Caro Weidenhaus

Irrländer


Скачать книгу

darauf bestehen und sich nicht abwimmeln lassen. Der Flur war leer, umso besser. Als sie kurz vor Mitternacht ihre Tür einen Spalt geöffnet und auf den Flur geschaut hatte, lungerte noch der Sicherheitsbeamte vor Collins Tür herum.

      Sie klopfte, wartete, noch einmal lauter. Nichts. Entweder wollte oder durfte er nicht öffnen. Vielleicht war er auch schon unten beim Frühstück und die ganze Angelegenheit hatte sich zurecht gerückt. Im Restaurant war er nicht. Sie erkundigte sich an der Rezeption nach ihm. Die Angestellte suchte bereitwillig im Computer, lächelte und fragte, ob es denn wichtig sei.

      „Ich will nur wissen, ob es ihm besser geht.“

      Die Frau telefonierte, lauschte und nickte ein paar mal. Sie las laut den Namen vom Schild auf Dr. Malloys Brust ab und fragte: „Ist es wichtig?“

      „Reine Höflichkeit. Ich will wissen, wie es ihm geht. Gestern ja nicht so gut.“

      „Er ist in der Krankenstation. Aber es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Eine Magenverstimmung.“ Nein, Besuche seien nicht möglich, wegen der Ansteckungsgefahr, man wisse ja, wie schnell sich so ein Virus verbreite.

      Dr. Malloy glaubte kein Wort. Man hatte Collins einfach aus dem Verkehr gezogen.

      4

      Dr. Malloy stand am offenen Fenster und und sah einem beeindruckenden Sonnenuntergang zu. Am Himmel brachen dünne Wolkenschlieren das Licht in zarten Orange- und Rosatönen. Jetzt lag noch ein letzter Farbschleier über dem Horizont. Ein wunderschöner Abschluss für den Gipfel. Lichter blitzten zwischen den Bäumen des Parks. Die Tagungsräume waren noch hell erleuchtet. Der interne Kreis blieb anscheinend noch bis in die Nacht hinein zusammen. Das Fußvolk, die Wissenschaftler, Fachleute und Dolmetscher hatte man mit einem Buffet, reichlich Alkohol und dankenden Worten verabschiedet.

      Sie sehnte sich nach einer Zigarette, scheute sich aber, schon wieder im Zimmer zu rauchen. Überall hingen diese Tafeln mit rot gebrandmarkten Zigaretten darauf. Sie wollte auch nicht wieder am offenen Fenster rauchen. Ein Nachbar hatte sich beschwert, dass der Gestank zu ihm herübergezogen sei. Jetzt fühlte sie neben dem Verlangen noch einen zunehmenden Druck hinter der Stirn, ein erstes Anzeichen für Kopfschmerzen. An Schlafen war nicht zu denken. Sie schaute auf die Uhr, es war halb elf. Um Punkt elf wurde die Hoteltür verschlossen, aus Sicherheitsgründen. Dann hatten die Gäste im Haus zu sein. Bis dahin würde sie noch zwei Zigaretten schaffen. Sie nahm ihre Umhängetasche vom Bett und schaute nach, ob noch genug Tabak in dem Päckchen war. In dem Tabakgekrümel, zwischen Papiertaschentüchern, ihrer Geldbörse und losen Zetteln fand sie die Blättchen und das Feuerzeug. Sie sollte ihre Tasche dringend mal ausmisten. Sie stopfte alles wieder hinein und hängte sich die Tasche um.

      Sie schien die einzige zu sein, die sich erleichtert zurückgezogen hatte. Die übrigen Teilnehmer waren in Feierlaune und drängten sich an der Bar. Oder man trennte sich schwer, war sich in den letzten Tagen nahe gekommen. Sie hatte kein Interesse an solchen Kontakten. Kurz dachte sie an Collins. Er war nicht wieder aufgetaucht. Blieb verschwunden, weggeschlossen. Ob er jetzt in seinem Bett auf der Krankenstation lag, erleichtert, dass er morgen abreisen durfte? Oder noch immer voller Sorge und Angst, gepeinigt von paranoiden Phantasien? Oder hatte man ihn ruhiggestellt? Hatte dunkle Pläne für ihn, der den Mund nicht halten und womöglich finstere Machenschaften aufdecken konnte, ausgeheckt?

      Damit niemand etwa draußen verloren ging und nicht wiedergefunden wurde, musste man bei Verlassen oder Betreten des Hotels seine Zimmerkarte durch ein Lesegerät ziehen. Dann öffnete sich die Tür. Drei sich laut unterhaltende Männer traten gerade durch die Eingangstür. Sie nutzte die Gelegenheit und drängte sich an ihnen vorbei nach draußen. Sie hatte keine Lust, sich wie eine Schülerin abzumelden. Wenn man tagelang diese totale Kontrolle ertrug, machte es geradezu Spaß, dem System ein Schnippchen zu schlagen, auch wenn dieses lächerlich harmlos war.

      Sie überquerte eine Rasenfläche und setzte sich am Rande des kleinen Parks auf eine Bank. Hier war es wohltuend still. Die Luft war noch angenehm warm. Schlagartig war es dunkel geworden. Sie drehte sich eine

      Zigarette, das konnte sie ohne hinzusehen. Sie atmete tief durch, soweit das gelang, wenn man gleichzeitig gierig den Rauch in die Lunge zog. Die Bank war bequem, sie lehnte sich an und legte den Kopf in den Nacken. Über ihr tauchten erste Sterne auf. Sie suchte nach bekannten Tierbildern und fand, dass ein sehr heller Stern die Venus sein musste. Überzeugt war sie nicht, dafür kannte sie sich am Himmel zu wenig aus. Sie zog noch einmal an dem Zigarettenstummel und trat ihn dann aus. In ihr breitete sich eine tiefe Zufriedenheit aus. Sie hatte kein Interesse mehr an dunklen Theorien. Sie hatte ihre Aufgabe bewältigt und sie wusste, dass sie eine sehr gute Arbeit geleistet hatte. Morgen würde sie nach Hause fahren. Ihr und das Leben der anderen würde in seinen normalen Abläufen weitergehen. Nichts spektakuläres würde geschehen, keine Verschwörung sich bestätigen.

      Die Menschen waren schon merkwürdig, während die einen mit einem blinden Glauben ihren Politikern, ihrer Partei anhingen, den Versprechungen keine Erfahrung, kein besseres Wissen entgegen zu setzen hatten und alle paar Jahre ihr Kreuzchen machten, in dem fast kindlichen Vertrauen, dass ihr Mann, ihre Frau es schon richten würde, jagten andere jeder Verschwörungstheorie nach. Sahen hinter jedem Attentat ein großes Komplott der Geheimdienste. Und dann die Weltuntergangshysteriker, denen eine Jahrtausendwende, die nur durch eine willkürliche Zeitrechnung festgelegt war, reichte, um die größten Katastrophen vorher zu ahnen.

      Sie verbannte diese Gedanken aus ihrem Gehirn und überließ sich einem trägen dahindämmern. Müde schloss sie die Augen. Nur einen Moment, dann würde sie brav zurück in die Obhut ihrer anonymen Wächter gehen. Sie nickte ein.

      Dann traf sie die Ohrfeige. Sie hielt in der ersten Verwirrung den Schlag für eine Ohrfeige. Eine gewaltige Luftwelle traf ihren Körper, warf die Bank um und fegte sie zu Boden. Sie wurde in einen Busch geschleudert. Die Erde bebte. Instinktiv klammerte sie sich an den Zweigen fest. Dann schlug ihr ein Geräusch in die Ohren, dass klang, als würde die Erde mit einem einzigen Aufschrei bersten. Eine Explosion, Schreie und ihr eigener Schrei. Eine nächste Druckwelle raste durch den Park. Ein heißes, fauchendes Ausatmen. Alles ging langsamer. Ihre Bewegungen verliefen in Zeitlupe und ihr Denken wurde kalt. Sie griff sich ins Haar. Es war noch da. Sie zog sich hoch, befreite sich aus der Umklammerung der Äste und drehte sich um.

      Die Explosion war aus Richtung ihres Hotels gekommen. Flammen schossen aus der rechten Dachseite, Fenster zerbarsten und Glasscherben schossen in den Himmel. Feuerzungen zischten aus Fensterhöhlen. Gegenstände flogen wie brennende Vögel wild herum, erloschen und flatterten wie schwarze Motten zu Boden. Menschen schrien.

      Dr. Malloy spürte, wie nach dem Schock, der ersten Betäubung, die Angst in ihre Adern schoss und den starken Drang zu fliehen auslöste. Ein gleich starker Impuls befahl, das zu tun, wofür sie ausgebildet war. Kaltblütig zu handeln, wenn Menschen in der Katastrophe Schutz und Planung benötigten. Während sie selbst wie eine Flamme zitterte, kämpfte ihr Gehirn schon wieder um die Herrschaft. Verdammt dachte sie, ein Schreck und der Mensch wird wieder zum Neandertaler. Impulse. Instinkte. Klares, kühles Denken weg. Ich werde da jetzt hingehen, befahl sie sich.

      Sie zwang ihre Füße auf das brennende Hotel zuzugehen. Dann gab es die nächste Explosion. Und dann noch eine dritte. Sie wurde wieder zu Boden geschleudert. Der Himmel wurde jetzt von größeren glühenden Geschossen zerfetzt. Steine und andere scharfkantige Gegenstände prasselten herab. Etwas brannten sich durch ihre Hosenbeine. Sie presste die Arme vor das Gesicht. Sie wagte sich nicht zu rühren, auch nicht, als anscheinend das Schlimmste vorbei war. Sie hörte keine Schreie mehr, nur das Prasseln der Flammen und ab und zu kurze Knallgeräusche wie von kleineren Explosionen. Dann die Sirenen der herbei rasenden Feuerwehrautos und Polizeiwagen.

      Ein Blick auf das Hotel genügte. Da war keinem Menschen mehr zu helfen.

      Sie dachte an Collins. Und gehorchte seiner oder der eigenen, inneren Stimme. Als würde er ihr noch einmal zu flüstern - machen sie, dass sie hier weg kommen-.

      Sie drängte sich durch die Autos, Gerätschaften und Menschengruppen auf das jetzt weit offene Tor zu. Der Rauch war dicht und beißend. Augen tränten und an den Gesichtern