Caro Weidenhaus

Irrländer


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und Geschäfte mussten schließen. In den Krankenhäusern konnten nur noch die kritischen Fälle versorgt werden.

      Mary schleppte sich nach einer Notversorgung und einer Nacht auf dem Flur der Klinik nach Hause. Dort traf sie auf ihre Männer. Sie waren kurz nach Mary erkrankt. Jay Pop fieberte, Ryan konnte nichts essen, nur dem Kleinen ging es noch gut.

      Die Symptome waren die einer fiebrigen Magen-Darmgrippe in ihrer bösartigsten Form. Alle bekannten Krankheitserreger wurden allerdings von der Liste der Angreifer ausgeschlossen. Natürlich tauchten bald üble Gerüchte und Verschwörungstheorien auf. Angriff von feindlich gesonnen Mächten, ein mutierter Virus, eine biologische Waffe, die aus einem Labor entfleucht war. Die Phantasien bekamen ständig neue Nahrung. Die Angst griff um sich und wer es sich leisten konnte, flüchtete aus Irland. Es war weder der Nachbar Großbritannien oder ein anderes, europäisches Land von der „neuen Pest“ betroffen. Das führte auf eine erste Spur. Der Teufel musste seine Wiege im Lande haben und in den hier erzeugten Grundnahrungsmitteln oder im Trinkwasser stecken.

      Über alle Nachrichtensender wurde verbreitet, dass ein multiresistenter Keim das Trinkwasser des Landes kontaminiert hatte. Man hatte alle Quellen und unterirdischen Wasservorkommen untersucht und auch Tiefenbohrungen vorgenommen. Das Ergebnis sei verheerend. Irlands Wasser sei ungenießbar, wie lange, sei ungewiss. Weder war der Typ noch die Herkunft des Krankheitserreger bekannt, noch gäbe es ein Gegenmittel. Chemiker und Labors stürzten sich auf den Feind. Jeder wollte ihn entlarven und ihm seinen Namen geben. Aber man fand nicht mehr als die üblichen Belastungen und Verunreinigungen im Wasser. Ihre Analysemöglichkeiten waren natürlich nicht so ausgereift wie die der staatlichen Labors.

      Man kann ein Land mit über vier Millionen Einwohnern nur eine begrenzte Zeit mit Trinkwasser aus dem Ausland versorgen. Langfristig war dies keine Perspektive. Irland wurde zu einem unbewohnbaren Land erklärt. Hatten schon lange vorher Menschen aus wirtschaftlichen Gründen das Land verlassen, flohen sie jetzt aus Angst. Die Mehrheit wurde zwangsevakuiert. Etwa Zwanzigtausend Bewohner durften bleiben, nach welchen Kriterien diese ausgewählt wurden, blieb ein Rätsel. Man sagte ihnen eine langfristige Versorgung mit Wasser aus Schottland zu. Von heute auf morgen wurden die Grenzen dicht gemacht. Rund um die Insel zog man eine imaginäre Linie, die durch Militär und Marine lückenlos überwacht wurde. Eine vorübergehende Sicherheitsmaßnahme, um die verlassenen Häuser und Höfe vor Plünderungen zu schützen und etwa Unvernünftige daran zu hindern, zurückzukehren und sich wieder in Gefahr zu begeben. Nicht dem kleinsten Fischerboot sollte es gelingen, diese Grenze zu überfahren. Nur noch größere Versorgungsschiffe konnten die Häfen von Irland mit einer Sondergenehmigung anlaufen.

      Iren, die in Deutschland oder Portugal oder wohin auch immer es sie verschlagen hatte, doch nicht ihr Glück, geschweige denn ein zufriedenstellendes Auskommen gefunden hatte und irgendwann zurück in die Heimat wollten, oder andere, die einfach aus schierem Heimweh aufgaben, wurde die Rückkehr verwehrt. Denn sie waren keine Iren mehr. Viele hatten es nicht einmal bemerkt und wenn, in dem Glauben gehandelt, es jederzeit wieder rückgängig machen zu können. Bei der Einreise, in den Übergangslagern, hatten sie es irgendwann aufgegeben, jedes Papier, jeden Antrag, den es zu stellen galt, bis zur letzten Seite durchzulesen. Sie hatten mit ihrer Unterschrift die irische Staatsbürgerschaft abgelegt und damit jedes Recht aufgegeben, in Irland zu wohnen, Geschäfte zu machen oder sich nur für drei Wochen Urlaub auf Irlands grünen Wiesen zu tummeln. Auch das wurde ihnen verwehrt. Besitzer hatten ihr kleines Cottage auf dem Lande, ihren vier qm Bootssteg, ihren Laden, ihre Erbansprüche und was nicht noch alles verloren. Auf den ersten Blick großzügige Entschädigungen sollten ihnen den Start in ein neues Leben, in einem neuen Land, erleichtern. Betrogen waren sie alle. Das ganze spielte sich hastig, leise und erstaunlich unbürokratisch ab. Iren, die es später wagten, vor Gericht zu gehen, verloren ihr letztes Geld und ihren Glauben an eine Gerechtigkeit. Berichterstatter der Medien, die genauer hinschauten, recherchierten und lächerliche Verschwörungstheorien in die Welt setzten, wurden mit Drohungen und anderen Mitteln mundtot gemacht.

      Irland hatte seine Kinder nicht nur vor die Tür gesetzt, sondern sie auch um ihr Hab und Gut gebracht und ihrer Identität beraubt.

       5

      Der Tee war in der Tasse kalt geworden. Er nahm die Tasse vom Küchentisch und schüttete die Flüssigkeit in die Spüle. Er war müde, ein Kaffee würde ihn aufmuntern. Er schaltete die Kaffeemaschine an. Die Vorhänge waren zugezogen, um ihn vor Blicken zu schützen. Das Grundstück war durch Bäume und Büsche zur Elbchaussee und zu den Nachbarn abgeschirmt. Da musste der Feind schon in einen Baum klettern und ein Fernglas auf ihn richten. Der Feind... er hatte, wie in all den Tagen zuvor, Radio Hamburg eingeschaltet. Um nicht überrascht zu werden, um sich noch vorbereiten zu können.

      Die Kaffeemaschine blubberte, er schaltete sie aus und goss sich Kaffee ein. Setzte sich an den Küchentisch. Er hatte sich angewöhnt, in der Küche zu arbeiten. Der Tisch war groß genug, dass bequem ein Dutzend Leute daran speisen konnten. Jetzt stand auf ihm das Notebook, das Telefon und Stapel mit Papierkram.

      Sein privates Büro lag im oberen Stockwerk zur Straßenseite hin. Sein Schreibtisch stand vor dem Fenster, eine günstige Position, um alles im Blick zu haben. Man überblickte den Weg zum Haus, das Tor und einen kleinen Ausschnitt der Straße dahinter. Er hatte sich dabei ertappt, dass er sich kaum auf seine Arbeit konzentrieren konnte, weil sein Blick immer zum Fenster hinausging. Weil er nach verdächtigen Gestalten oder Anzeichen von Rauch forschte. Ihm war, als würde er da oben immer kleiner und ängstlicher. Als hätte der imaginäre Feind da draußen ihn

      physisch zwar noch nicht angetastet, aber schon längst Macht über seine ängstliche Seele bekommen. Da wurde er so wütend, dass er seinen Kram nahm und in die Küche umzog.

      „Ich arbeite jetzt hier unten, um in Luisas Nähe zu sein.“ hatte er Carla erklärt.

      Sie stand an der Spüle, hatte Luisa unter den Arm geklemmt und wusch ihr die Hände unter dem Wasserhahn ab. Carla stellte keine Frage, nickte verstehend, als ahne sie den wahren Grund seines Umzugs.

      „Lassen sie sich nur nicht stören, im Gegenteil, etwas Gesellschaft wird mir gut tun. Und ihnen beim Kochen zuzusehen, da kann ich bestimmt etwas lernen." sagte er. Als hätte er schon jemals in seinem Leben den Kochlöffel geschwungen.

      Als seine Frau vor gut zwei Jahren gestorben war, hatte er Carla für die Betreuung des Kindes eingestellt. Seine Wahl war auf sie gefallen, weil sie jung war und er vermutete, dass sie der Kindheit mit all ihren Ansprüchen noch näher stand. Sie hatte noch Kinderaugen. Die anderen Bewerberinnen waren viel älter und wahrscheinlich erfahrener gewesen. Aber von Carla konnte er sich am ehesten vorstellen, dass sie dem Kind so etwas wie eine Freundin und gleichzeitig Mutterersatz sein würde. Wenn es denn überhaupt einen Ersatz geben konnte. Auf den ersten Blick war ihre Aufmachung etwas irritierend. In dem blonden, kurzgeschnittenen Haar leuchtete eine lange, orange Strähne. Wenn Carla lief, wippte die Strähne wie ein lustiger Wimpel. Auf dem linken Nasenflügel glitzerte ein wahrscheinlich nicht echter Stein. Er musste sich beherrschen, um nicht die zierliche Nase anzustarren. Als er merkte, dass sie mehr Fragen an ihn, als es umgekehrt angemessen gewesen wäre, stellte, war seine Entscheidung gefallen. Menschen, die sich gründlich informierten und eine Sache nicht unwissend angingen, waren ihm sympathisch. Die junge Frau hatte das Kind auf ihren Schoß genommen, wandte sich ihm immer wider zu und brachte es zum Lachen. Das schien ihm wichtig zu sein, denn ihm war das Lachen abhanden gekommen. Er hatte vom Tod seiner Frau erzählt und wie die kleine Luisa noch lange nach ihrer Mama gejammert hatte. Als er bemerkte, wie sich Carlas Augen mit Tränen füllten, war er so gerührt, dass er sich abwenden musste.

      Er hatte die Wahl keinen Tag bereut und sie, nahm er an, ebenfalls nicht. Er bezahlte sie gut, sie hatte geregelte Arbeitszeiten, anscheinend noch Zeit für ihr Studium, am Wochenende frei und die Putzarbeiten erledigte eine Reinigungskraft.

      Seitdem er zu Hause arbeitete, nahm er ihr das Kind oft ab, spielte mit ihm im Garten, badete es und übernahm die Zubettgehzeremonie.

      Zu Hause arbeitete er seit drei, vier Monaten. Seitdem die Brände auch seinen Stadtteil, eine der besten Adressen Hamburgs, erreicht hatten. Seitdem vermummte Gestalten laut