Johannes Peter Zimmermann

Mund der Wahrheit


Скачать книгу

kaum breiter als viereinhalb Meter aber ein Kleinod an Historie und Gemütlichkeit. Die hell verputzte Fassade, die hölzernen Sprossenfenster und die alten Dachschindeln geben diesem Schmuckkästchen eine pittoreske Note und dienen dem ein oder anderen Touristen bei ihren Streifzügen durch die Baseler Altstadt als hübsches Fotomotiv. Im den Sommermonaten zieren rote Hängegeranien die kleinen Fenstersimse und schenken dem Antlitz des Häuschens ein paar farbige Tupfer. Das enge Treppenhaus stellt jeden hier ein- und ausziehenden Mieter beim Möbeltransport vor besondere Herausforderungen und nicht selten wurden und werden Schränke und Sessel durch die flussseitigen Fenster hinab- und hinaufgeschafft. Der eingeschränkte Komfort des Gebäudes wird mehr als wieder gut gemacht durch die heimelige Atmosphäre des uralten Gemäuers und die exklusive Lage direkt am großen Strom. Ich mag mein bescheidenes aber einladendes Heim, inmitten meiner inzwischen liebgewonnenen neuen Heimat in der Schweizer Grenzstadt.

      Außer mir wohnt noch eine ältere Dame im Haus. Die kleine Wohnung im Erdgeschoss beherbergt Pierrette, eine ehemalige französische Journalistin. Früher war sie beim Figaro verantwortlich für die kulturelle Berichterstattung aus der Schweiz und trägt trotz eines an dieser Stelle zu verheimlichenden, aber gewiss bemerkenswerten Alters selbst daheim meist einen eleganten Hosenanzug und auffallenden Modeschmuck. Die elegante und gemessen an ihrem geschätzten Alter sehr jugendlich aussehende Dame schminkt sich täglich mit einer Akribie und Selbstverständlichkeit als würde sie sogleich in ihre Redaktion oder zu einer Recherchereise für eine neue Story aufbrechen müssen. Doch ihre aktiven Tage als Kulturreporterin sind schon lange her. Nur noch selten betätigt sie sich als Schreiberin von Leserbriefen. Ihre dunkelbraun gefärbten Haare trägt sie in einer mädchenhaft kurzen Frisur und gönnt sich jeden Monat einen ausgiebigen Besuch bei ihrer Kosmetikerin am Spalentor, die ihr die Augenbrauen und den sich ausweitenden Damenbart zupft. Pierrette lebt in ihren zwei Zimmern gemeinsam mit ihrer schon fast erblindeten Mischlingshündin Jeanne inmitten eines hübschen Ensembles aus alten Möbeln, Bildern, Skulpturen und sonstigen Devotionalien ihres Lebens, von denen jedes einzelne eine unendlich lange und bewegte Geschichte zu erzählen hat. Neben den teils kitschigen, teils sehr avantgardistischen Gemälden sind die Wände mit so unzähligen Fotos vollgehangen, dass ich nicht beschreiben könnte, welche Tapete sich dahinter verbirgt. Vor allem die vielen, teilweise schon verblassten schwarz-weiß Aufnahmen zeigen Menschen und Orte, die ihr etwas ganz besonders am Herzen liegen und viel bedeuten müssen. Sie hängt sehr an ihren „Devotionalien“, wie sie die Dinge selber gern bezeichnet. Gelegentlich beobachte ich sie beim Blick durch ihr Fenster, wie sie unbewegt und gedankenverloren vor einem der Bilder steht. Ein Bild scheint es ihr besonders angetan zu haben. Es ist das Bild eines jungen Mannes mit einem Barett auf den lockigen Haaren und einer Flinte in der Hand. Es ist wohl das Bild ihrer großen Liebe, der in Frankreich, während der Nazi-Zeit in der Resistance kämpfte und bei La Rochelle aufgegriffen und standrechtlich hingerichtet worden war. Ab und an sieht es so aus als wüsche sie sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Jeden Morgen, wenn die Mischlingshündin Jeanne und ihr Frauchen zu einem kurzen Spaziergang das Haus vorderseitig verlassen, ist zu hoffen, dass die beiden den Weg auch wieder zurückfinden. Pierrette hat die Alzheimer-Krankheit, allerdings erst in einem sehr frühen Stadium. Sie spricht nicht darüber, aber vor ein paar Monaten, es waren die letzten Tage vor Weihnachten, hatte sie mir bei einem Glas Punsch mit ihrem reizenden französischen Akzent gesagt: „Ich bin dabei die Gegenwart zu verlieren, Monsieur Pierre. Ich verliere das Heute und das Morgen und verirre mich im gestern. Ich habe das ungute Gefühl, dass sich meine Dimension von Zeit verändert, sich aufbläht und schrumpft, sämig wird wie heißer Teer und dann wieder strömt wie ein Wasserfall. Irgendetwas passiert da in meinem Kopf, Pierre. Ce qui se passe avec moi, mon Pierre? Die Vergangenheit wird immer grösser und die Gegenwart immer kleiner. Ich werde alt, Pierre. Ich bin alt.“

      Ich hatte ihr da nur sagen können: „Nein, für mich sind sie jung, Madame. Jünger als sie denken. Bei mir ist das übrigens auch so mit der Zeit. Mir ist die Gegenwart viel zu schnell, als dass ich mir noch irgendetwas merken könnte. Und meine eigene Geschichte, meine Vergangenheit ist so gross, gewaltig gegenwärtig, dass sie die Gegenwart übertüncht. Meine Vergangenheit war aufregend und lebendig, aber meine Gegenwart ist so belanglos und langweilig.“ Pierette hatte mich angelächelt und meinet nur: „Ach, was soll’s. Ich habe gelebt, geliebt, gelitten und gelacht. Was darf man mehr erhoffen? Aber Sie Monsieur Pierre, Sie sind noch jung und lebendig. Leben Sie, Pierre! Lieben Sie! Und bitte erinnern sie mich bitte jeden Tag- chaque jour ­- an meine Zukunft, bitte! D’accord?“. Trotz des spürbaren Fortschreitens ihrer Erkrankung ist mir Pierrette ans Herz gewachsen, ohne dass ich sagen könnte, dass wir uns sehr nahe stehen. Ich bin seit jenen Tagen vorsichtig geworden mit Begriffen wie Freund oder Vertrauter. Aber diese geistig aktive und mich intellektuell überragende Dame ist für mich ein beneidenswertes Wunder an Energie, Intuition, Wissen und Weisheit. Sie ist mir eine Kameradin geworden. Obwohl Pierette Gedächtnislücken in der jüngsten Vergangenheit hat, ist ihr Erinnerungsvermögen im Langzeitgedächtnis enorm. Sie hat beispielsweise noch genaue und sehr detaillierte Kenntnisse vom großen Baseler Chemieunfall am ersten November 1986 unweit des Industriegebietes Schweizerhalle, bei dem der ganze Rhein durch kontaminiertes Löschwasser verseucht wurde und der Fluss zu einem so gut wie toten Gewässer verwandelt wurde. Damals hatte sie sich bei der Recherche zu den Vorgängen als investigative Journalisten einen Namen gemacht, obwohl sie ja eigentlich nur aus dem kulturellen Leben berichten sollte. Sie hatte sich damals aus Betroffenheit über die Weisungen ihrer Vorgesetzten hinweggesetzt und sich die Unbill einzelner Industriekapitäne der Chemiebranche auf sich gezogen und manch einer hat ihr dieses Engagement zur Sensibilisierung für den Umweltschutz nicht verziehen. Pointiert kennt sie noch heute Geschichten und Gerüchte aus Politik, Wirtschaft und Kultur in Basel, Bern und Zürich und den anderen dreiundzwanzig Kantonen vom Tessin bis zum Jura, von Graubünden bis ins Waadtland. Sie ist fürwahr eine faszinierende, eine außergewöhnlich Frau, trotz und wegen ihrer Bildung. Wenn auch in ihrer Attitüde manchmal etwas eigenwillig auf mich wirkt und auch sie nicht ganz ohne die typischen Allüren einer stolzen Pariserin auszukommen scheint, so ist sie mir doch eine angenehme Gesprächspartnerin. In meinen einsamen Stunden lade ich mich gerne selber mit einer Flasche Bordeaux und etwas französischem Käse zu einer ihrer Geschichten ein auch um mein Versprechen einzulösen, sie an ihre Zukunft zu erinnern. Auch wenn sie in den Kriegsjahren mit ihrem Verlobten in der französischen Widerstandsbewegung gekämpft hatte, so kann sie heute einem Glas Roten nicht widerstehen. So lässt sie sich immer mal wieder gerne auf einen Plausch mit mir ein, was wohl mehr dem Bordeaux und dem Käse zu verdanken ist, als einer besonderen Zuneigung zu mir. Gelegentlich fällt mir dann beim Wein und den zweifelnden Blick in ihre braunen Augen auf, dass sie angestrengt darüber nachdenkt, wer dieser Fremde ist, der da bei ihr am Küchentisch sitzt. Schnell helfe ich ihr dann bei ihrer Suche und erzähle etwas von einem tropfenden Wasserhahn, einem neuen Riss im Putz oder einer knarrenden Holzdiele in meiner Wohnung über ihr, um sie nicht bloß zu stellen oder zu beschämen. Madame, wie ich Pierrette meist nenne, hat trotz ihrer auftretenden Gebrechlichkeit und ihrer Alzheimer-Erkrankung nichts von ihrer koketten, unnahbaren und manchmal provozierenden französischen Art eingebüßt. Einmal führte sie mir einen neuen Sommerhut vor, den ihr eine alte Schulfreundin aus Paris als Geschenk geschickt hatte. Es war wundervoll zu sehen, wie sie mir tänzelnd ihre neuste Errungenschaft so mädchenhaft-verspielt und doch so elegant und nobel präsentierte, auch wenn sie beinahe über ihre verwirrte und halbblinde Hündin gestolpert wäre. Madame ist mir eine lieb gewordene Bekanntschaft geworden, ohne dass ich hätte sagen können, dass ich dies auch für sie bin.

      Außer Pierrette und mir wohnt im Haus oben unter dem Dach noch ein Student aus Berlin, der an der Baseler Universität Graphik und molekulare Biologie studiert. Er ist vor viereinhalb Jahren in die Maisonette Wohnung eingezogen. Unser Kontakt ist eher distanziert, aber freundlich und eher oberflächlich. Er weiß wahrscheinlich nicht so recht, was er mit diesem kauzigen Aachener aus der Wohnung unter ihm anfangen soll. Unsere Welten sind wohl zu verschieden und von daher bleiben wir beide stets reserviert. Nur selten höre oder sehe ich David, der wohl Anfang dreißig ist und neben dem Studium scheinbar hauptsächlich laute Computerspiele zu seinem Lebensinhalt erkoren hat. Freitags- und Samstagsnachts frönt er regelmäßig einer weiteren Leidenschaft, nämlich ausschweifenden und vor allem geräuschintensiven Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern oder Partnerinnen. David gilt sicher hinlänglich als äußerst gutaussehend soweit ich das als Mann beurteilen