Friederike Elbel

Versteckspiel mit T-Rex


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er durch einen länglichen Spalt das Meer, auf dem sich der Vollmond spiegelte, sehen. Er überlegte, ob er klein T-Rex einen anderen Namen geben sollte. Der Name Glücksdrache, so wie ihn seine kleinen Geschwister nannten, war völlig unpassend. Doch ihn oder noch grauenhafterweise sie – inzwischen war bekannt, dass die T-Rex-Weibchen um einiges größer und gefährlicher waren als die im Gegensatz dazu ziemlich mickrigen Männchen – ‚klein T-Rex‘ zu nennen auch. Zwar entsprach das Adjektiv ‚klein‘ noch seinem jugendlichen Alter. Was aber, wenn er älter wurde und wuchs? Insgeheim hoffte Robert jedoch aus nachvollziehbaren Gründen, dass klein T-Rex niemals zu einem großen Raubsaurier heranwachsen würde. Nachdenklich schaute er durch den Felsenspalt auf das Meer. Ganz in der Nähe blinkten in kurzen Abständen ein paar Lichter auf, die genauso schnell wieder verschwanden. Neugierig steckte er seinen Kopf durch den Spalt, um besser hinaussehen zu können. Die Lichter stammten von zwei Booten, wobei eines das Schnellboot des Sheriffs zu sein schien. Das andere war wohl ein Hochseekutter, soweit Robert das in der Dunkelheit und von Ferne aus beurteilen konnte. Klein T-Rex hatte aufgehört zu scharren und schnüffelte weiterhin neugierig mit seinen überdimensionierten Nüstern am Boden herum. Möglicherweise war dort einmal ein Tier verendet und es roch lecker nach köstlichem, verwestem Fleisch. Robert entschloss sich, ihn sicherheitshalber wegzubringen, damit sein Appetit auf etwas Totes oder auf Fleisch nicht unnötig angeregt werden würde.

      „Dann komm!“ Er nahm die Leine auf, die noch lose um den Hals des Sauriers hing und zog das Tier in Richtung des Eingangs. Er zwängte sich durch die Öffnung und kletterte die Stufen wieder hinauf. Der Saurier folgte ihm anstandslos und ließ sich zahm an der Leine führen. Oben angekommen, blickte er zurück und sah das Schnellboot des Sheriffs, wie es direkt auf ihre Steilklippe zusteuerte. Robert duckte sich instinktiv weg. Eigentlich war die Entfernung zu groß, um selbst bei Vollmond entdeckt zu werden. Dennoch verschwand er vorsichtshalber mit seinem Urzeithaustier im Gestrüpp. Der Letzte, der den Kleinen zu sehen bekommen sollte, war der Sheriff. Amerikaner hatten teilweise sehr verschrobene Gesetze, wie beispielsweise das Verbot, einen Alligator an einen Wasserhydranten zu binden. Zwar galt das Gesetzt nur in Florida und sie lebten im Staate Washington, aber woher sollte Robert wissen, ob es nicht möglicherweise ein Gesetz gab, das so in etwa lautete:

      „Jeder, dessen Haustier einen Menschen frisst oder auch nur den Anschein erweckt, dass es einen Menschen fressen wolle oder der zu fressende Mensch bloß annimmt, dass das Haustier ihn oder sie fressen möchte, d.h. die bloße Annahme des Gefressenwerdens reicht aus, wird im minder schweren Fall mit lebenslänglich und höchstens mit Todesstrafe bestraft.“ Er umrundete die Tölpel-Kolonie, deren Nester jetzt im Spätsommer verlassen dalagen und ging in Richtung seines neuen Zuhauses. Klein T-Rex lief Robert immer wieder zwischen den Beinen hindurch und schien ihn darauf aufmerksam machen zu wollen, dass er nun Lust zum Stöckchenwerfen hatte. „Ja, ich weiß, du willst spielen. Warte einmal. Ich suche uns einen schönen Ast zum Werfen.“ Robert tastete den Boden nach einem geeigneten Spielzeug ab, doch klein T-Rex erledigte das Problem leider auf seine Art. Er kam verspielt angejagt und setzte sich mit einem halben Baum in seinem mächtigen Baby-Maul vor Robert hin. „Was soll denn das für ein riesiger Ast sein?“ Robert befürchtete, dass er nicht in der Lage sein würde, den schweren Stamm auch nur annähernd einen Meter weit zu werfen. Also suchte er ein Stöckchen und warf ihn mehrere Meter weit die Böschung hinab. Das beeindruckte den kleinen Raubsaurier jedoch wenig. Er blieb trotzig mit seinem Baumstamm im Maul vor ihm sitzen. „Na großartig!“ Er nahm dem Dinosaurier den Stamm aus dem Maul und warf ihn mit aller Wucht ein, zwei Meter weit. „Wegen dir muss ich mir jetzt Muskeln antrainieren.“ Das Tierchen hatte einen riesigen Spaß, Robert weniger, denn nach vier, fünf Würfen war er nassgeschwitzt. Ohne Frage nutzte es ihm, wenn er sich Kondition und Muskeln antrainierte, vor allem, weil er der Sohn einer Lehrerin war, die Mathematik unterrichtete, und er zudem als Ausländer, der in dem verschrobensten Haus der USA wohnte, einen besonders schweren Stand in der Schule hatte. Zum Gespött in der Schule machte ihn jedoch vor allem der Umstand, dass sein Vater und Großvater, so wurde gemutmaßt, in den Vulkan Mount Rainier gefallen seien. Erst nachdem sie in die USA gezogen waren, hatte er etwas über die genaueren Todesumstände seines Vaters und Großvater erfahren.

      Der alte Sheriff hatte sie, kurz nachdem sie angekommen waren, in Begleitung des

      damaligen Deputy Sheriffs Rimbaud besucht. Die beiden hatten ihnen ihre Anteilnahme ausgedrückt und ihnen versichert, dass das Sheriff‘s Office weiterhin nach den Vermissten suchen würde, obwohl eigentlich keine Hoffnung mehr bestand. Der alte Sheriff versprach Roberts Mutter, die beiden Rucksäcke ihres Mannes und ihres Schwiegervaters bald vorbeibringen zu wollen. Robert ärgerte es allerdings gewaltig, dass der alte Sheriff allen erzählte, was für ein kolossal mysteriöser Fall das sei und man sich nur wundern könne, wie zwei intelligente Männer es schaffen konnten, in einen Vulkan zu fallen. Robert versuchte die belastenden Erinnerungen an seinen Vater und Großvater zu verdrängen und bemerkte, wie müde er war. Er rief klein T-Rex zu sich, der erstaunlicherweise sofort gehorchte. Robert konnte vor Müdigkeit kaum noch die Augen aufhalten. Er schleppte sich die Treppe hinauf, warf seine Kleidung in die Ecke, legte sich ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Er schlief augenblicklich ein.

      II

      „Robert! Bitte steh auf. Deine Geschwister frühstücken bereits“, hallte die Stimme seiner Mutter durch das Treppenhaus. „Wenn die beiden mit ihrem Haustierchen selber nachts Gassi gehen müssten, lägen sie jetzt bestimmt noch tief schlafend in ihren Bettchen und säßen nicht am Frühstückstisch“, knurrte er übermüdet in seine Bettdecke. Wieso hielt ihm seine Mutter immer das untadelige Benehmen seiner zwei kleinen Geschwister vor? Wenn sie auch nur ahnen würde, welch grausame Mordanschläge ihre beiden süßen Zwillinge hinter ihrem Rücken mittels eines lebenden T-Rex ausüben wollten, wäre sie bestimmt nicht so ausgeglichen. Müde schleppte er sich in das Albtraumbad. Das Waschbecken, das von einer Firma stammte, die, wie man unter dem Beckenrand lesen konnte, im Jahr 1853 gegründet worden war, funktionierte nur zu 50 Prozent. Entweder kam kein Wasser und wenn, dann braunes, oder der Abfluss war verstopft. Es war auch schon vorgekommen, dass beide Katastrophen zur gleichen Zeit geschahen. Während er sich die Zähne putzte, examinierte er im Spiegel seine dunklen Augenringe. Dieser Anblick sollte seiner Mutter eigentlich Sorgen bereiten und ihn krankheitsbedingt in der Schule entschuldigen. Doch tapfer wie er war, überwand er seine Müdigkeit und als er in die Küche schlenderte, die in ihrer Größe und ihrer Düsternis jedem Gruselschloss in den Karpaten alle Ehre gemacht hätte, warf ihm seine Mutter nur einen kurzen, oberflächlichen Blick zu und widmete sich dann wieder den Zwillingen, um ihnen beim Anziehen der Jacken zu helfen.

      „Mach schnell. Wir müssen los. Ich habe dir ein Brot für unterwegs fertig gemacht“, rief sie ihm zu.

      „Weshalb? Die Schule fängt doch erst in einer Stunde an“, protestierte er.

      „Ich habe vorher eine Lehrerkonferenz. Bis deine Unterrichtsstunde anfängt, kannst du noch ein bisschen lernen“, schlug ihm seine Mutter vor.

      „Mami, ich bin durch meine guten Noten schon jetzt als Streber gebrandmarkt. Wenn ich noch besser werde, sprechen selbst die Lehrer nicht mehr mit mir“, war sich Robert diesbezüglich ziemlich sicher. Er langte nach dem von seiner Mutter für ihn vorbereiteten Frühstücksbrot und biss herzhaft hinein, denn das nächtliche Bäumewerfen machte hungrig. Er hatte den ersten Bissen noch nicht heruntergeschluckt, als ihn jemand Kleines am T-Shirt zupfte. Langsam drehte er seinen Kopf nach links unten, bis er in hellblaue, bettelnde Augen sah. Er ahnte, was das bedeutete.

      „Unser Glücksdrache hat noch Hunger“, wisperte Miranda. „Wir können leider erst heute Mittag, wenn der Kindergarten zu Ende ist, beim Bauernhof die Eier abholen. Gibst du uns also bitte dein Butterbrot?“ Er konnte schlecht einen T-Rex verhungern lassen, übergab seiner Schwester widerspruchslos sein Brot und überlegte, was mit den Eiern des Nachbarn gemeint sein könnte. Über diese Mitteilung seiner Schwester zermarterte er sich im Auto den Kopf, denn bei dem besagten Mann liefen im Hof ein paar mickrige Hühner herum, die von einer hässlichen, weißen Bulldogge beschützt wurden. Auch konnte er sich nicht vorstellen, dass dieser Nachbar, bösartig wie er ihn bisher mitbekommen hatte, freiwillig die Eier herausrücken würde. Und Geld, um Eier zu kaufen besaßen die beiden ebenfalls keines. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie