Anders Aaronson

Thuazar


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voll zufrieden, als er sich am nächsten Morgen mit seinem Vater auf den Heimweg machte.

      Das war die eine Sache, weswegen er den Berg so hasste. Weil er es liebte, im Draußen zu sein – und zum Zweiten:

      Am nächsten Tag war er Vollwaise geworden.

      »Der Berg hat sie zu sich geholt«, hatte der Priester bei der Gedenkfeier gesagt. Ein Begräbnis gab es nicht, denn sie waren ja schon begraben. Es sei eine Ehre, wenn der große Hämmerer einen Brak so zu sich holte. Broman hätte ihm am liebsten seinen Hammer in die salbungsvolle Schnauze geschlagen, die Beine gebrochen und dann in das tiefste Loch gestoßen, das es gab. So oft hatte er es sich ausgemalt, wie er dann auch noch laut dafür gebetet hätte, dass die Edroks den Priester holen sollen, um ihn dann dem Wy’yrm zum Fraß vorzuwerfen.

      Aber er hatte sich beherrscht und nichts getan. Nur geweint und getrauert. Seitdem hasste er den Berg Gramo’on und alle, die darin lebten.

      Der Hass ging über in Resignation.

      Die Resignation wurde zu Gleichgültigkeit.

      Ihm war es egal, wenn er Fehler machte. So schwere Fehler, dass dabei Maschine und Brak gefährdet wurden.

      ›Es ist doch eine Ehre, wenn der große Hämmerer einen holt ...‹, dachte er oft voller Sarkasmus.

      So glühend wie ein normaler Brak – aber was hieß schon normal? – die Arbeit in den Minen liebte; verabscheute er sie im gleichen Maß.

      Das Kriechen in den Stollen, die dauernde Dunkelheit, der Staub, die schlechte Luft und die Plackerei, die so hart war, dass man jeden Abend halb tot ins Bett fiel und sofort einschlief, stieß ihn in eine Lethargie, die ihn daran hinderte, der Brakfeste Gramo’on kan Brak den Rücken zu kehren.

      Das Einzige, was ihn am Leben hielt, war die Erinnerung an seine Eltern. Daran, dass seine Mutter den Duft von Blumen liebte, und sein Vater ihm die weite Welt draußen vor dem Tor gezeigt hatte.

      »Broman! Hörst du mir überhaupt zu!«, brüllte ihn Ermon an.

      »... hm? Jaja, ehrwürdiger Oberbaumeister«, gab er murmelnd zurück.

      »Nein, du hast mir nicht zugehört. Dir ist es egal, wie immer. Wie oft haben wir dich schon ermahnt? Du benimmst dich unmöglich, ohne Verantwortungsgefühl. Du benimmst dich, als seist du nicht ein Teil dieser Gemeinschaft. Darum höre jetzt das Urteil, welches der oberste Rat erlassen hat ...«

      Dabei stellte er sich hinter den Tisch und schaute Broman ernst in die Augen.

      »Broman, Trabors Sohn, hiermit verbannen wir dich aus der Brakfeste Gramo’on. Hundert Jahre sollst du draußen leben, ausgeschlossen von der Gemeinschaft der Braks. Keine andere Feste wird dich aufnehmen und dir Schutz bieten. Möge dich diese Strafe läutern und dir Erleuchtung bringen. Du kannst gehen!«

      »Was?«

      »Hole deine Sachen und verlasse noch heute Gramo’on kan Brak!«, sagte Ermon fest.

      »Jaja!«, stammelte der Verurteilte und ging rückwärts zur Tür, zog sie auf und verschwand mit einem kurzen Kopfnicken.

      Ermon setzte sich schwer hin und stützte seinen Kopf in die Hände. Wie viele Jahre schon brachte dieser Broman ihn um den Verstand? Es war jetzt wirklich Zeit gewesen, Konsequenzen zu ziehen. Die Strafe war hart, aber gerecht, dachte er, seufzte und wandte sich den Plänen für die nächsten Stollen zu.

      Broman stand draußen vor der Tür und konnte es nicht fassen. Verbannung? Pah! Endlich durfte er weg aus diesen stinkenden, verrußten Höhlen und den beengenden Stollen. Raus in die weite Welt, mit frischer Luft und strahlender Sonne, saftigen Wiesen und Wäldern, Flüssen und Seen aus den Geschichten. Vielleicht würde er sogar das Meer irgendwann sehen.

      Alle Schwermut fiel mit einem Schlag von ihm ab. All das, wonach er sich in den Jahrzehnten dumpfen Dahinlebens gesehnt und nie geschafft hatte es anzugehen, wurde jetzt vor ihm, wie ein neues Kapitel in einem Buch aufgeschlagen.

      Er rannte laut jubelnd zu seiner Wohnkammer. Vorbei an staunenden Braks, die kopfschüttelnd, hastig zur Seite wichen. Schnell stopfte er seine Habseligkeiten in einen Rucksack. Steckte sich händevoll bunte Steine, die die Menschen so liebten, in die Hosen und Manteltaschen und riss den mächtigen Bergbauhammer aus der Halterung von der Wand. Hektisch blies er das kleine Öllicht aus und schloss die Tür von außen mit einem lauten Rumms, welcher sich in seinen Ohren sehr endgültig anhörte.

      Er rannte los und überlegte, ob er sich noch irgendwo verabschieden sollte, ihm fiel aber niemand ein. Seitdem seine Eltern ums Leben gekommen waren, hatte er niemanden gehabt, den er als Freund bezeichnen konnte.

      »Endlich frei, raus hier!«

      Scharf zog er die Luft ein. Er hatte noch was vergessen. Schnell hastete er zurück, riss die Tür auf, entzündete hektisch die Öllampe und kramte in seinem Schrank. Da! Der Beutel mit Medizin und Verbänden – in den Rucksack. Und da! Das Wichtigste: Die drei Flaschen mit dem Riechwasser, die er seiner Mutter geschenkt hatte. Die sie aber nie ausprobieren konnte. Behutsam steckte er sich die kleinen Fläschchen in seine Brusttasche.

      Jetzt aber! Er schlug die Tür achtlos hinter sich zu und sauste wieder los, Richtung Haupttor.

      »Hrrr! Schon wieder ... Scheiße!« Noch mal zurück, Tür auf, Öllampe auspusten und wieder los.

      Froh gelaunt kam er am Tor an. Die beiden Wächter wussten anscheinend Bescheid, denn sie öffneten ihm sofort.

      »Hey!«, rief Broman. »Warum so trübsinnig?«

      Die beiden schauten ihn verwundert an, während er hinaustrat. Dreiundvierzig Jahre, nachdem er zum ersten Mal Gramo’on kan Brak verlassen hatte, trat er wieder hinaus in eine grüne, von der Sonne beschienene Welt und stand auf der Straße. Diesmal aber nicht, um nur kurz den Markt zu besuchen. Nein, diesmal stand er am Anfang eines neuen Lebens. Denn zurückkommen, das hatte er sich fest vorgenommen, würde er nicht mehr.

      Der Wind zerrte an seinem Bart und pflügte durch die strohigen, schulterlangen, braunen Haare. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und in seinem Bauch rumorte es vor Aufregung. Er machte einen ausladenden Schritt und ließ dabei einen knatternden Furz fahren.

      »Haha!«, lachte er laut auf. »Der Wind steht gut ... oder wie sagen die Menschen von der Küste immer?«

      Hinter ihm schloss sich schabend das Tor der Brakfeste.

      Mit einem fröhlichen Pfeifen auf den Lippen ging er los, seinem größten Abenteuer entgegen.

       3. Argan Tai Andras

      Bis auf drei Bengel, die einen verkrüppelten Bettler mit kleinen Steinen bewarfen, war der Marktplatz von Argan Tai leer. Nach einiger Zeit verloren sie den Spaß daran und widmeten sich den Ratten, die das getrocknete Blut unter der Hirnrichtungsplattform vom Boden knabberten. Aber auch das wurde noch einiger Zeit langweilig und sie setzten sich an die Absperrung, um nachher eine gute Sicht zu haben. Denn heute wurde was geboten.

      Die Familie des Bauern Lüten sollte wegen Wilderei hingerichtet werden. Vater, Mutter, die beiden Söhne und die fünfjährige Dita.

      Es war bekannt, dass mit dem neuen Herrscher von Argan Tai, Rand I, nicht gut Kirschen essen war. Die Gesetze waren streng und die Strafen grausam.

      Also: Nichts Unrechtes zu tun, oder man ließ sich dabei nicht erwischen.

      Beides hatte die Familie Lüten nicht beherzigt und musste jetzt dafür bezahlen.

      ›Besser, wenn die Obrigkeit sich an anderen ausließ, als an einem selbst.‹ So dachten die meisten Bewohner von Argan Tai.

      Die zwei Missernten in den letzten Jahren, die hohe Abgabenlast an das neue Königshaus und die folgende Hungersnot hatte fast jeden kriminell werden lassen. Suff und Hurerei bestimmten das Straßenbild. Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung.

      Aber ein paar Leute