Johannes Peter Zimmermann

Mund der Wahrheit


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joot jejange! Ich breche die sporadische Lektüre des humoristischen Gesetzblattes ab. Nein. Es stimmt nicht. Es geht nicht immer gut. Manchmal endet es sogar in einer Katastrophe. Ich suche hastig noch eine wärmende Jacke. Im chaotisch sortierten IKEA-Kleiderschrank hängen noch immer ein paar braune, graue und schwarze Einreiher im uniformen Dresscode der Finanzwirtschaft direkt neben der speckigen, schwarz-braunen Lederjacke, die ich seit dem letzten Auftritt am Kölner Tanzbrunnen vor einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr getragen hatte.

      „Was für ein Konzert! Was für ein Abend und was für eine Ende!“, geht mir durch den Sinn.

      Ich belasse das geliebte, lederne Bekleidungsstück an seinem angestammten Platz im Kleiderschrank und verweile noch einen Moment in den lebendigen Erinnerungen an meine Zeit als ambitionierter Musiker wie ein sehnsuchtsvolles Gedankenpuzzle an Flower-Power, Woodstock und die Blumenkinder. Wieder schweifen meine Gedanken ab. Ach ja, die Blumenkinder. Irgendwie bin ich ja auch ein Blumenkind. Schliesslich bin ich im Blumengeschäft meiner Eltern neben Chrysanthemen, Gladiolen, Tulpen und Rosen aufgewachsen. Aber ich war wohl immer mehr ein Tannenbaumtyp als ein Blumenkind. Zum einen hatte ich seit jeher eine Liebe für den Duft von Kiefern, Fichten und Tannen und einen Hang zum Einfachen, Schlichten, zum Natürlichen, Archaischen. Da sind mir Bäume, insbesondere Nadelbäume immer näher gewesen als bunte Blumen. Zum anderen Christbaumtyp, weil ich in der Adventszeit im Geschäft meiner Eltern regelmässig für den Verkauf der Weihnachtsbäume verantwortlich war. Mein Vater lehrte mich alles über Blau- und Nordmanntanne, mit und ohne Wurzelballen und besonders deren Pflege in den warmen Wohnstuben meiner Kunden während der Weihnachtszeit. Er lehrte mich die Kniffe und Tricks von der Haarlackbehandlung über konservierende Glycerinbehandlungen bis hin zur optimalen Giessfrequenz des Wurzelballens. Weihnachten! Noch so ein Melancholie und Wehmut erzeugendes Wort. Die Sehnsucht Weihnachten heisst noch immer Sehnsucht nach Unbeschwertheit, Frieden und Vergangenheit für mich und das Heimweh nach einer besseren Zeit.

      „Wenn ich doch damals besser wie mein Vater und Grossvater ein zufriedener, glücklicher Landschaftsgärtner geworden wäre“, reisse ich wieder einen alten Gedanken auf, den ich schon hatte, als ich mich noch als Banker durch die Hierarchien geschleimt hatte. Ich verlasse diese chaotische Gedankenkette schnell wieder und besinne mich auf meine Reise.

      Automatisiert schlüpfe ich in mein dunkelbraunes Cordjackett.

      „Sieht aus wie immer das Spiegelbild- bis auf die dunklen Augenringe vielleicht!“, sagen mir meine halbwachen Pupillen. Ich erbarme mich eines kleinen Mini Size-Fläschchens lauwarmen Whiskeys, der noch in der Jackentasche steckt und mich verführerisch und fröhlich darum bittet, dass ich mich seiner annehme.

      „Es wird immer früher“, denke ich beim Genuss des ersten Betäubungsalkohols um halbsieben Uhr morgens. Noch schwelge ich in einem unspezifischen Trauma aus Briefen, sterbendem Pferd, Rockkonzerten und Tannenbaumverkauf als plötzlich der Radiowecker seinen unerbittlichen Weckruf von sich gibt, um mich daran zu erinnern, dass bald ein weisses Flugzeug in ein paar Stunden abheben wird und ich nun doch langsam aufbrechen sollte.

      Ich zerre wild am Kabel, um den Stecker aus der Steckdose zu ziehen. Ich erlöse mich und den krächzend Lautsprecher vom eifrigen Moderator des regionalen Radiosenders Basilisk. Leider habe ich satt des Steckers direkt die ganze Fassung aus der Wandverankerung gerissen, ohne dass die Jokes im typischen Baseldütsch des Schweizer Hochrheingrabens verstummen. Doch die rot-blauen Kabel versorgen das Gerät hartnäckig mit Energie. „Halt endlich die Klappe“, rufe ich dem Rundfunkmoderator entgegen, der mir aber ohne Reaktion weiter aus dem Lautsprecher entgegenplappert. Abermals zupfe ich wild am Kabel. Dann herrscht endlich Ruhe.

      Es wird Zeit loszufahren. Auch am heutigen Tag wie auch in all den Jahren zuvor quillt nicht für eine Sekunde die Frage durch meinen Sinn, diese alljährliche Reise nicht anzutreten. Auch nach all der Zeit finde ich zwar keine befriedigende Antwort, warum ich diesen Trip auf mich nehme, aber selbst jetzt gibt es keine Spur eines Zweifels daran, dass ich ihn antreten muss.

      Vielleicht reise ich nur noch aus Gewohnheit, aus einer zur Selbstverständlichkeit gewordenen alljährlichen Routine heraus. Vielleicht reise ich, weil ich etwas finden will auf der Suche nach einer Vergangenheit, die ich idealisiere und verherrliche. Ich reise als wäre es eine Zeitreise in eine Epoche „ Anna“, eine untergegangene Zeit, ein verlorenes Paradies. Unabhängig von dieser Reise war es aber auch noch eine andere Liebe, die mich am Leben gehalten hat. Eine ewig junge, immer neue Liebe voller Lust und Leidenschaft. Meine allererste und wohl auch meine allerletzte Liebe. Diese erste große Liebe hatte einen klangvollen Namen. Diese ewig junge, wunderbare Schönheit hieß „Musik“. Aber auch sie alleine hätte mich nicht all die Zeit im selbstgewählten Exil überstehen lassen können, in der freudlosen, monotonen Distanz zu dem Menschen, den man liebt. Es waren beide Sehnsüchte, die mir Lebenskraft geben und gaben bis zum heutigen Tag. Bei Gott, ich werde meine beiden hübschen, sechs-saitigen Freundinnen in den nächsten Wochen vermissen.

      Die braune Reisetasche in der Hand werfe ich einen letzten skeptischen Blick umher durch die Stube, auf die einfachen Holzstühle, den alten Tisch mit dem nicht gesäuberten Geschirr der letzten vier Tage und die noch nicht entsorgten leeren Flaschen Alkohol in der Ecke vis-a-vis des grünen Sofas. Der Zustand meiner Wohnung ist beklagenswert. Überall liegen noch nicht entsorgte Zeitungsberge und Paketkartons herum, der Boden ist staubig und einige Shirts, Hosen und Socken fliegen in den Ecken umher. Ich sehe noch einmal die Silhouetten meine beiden Gitarren und die Fotos an der Wand.

      Dann schliesse die Tür und eile die wenigen Stufen das Treppenhaus empor. Ich lege den Schlüssel unter die Fussmatte vor Davids Wohnung, der mir versprochen hatte, in meiner Abwesenheit nach dem Rechten zu sehen und meine Post einzusammeln. Ich muss mich beeilen. An Pierrettes Wohnung und dem Bellen ihrer Hündin vorbei trete ich durch den kleinen Flur ins Freie und lasse die schwere Eichentüre mit ihren Eisenbeschlägen hinter mir langsam ins Schloss fallen. Meine Hände werden feucht und ich kann eine gewisse Aufregung nun dann doch nicht unterdrücken, denn schliesslich warten die letzte Ruhestätte meiner Eltern und zweitausend Jahre alte Ruinen unter einem rosafarbigen Firmament auf mich.

      Ich laufe die paar wenigen Schritte bis zum Schaffhauserrheinweg, wo ich regelmässig mein Auto parke. Mit einer mässig eleganten Armbewegung befördere ich die halbvolle Reisetasche auf die Rücksitzbank meines achtzehn Jahre alten olivgrünen Landrover Defender. Das alte Stück mit seinen kaputten Sitzen, den vielen Beulen und wenigen Roststellen ist mir ans Herz gewachsen, selbst wenn er fast alles an Komfort eines modernen Motorfahrzeugs vermissen lässt.

      Ich lasse meine 88 Kilogramm in die gerissene Kunstledersitzschale fallen und zünde den Dieselmotor. Halbnüchtern und noch immer mit den noch nicht abklingenden Kopfschmerzen fahre mit dem verbeulten, in der Schweiz seltenen dunkelgrünen Rechtslenker die kurze Strecke zum Euroairport Basel-Freiburg-Mulhouse. Kurzfristig entscheide ich mich für die Route durch die Stadt. Der murrende Motor des Defenders knattert laut dieselnd über den Claragraben durch das Klingental-Viertel. In der Webergasse warten schon zu dieser recht frühen Stunde die Liebesdienerinnen aus aller Herren Länder auf kaufkräftige Kundschaft. Die Tramstationen an der Greiffengasse sind bereits gefüllt mit Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule oder Universität. In den Tramlis lesen die Passagiere ihre 20min-Zeitschrift. Die mittlere Rheinbrücke ist wieder einmal beflaggt mit dem Wappensymbol Basel dem „Baselstab“ und der Schweizer Nationalflagge. Etwas ruckelig quert der Landi die Gleise der Tramlinie 14 und wir passieren rechter Hand das prächtige Hotel „Les Trois Rois“, die eindrückliche Luxusresidenz „Dreikönig“ eines der phantastischen Hotels der ganzen Schweiz. Ich hatte jüngst die Ehre von einem Kunden zu einem Business-Lunch hierhin eingeladen worden zu sein und die köstliche Küche und die einzigartige Atmosphäre des Hauses geniessen zu dürfen. Auch wenn ich mir selber ein solches Vergnügen nicht leisten würde und könnte, war ich doch geschmeichelt in so einem edlen Ambiente dinieren zu dürfen.

      Vielleicht lag meine Zugewandtheit zum „Les Trois Rois“ auch daran, dass mir im Laufe dieses Mittagessens dann auch noch den Auftrag für die textliche Ausgestaltung einer neuen Kampagne eines lokalen Kosmetikunternehmens erteilt wurde. Aber auch für diesen Auftrag fehlte mir bis heute die notwendige Idee. Ich fahre am grossen Portal des Dreikönig vorbei und mein Defender sieht neben den hoteleigenen Gefährten vor dem Eingang des Hotels