Johannes Peter Zimmermann

Mund der Wahrheit


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Reich Aachen immer mit am härtesten als westlichste deutsche Stadt. Ich rieche den Duftmix aus frischen Rosenblättern und Lilienblüten und schleiche bewegt und zielstrebig vorbei an Grabmälern und Kreuzen hin zum schlicht wirkenden Grab meiner geliebten Eltern. An der Stelle, wo die beiden Menschen, die mir die besten Eltern der Welt gewesen waren, ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, hocke ich nieder. Ihre zeitlose und selbstlose Unterstützung, ihr bedingungsloses Vertrauen und ihre unabdingbare Liebe zu einem nicht immer einfachen Sohn haben ein so unzerstörbares Band zwischen uns geknüpft, dass selbst der Tod dies nicht lösen konnte. Ich weiss sie ganz gewiss bei ihrem Schöpfer und danke dem Universum für ihre Nachsicht und Geduld mit mir. Auch wenn ich zweifle und nicht an den gleichen Gott glauben kann wie sie, so bete ich doch zu irgendwem, dass er ihnen in ihrem Himmel vergelten möge, was sie mir waren. Die frischen weissen Lilien mit den beiden roten Rosen drapiere ich liebevoll in einer mit Patina grün angelaufenen Messinggrabvase, die schon lange keine frischen Blumen mehr gesehen hatte. Ungläubig fällt mir auf, dass wohl vor einigen Tagen eine einzelne Rose unverhüllt und liebevoll dort abgelegt worden war. Sie liegt an der fussseitigen Umrandung des schlichten Grabes. Mir kommt niemand in den Sinn, der die Blume erst vor kurzem dort abgelegt hätte können. Ich wende mich fragend und ängstlich um, suche wer sie dort hätte platzieren können, aber ich sehe niemanden. Die Blume erscheint frisch. Ich belasse sie ehrfürchtig an ihrem Platz und füge sie nicht zu meinem Strauss hinzu.

      Als einziges Kind einer Gärtnerfamilie wusste ich wie sehr meine Mutter, aber auch Anna Rosen und Lilien mochten. Sie symbolisierten ihnen beiden stets Reinheit und Schönheit, aber auch nie enden wollende Liebe. Komisch, aber die beiden mir liebsten Frauen in meinem Leben hatten die gleichen Blumen gemocht. Anna liebte weisse Lilien, weil sie in ihr zeigten, wie wertvoll der Augenblick ist und wie kostbar die Gegenwart, weil in ihr schon die Vergänglichkeit angelegt ist, ähnlich einer Lilie, die in all ihrer Kraft und Schönheit auch schon das Stadiums des Verblühens und Welkens in sich birgt. Kaum ein Tag, wo es zuhause damals nicht nach Lilien geduftet hätte. Und zum Geburtstag am neunundzwanzigsten März schenkte ich ihr stets einen grossen Strauss weisser Lilien mit zwei einsamen roten Rosen darin. Mir war grade so als stünde Anna gemeinsam mit meinen geliebten Eltern mit kritischem, sachverständigem Blick professioneller Floristen hinter mir, ob ich den grossen, duftenden Strauss auch hübsch genug in der Messingvase arrangiere. Ich betrachte selbstkritisch mein bescheidenes Kunstwerk und bin zuversichtlich ihren Ansprüchen zu genügt zu haben. Ich fühle mich meinen Eltern an diesem Ort so unerklärbar nah, als könnte ich noch einmal mit ihnen reden, ihnen sagen, was mich bewegt und wie sehr sie mir fehlen. Ich trage sie in meinem Herzen immer bei mir, aber hier ist es so, als wären ihre Seelen gegenwärtig.

      Immer wieder drehe ich mich um. Aufmerksam lausche ich den Stimmen und Gesprächen der wenigen Passanten, wende meinen besorgten Blick stets ab von den ihnen, um möglichst unerkannt zu bleiben. „Pass bloss auf, dass dich niemand sieht, der dich noch kennt“, mahnen mich mein Kopf und mein Herz.

      Vor drei Jahren hatte ich draussen auf dem Friedhofsparkplatz per Zufall Gerry getroffen, der hier wohl einen verstorbenen Freund besuchen wollte. Er hiess eigentlich Gerald aber dieser Name passte wohl weniger gut zu einem exzellenten Gitarristen und eingefleischten Hard Rocker, den ich vor zig Jahren eher oberflächlich kennengelernt hatte. Gerry hatte uns mal bei ein paar Auftritten ausgeholfen, als der Lead-Gitarrist unserer damaligen Cover-Band mit gebrochener Hand für eine längere Zeit ausgefallen war, aber wir hatten trotz spürbarer Sympathie füreinander nur wenige persönliche Berührungspunkte und Begegnungen. Er lebte schon lange nicht mehr in Aachen und war nach Berlin gegangen, um dort sein Glück als Musiker und Grafiker zu versuchen. Er war damals nicht weniger überrascht als ich, als wir uns vor genau drei Jahren hier wiedergesehen hatten. Ich erinnere mich genau, wie ich auf den Parkplatz noch versucht hatte, ihm auszuweichen und der Begegnung mit ihm zu entkommen. Ich hatte so getan, als hätte er mich verwechselt, sein Rufen nicht vernommen und mich uninteressiert aber übertrieben schnell zu meinem Auto hinbewegt.

      „Peter?“, hatte er völlig entgeistert damals mehrmals in meine Richtung gerufen.

      „Peter? Bist du das?“ Schüchtern und beschämt hatte ich an jenem Tag aufgeblickt und ihm scheu zugewinkt.

      Im Gegensatz zu den vielen anderen Menschen hatte er es nicht verbergen wollen,

      dass es mich kannte und sich sehr über unser Wiedersehen freute.

      Schnell war er auf mich zugeeilt: „Mensch Peter ! Du ? Hier ? Wie geht’s Dir? Peter!

      Lass dich anschauen. Alles in Ordnung bei Dir? Mensch Alter, wie lange ist das her? Ich freue mich so dich zu sehen. Peter! Mann! Ich habe nur flüchtig einmal etwas davon gehört, was damals da alles abgegangen ist bei Dir! Was war das für eine verfuckte Scheisse damals! Lass dich drücken, Kerl! Machst du noch Mucke?“ Er war überschwänglich gewesen, doch ich hatte nicht ein Wort für ihn in diesem Moment. Es war über mich gekommen und hatte bitterlich zu Weinen angefangen. Er drückte mich brüderlich an sich. „Alter, was ist denn los?“, fragte er besorgt. „Beruhige dich doch, Peter! Alles okay!“ Als ich mich wieder etwas gefasst hatte, brachte ich nur heraus: „Gerry, schön dich zu sehen! Du siehst gut aus! Sorry wegen der Heulerei und dass ich dich vorhin nicht wahrnehmen wollte. Mir geht’s grad nicht so toll. Ist halt immer so wenn ich hier bin. Ich bin aber sonst einigermassen stabil. Zumindest im Grossen und Ganzen.“

      Gerry hatte mich an beide Oberarme gepackt und mich mit seinen klaren blauen Augen, die aus einem warmherzigen, freundlichen Gesicht herausstrahlten angesehen. Seine langen gelockten Haare hatten im kühlen Märzwind geweht. Er war trotz unserer sehr überraschenden und tränenreichen Umarmung völlig aus dem Häuschen über diese unerwartete Begegnung mit mir auf dem menschenleeren Friedhofsparkplatz gewesen.

      Gerry war das, was man hinlänglich einen Freigeist nennt. Er hatte nie etwas auf Konventionen gegeben und weder in seinem Tun noch in seiner Haltung hatte er auf Meinungen Anderer, Getratsche oder Gerüchte etwas gegeben. Es tat mir unsagbar gut in ihm einen Menschen zu gefunden zu haben, der im Umgang mit mir unbelastet und unvoreingenommen war. An jenem Tag unseres Wiedersehens hatten wir versprochen uns zu schreiben oder zu telefonieren und seit jener Begegnung tun wir das bis heute unregelmässig aber stetig. Wir waren damals keine Freunde, eher gute Bekannte doch im Laufe der letzten drei Jahre ist er zu einem Freund geworden; zum einzigen Freund von vielen, der mir geblieben ist. Inzwischen weiss ich, dass er eigentlich der einzige Freund ist, den ich je hatte und für diese Freundschaft bin ich dankbar. Ein wahrer Freund ist wohl ein kostbares Geschenk, das man nicht allzu oft im Leben geschenkt bekommt. Dieser eine ist mir kostbar. Lieber einen von diesem Wahrhaftigen als Hunderte virtuelle Freunde, lieber einen kritischen Gefährten als Tausende Schulterklopfer, lieber einen mit Herz als Millionen mit Verstand. Auch für den heutigen Abend haben wir uns in einer Kneipe in der Nähe meines Hotels verabredet und ich freue mich auf das Wiedersehen mit diesen tapferen Getreuen. Noch immer stehe ich am nüchternen Grab meiner Eltern. Ich streichle den kalten vielfarbigen Marmor, auf dem ich die mir vertrauten Namen Josefine und Johann in bronzenen Lettern wiederfinde. Bilder aus meiner Kindheit und Jugend tauchen auf, wie wir das erste Mal nach Domburg an die niederländische Nordseeküste in Urlaub fuhren oder wie ich beim Krippenspiel im Kindergarten den sprachlosen Josef gab. Ich sehe mich mit dem Kettcar über den Hof der Gärtnerei fahren oder bei dem wöchentlichen Autoputzen des ockergelben Opel Rekord, damals der ganze Stolz meines Vaters. Ich habe glücklicherweise unzählige glückliche Kindheitserinnerungen. So viele Bilder und Episoden trage ich in meinem Herzen, die mich an meine unbeschwerte Kindheit erinnern: Ferien auf Baltrum, Ausflüge ins Phantasieland, Besuch eines Spiels vom 1.FC Köln und weitere hunderte Fragmente aus den Niederungen meiner Erinnerung. Die Augen werden mir feucht. Nach einer weiteren, gefühlten Ewigkeit wird es Zeit für mich zu gehen.

      Ich rieche noch einmal an den weissen Lilien und atme ihren Duft ein, als wäre es der Geruch nach Anna. Zuletzt entzünde ich eine grosse Grabkerze und beginne unter jetzt purzelnden Tränen ein letztes, stilles „Vater unser“ für meine beiden an den Gott, den ich nicht mehr erkenne. „ Vater unser, der du bist im Himmel. Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“ Dein Wille geschehe ? Mir stockt der Atem, aber ich kämpfe mich weiter durch die in Kinderzeiten auswendig gelernten Sätze. „Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib mir meine