Caro Weidenhaus

Irrländer


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doch hatte er im ersten Moment „Krieg“ gedacht und an Flucht. Dass es sich nur um einen harmlosen Feuerwerkskörper handelte, wie sich später herausstellte, konnte ihn nicht beruhigen. Das nächste mal konnte es eine Brandbombe sein.

      Im Garten stank es nach Silvester, Rauch waberte über Rasenflächen, hängte sich in die Büsche und auf der Mauer stand ein Teufel mit roten Hörnern und lachte. Er wusste hinterher nicht, ob er sich den Teufel nur eingebildet hatte. Aber das Lachen war drohend gewesen. Ich komme wieder und dann sollst du in Feuer und Schwefel schmoren. Und dein Kind mit dir. Oder hast du je an unsere Kinder gedacht? Und an Kinderarmut? Und an die Not der Eltern? Auch er las davon in den Zeitungen, natürlich. Verantwortlich war er für Luisa.

      Als Straßenschlachten und Brandlegungen auch das Tageslicht nicht mehr scheuten, war er zu Hause geblieben. Wenn er doch einmal in die Firma musste, hatte er Carla und Luisa in der hauseigenen Cafeteria abgesetzt. Er war dann immer so voller Unruhe und Furcht, dass er sicher war, dass seine Mitarbeiter es rochen, so wie sie für jede Schwäche ihres Chefs sensibel waren. Er meinte dann, dass sich hinter ihrem Lächeln wenig Mitleid, aber schon die ersten Anzeichen von Genugtuung verbargen. Natürlich, früher oder später mussten auch sie sich anstecken lassen von diesem primitiven, unreflektierten Hass, der alles verbrennen wollte: das kapitalistische System und seine sogenannten Schergen. Sie würden vergessen, dass er alle altmodischen Klischees eines guten Chefs erfüllte, das Unternehmen durch Krisen gesteuert und in guten Zeiten Boni verteilt hatte. Auch eine

      Betriebsrente für alle Mitarbeiter ging auf sein Guthabenkonto. Und er arbeitete doppelt so viel wie sie und war immer der letzte im Büro. Den Schritt an die Börse hatte er vermieden, weil sein Vater ihn davor gewarnt hatte: „Dann gibst du es früher oder später aus der Hand. Wir vom Stamme Lenz sind und bleiben Herren im eigenen Haus."

      Er saß in der Küche am Laptop. Manchmal gelang es ihm noch, sich ganz in die Arbeit zu vertiefen. Hätte er ein Bewusstsein dafür gehabt, hätte er es als Gnade empfinden können, dass es noch Räume gab, Gedankenräume, in denen die Sorgen und die Angst keinen Platz hatten.

      Der Knall kam aus Richtung des Wintergartens. Er war so gewaltig, dass die Scheiben bebten. Und dann hörte er Luisa kreischen. Er rannte hinaus, in der Gewissheit, dass etwas Grauenvolles passiert sein musste. Dass sein Kind zerfetzt in einer Blutlache liegen würde.

      Die beiden standen unversehrt auf dem Rasen. „Luisa will Fußballspielen üben, und... tut mir leid, wenn es sie erschreckt hat, ich habe wohl einen guten Schuss, nur leider gegen die Scheibe.“ sagte Carla.

      „Verdammt,“ schrie er, „Verdammt, ins Haus, sofort.“

      Seine Worte trieben das Lachen aus Carlas gerötetem Gesicht. Luisa hüpfte ungeduldig um sie herum. Die beiden hatten eindeutig ihren Spaß gehabt. Carla entschuldigte sich, hob Luisa auf den Arm, wollte ins Haus, doch er entriss ihr das Kind und herrschte sie noch einmal an. „Machen sie uns einen Kaffee, und einen Kognak kann ich jetzt auch gebrauchen.“

      In ihm zitterte etwas, als hätte es wirklich eine Explosion gegeben und

      als hätten sich Glassplitter in sein Herz gebohrt.

      Er setzte Luisa in ihren Kinderstuhl. Sie wehrte sich und schlug mit der kleinen Hand nach ihm „böser Papa“. Er hatte ihr das schöne Spiel verdorben. Carla drehte ihm beleidigt den Rücken zu und tat so, als hätte sie etwas wichtiges an der Spüle zu tun.

      „Tut mir leid, dass ich sie angeschrien habe. Ich habe wirklich einen Schreck bekommen.“ Dass er gleich an einen Anschlag gedacht hatte, sagte er nicht.

      Der Anruf kam, als er noch schwächelte. Der Schreck ihm noch in den Gliedern saß und ihm der Weg zum Telefon vor kam, als ginge er auf brüchigem Eis. Es war Mayer-Wendhof. Ein Freund oder so etwas ähnliches. Der Kontakt ging meistens von Mayer-Wendhof aus. Er war knapp zehn Jahre älter als Lenz und spielte den großen Bruder, war neugierig, besorgt, wohlwollend. Er lud Lenz zu Gartenpartys und Golf ein. Wenn er ihn anderen Leuten vorstellte, legt er seinen Arm um Lenz und sagte „ein alter Freund.“

      Es war durchaus von Vorteil, jemanden zu kennen, der im Hamburger Senat saß und über Beziehungen verfügte. Lenz revanchierte sich in regelmäßigen Abständen mit Einladungen. Seitdem seine Frau gestorben war, nutzte er dies als Entschuldigung dafür, dass er den Kontakt schleifen ließ.

      „Mein Sohn ist verletzt.“ sagte Mayer-Wendhof, nicht „hallo wie geht’s, wollte mich mal wieder melden“ oder sonst eine Floskel, nur : mein Sohn ist verletzt. Seine Stimme klang gepresst, leise, als müsse er flüstern, als könne irgendein Feind mithören. Sie litten schon alle unter Verfolgungswahn. Und wenn es um die Kinder ging, ein Ball kracht gegen eine Glasscheibe, ein Sohn stürzt mit dem Fahrrad, dann wurden sie geradezu hysterisch.

      Mayer-Wendhofs Sohn war fünfzehn, das einzige Kind, der Thronerbe und Hoffnungsträger, der zwangsläufig die Erwartungen seines Vaters enttäuschen würde. Er war ein stiller, zarter Junge, zurückhaltend mit Äußerungen des Willens und der Kraft. Das wird schon, machte Mayer-Wendhof sich selbst Hoffnungen.

      „Diese Schweine, sie haben ihm zu viert aufgelauert, am frühen Abend, haben ihn vom Fahrrad gestoßen und bedroht.“

      „Ist es schlimm?“

      „Der Unterarm ist gebrochen. Schlimmer ist seine Angst. Schulkameraden, die eine Rechnung mit dir offen haben, so was kommt vor, habe ich gesagt. Aber er kennt die Schweine nicht. Und was sie ihm ins Gesicht gespuckt haben, war eindeutig. Kapitalistenbrut und so... er konnte sich nicht an alles erinnern, ist natürlich traumatisiert. Ich sage dir, das werden noch Zeiten wie zur Französischen Revolution. Oder wie unter Hitler. Damals die Adligen, dann die Juden und heute jeder, der es mit anständiger Arbeit zu Wohlstand gebracht hat. Sie werden uns wieder ein Zeichen aufbrennen, nicht den Stern, diesmal wird es das Dollarzeichen sein.“

      Lenz sprach sein Bedauern aus. Trösten oder beruhigen konnte er Mayer-Wendhof nicht. Die Bedrohung war real. „Und deine Frau?“ fragte er. Eine unsinnige Frage.

      Sie war eine kluge, im Gespräch anregende Person, aber nervös und sprunghaft in ihrem Wesen. Sie war hübsch und aus der Familie die sympathischste, fand Lenz.

      „Wir verschwinden hier. Sie hat jetzt eingewilligt. Es gibt da eine Organisation... deshalb rufe ich eigentlich an. Ich darf darüber nicht viel verlauten lassen. Sie bringen einen an einen sicheren Ort. Wo man neu anfangen kann. Gut, meinen Posten im Senat bin ich dann los, aber scheiß was drauf, entschuldige, aber wir haben genug Geld, könnten etwas neues aufbauen. Hast du was zu schreiben, ich gebe dir eine Telefonnummer, aber bitte sprech mit niemanden darüber, überlege es dir, auch dir wird bald der Boden unter den Füßen brennen. Dann ruf da an, alles wird organisiert. Und dann sehen wir uns vielleicht, hoffentlich wieder, im Paradies, haha, du bist ein Freund, deshalb habe ich gleich an dich gedacht, ich sag dir die Nummer, wir werden ja wohl noch nicht abgehört. Mein Gott, ich bin fertig. Hier die Nummer... du kannst meinen Namen als Referenz angeben, einfach sagen, du musst weg.“

      Sechs Tage später, als ein Haus in der unmittelbaren Nachbarschaft brannte und man die Fenster schließen musste, damit einem der Rauch nicht die Lunge verätzte, rief Lenz an. Dann ging alles rasend schnell. Die ganze Aktion verlief irgendwie lautlos, man nahm ihm alle Entscheidungen aus der Hand. Er bekam die Anweisungen nur per Telefon, jede Menge Verhaltensregeln, wurde zur Verschwiegenheit verpflichtet und Fragen wurden nur knapp beantwortet. Mit der Post bekam er Umzugskartons und eine Liste mit Gegenständen zugeschickt, die er mitnehmen durfte. Er musste sich verpflichten, eine bestimmte Summe, eine sehr große Summe, auf ein sogenanntes Aufbaukonto zu überweisen.

      Abends, wenn Carla nicht mehr im Haus war, packte er die Kartons und stapelte sie in seinem Schlafzimmer. Er war sich sicher, dass sie nie auch nur einen Blick in dieses Zimmer tat. Vorsichtshalber schloss er die Tür ab. Es fiel ihm schwer, eine Auswahl zu treffen. Kleidung packte er nur wenig ein, die konnte man überall kaufen. Lieber wollte er so viele kleine Gemälde und Bücher wie möglich retten. Manche waren schon seit Generationen im Familienbesitz, darunter befanden sich wertvolle Kostbarkeiten und an anderen hing sein Herz. Ein paar kleinere, alte Möbelstücke aus Familienbesitz galt es zu bewahren. Und natürlich Luisas Spielzeug, die Kuscheltiere, die immer aufgereiht