit.

      Kurz hielt ich inne. Noch fünf wenige Meter. Vorsichtig ertasteten die Ledersohlen die spitzen, scharfen Kanten der Basaltsteine im grauen Schotterbett der Bahnlinie Aachen-Köln. Ich glaubte, eine laute Warnsirene zu hören. Oder auch nicht? Das Signal hielt mich nicht auf, bremste mich nicht eine Sekunde in meiner Bewegung. Die meist blattarmen Büsche und Sträucher spielten mit einem aufflackernden Wind und ein erster Sonnenstrahl durchdrang die pastellfarbenen Schleierwolken und wärmte kurz mein Gesicht.

      Sekunden vergingen wie Stunden, Augenblicke waren wie Ewigkeiten. Ich war apathisch und doch fokussiert, betäubt und doch konzentriert.

      Wie in einem Panoptikum jagten tausende Bilder durch die zum Bersten angespannten Synapsen in meinem Kopf und zeigten in wirrer Folge Fotos von Fremden und Freunden, Orten und Momenten, Instrumenten und Körpern. Nur noch gute vier Meter. Nicht mehr als ganze dreihundertachtzig Zentimeter bis zur Wahrhaftigkeit. In mir brannte das Feuer der Sehnsucht nach einem langen endlosen Schlaf. Übersättigt von Gedanken, ertrunken in Selbstzweifeln gebot ich meine Seele in Gottes Hände. Jeder Augenblick war wie betäubt und besinnungslos; jede Körperfaser fühlte sich gedemütigt und verleumdet. Es war an der Zeit. Es war an der Zeit zu gehen. Eine winzige Entfernung nur bis zur Unendlichkeit. Immer lauter, immer bedrohlicher näherte sich donnernd auf gerade Strecke der Hochgeschwindigkeitszug auf seiner Fahrt von Köln in Richtung Paris. Schrill quietschte Metall auf Metall; das Getöse des Alarmsignals drohte mir das Trommelfell zu zerreissen. Seltsam und makaber. Ein erwartungsvolles Lächeln in dieser nicht zu beschreibenden Erregung schlich sich auf meine Gesichtszüge. Meine Schlagadern drohten vor Aufregung zu bersten unter meinem heftigen Herzschlag.

      Und doch war ich mir jeder meiner Schritte bewusst, nüchtern und immer noch angstfrei. Das Ende aller Lügen. Das Ende allen Verrats. Das Ende aller Peinigung, Demütigung und Perspektivlosigkeit. Vor allem aber ein Ende der Leere. Wozu noch leben, wenn mir das Liebste daraus gerissen wurde? Wozu noch atmen, wenn ich nicht mehr weiss für wen?

      In knapp drei Metern, in wenigen Augenblicken würde alles vorbei sein und alles wäre überstanden. Schon sah ich in nicht mehr allzu grosser Entfernung die Scheinwerfer und die schlanke, bordeauxrote Silhouette des Thalys rasend schnell auf den singenden Gleisen auf mich zukommen.

      Nur noch etwas Mut. Jetzt nur noch zwei Schritte und stehen bleiben!

      Dann tauchte es auf.

      Wie aus dem Nichts stand es da. Das eine Bild in meinem Hirn, das alles zerstören sollte und alle Hoffnung auf Erlösung begraben sollte. Ich sah vor meinem geistigen Auge genau das Bild, das ich jetzt nicht sehen wollte.

      Ich sah Anna, meine Gefährtin, mein Hafen, mein Zuhause.

      Es war nur das unscharfe Fragment ihrer Augen. Es war nur der Bildfetzen ihrer Lippen, ein schemenhaftes Fresko ihres Lächelns, das ausreichte, um mich sanft aber kraftvoll aus dem sich mir nähernden Paradies herauszuzerren. Es riss mich heraus aus meiner Hoffnung auf den Tod. Es schleuderte mich hinfort aus allen Träumen auf ein verheissungsvolles Jenseits und hinein in eine trostlose, düstere Wirklichkeit. Ihr Antlitz stand da, vor mir wie in einem unwirklichen Schattenbild

      und doch war es kein Trugschluss, keine Erscheinung. Sie war gegenwärtig und hielt mich zurück. Ich erschrak. Meine Augen waren aufgerissen und mein Körper schwankte. Mein Herz schien still zu stehen. Plötzlich wich ich zurück und nur Millisekunden später raste die mächtige Lokomotive des Hochgeschwindigkeitszuges mit schrillem Bremsgeräusch und heulendem Signalhorn an mir vorbei. Der ohrenbetäubende Lärm der jaulenden Aggregate und das quietschende Metall der bremsenden Radreifen zerfetzten mir alle meine Träume. Ein schwarzer Schatten der Vergänglichkeit streichelte kalt meine Wange bevor mich ein gewaltiger Luftzug rücklings zu Boden bis an den Rand des Gleisbettes warf.

      Mit einem gewaltigen, rhythmischen „DuDumDuDum“ flogen die einzelnen Wagons und Abteilwagen in gefühlter Lichtgeschwindigkeit donnernd an mir vorbei und ich hatte alle Mühe Luft zu bekommen.

      „Neiiiiiiiiiiiiin !!!! “, kreischte ich in einem endloslangen Schrei dem Zug entgegen. „Anna !!!! “, schrie ich unter heftigen Tränen den mich passierenden Waggons hinterher.

      Dieser Tag ist jetzt zwölf lange Jahre her.

      Trotz aller Hoffnungslosigkeit atme ich.

      Gegen alle Zuversicht lebe ich.

      Und trotz allem schlägt mein Herz.

      Zeitenwende

      Wind von Hügeln über Meere

      Wind aus höchster Atmosphäre

      Wind von Ebenen und Feldern

      Wind aus Höhlen und aus Wäldern

      Wind von Bächen und von Wegen

      Wind aus Wolken und aus Regen

      Wind von Dächern und von Türmen

      Wind aus Wüsten und aus Stürmen

      Wind vom Mond und von Gestirnen

      Wind aus Eis von Gletscherfirnen

      Alle Winde strömen hin

      Zu dem, der ich gewesen bin

      Jeder Wind streift meine Hände

      Zeit zu wenden – Zeitenwende

      Zwölf Jahre später und fünfhundert Strassenkilometer weiter südlich

      Nein, ich atme noch. Entgegen aller Zuversicht und wider alle Hoffnung schlägt mein Herz noch immer. Trotz allem. Heute bin ich ein anderer als damals vor zwölf Jahren. Und auch morgen werde ich vermutlich ein anderer sein als derjenige, der ich heute noch bin. Immer noch und mehr denn je bin ich ein leidenschaftlicher Zweifler. Immer noch bin ich ein sehnsüchtig Suchender. Ich bin auf der Reise meines Lebens noch nicht sehr weit gekommen und stecken geblieben im Strudel des Erlebten. Vor vielen Jahren hatte ich aufgehört an etwas zu glauben und ich habe seither auch nicht wieder angefangen es zu tun. Wie könnte ich auch? Woran hätte ich denn glauben können? Sollte ich trotz allem was mir widerfahren ist, was Menschen mir angetan haben wieder wie ein Kind an das Gute im Kern eines jeden menschlichen Wesens glauben? Sollte ich tatsächlich auf etwas Besseres hoffen oder etwa dafür beten, dass alles wieder gut werden möge? Wie soll ich nach den Stürmen meines Lebens jemals wieder an einen Gott, an einen Allah oder das Universum glauben? Wo war er der Barmherzige, mein Erlöser, mein Heiland? Wo war er in meinen dunkelsten Stunden? Damals hatte er meine verzweifelten Gebete und mein sehnlichstes Flehen nicht gehört. Er hatte geschwiegen und tatenlos zugesehen. All mein Rufen und Schreien zu ihm war ungehört geblieben. Meine beharrliche Suche nach göttlichem Beistand und spiritueller Hilfe war vergebens gewesen und nichts hatte mir meine Hoffnung wiedergeben können, bis heute nicht. Weder bewusstseinserweiternde Drogen noch Alkohol, weder Religion noch Esoterik oder gar meine eigene