Caro Weidenhaus

Irrländer


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      Sie rannte von dem Feuerschein weg auf die blassen Lichter Dublins zu. Sie lief durch Straßen, in denen Menschen im Nachtzeug vor den Haustüren standen und fassungslos zum Hotelkomplex hoch starrten, der wie ein glühender Schmelzofen leuchtete. Niemand achtete auf sie oder sprach sie an. Auch wenn sie die einzige schien, die in die falsche Richtung lief. Die anderen machten zögernde, gebannte Schritte in Richtung Feuer. Vorsichtig, nicht zu nahe. Man wollte nur sehen und begreifen, was da geschah.

      Im St. Stephens Green Park wurde sie ruhiger, ging langsamer. Kein anderes Lebewesen war zu sehen, außer ein paar Enten am Seeufer, die verstört mit den Flügeln schlugen. Sie musste quer durch den Park , ein paar Straßen dahinter lag ihre Wohnung. Die Kraft, die ihr die Panik verliehen hatte, war plötzlich, auf einen Schlag erschöpft. Die Knochen in ihren Beinen schienen sich aufzulösen und sie musste sich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle niederzusinken. Ein paar mal begegneten ihr andere Wesen, nur gespenstische Schatten, denen sie instinktiv auswich. Sie schleppt sich zu einer kleinen Brücke und kroch daneben in ein Gebüsch. Manchmal nickte sie kurz ein und tauchte in dunkle Träume, in denen Feuerzungen wirbelten und Collins zwischen ihnen einen absurden Tanz aufführte.

      Als sie fror, lief sie, um wieder warm zu werden, ziellos die Wege des Parks ab. Oben, über der Stadt auf dem Hügel lag eine Rauchwolke. Es war sehr still, keine Schreie, kein Sirenengeheul mehr.

      Es war so früh, das nicht einmal ein Jogger unterwegs war. In einem Brunnenbecken wusch sie sich das Gesicht. Ihre Kleidung war verschmutzt und roch beißend nach Rauch und Angstschweiß. Sie wollte nach Hause, sich in ihrer Wohnung verkriechen, stundenlang duschen, sich den Ruß und den Gestank von der Haut spülen und die Ohren so lange unter Wasser halten, bis sie die Schreie nicht mehr hörte.

      Sie schöpfte mit der hohlen Hand etwas Wasser und trank es. Es schmeckte frisch, gab Kraft. Als würde es die Wunden, die das feurige Element in ihre Seele gebrannt hatte, abkühlen. Sie setzte sich auf den Beckenrand, bewegte die Arme im Wasser und dachte nach. Keine panischen Reflexhandlungen mehr, kühles Denken war jetzt angesagt. Der natürliche Impuls hätte sein müssen, durch die Straßen zu rennen und laut zu rufen, seht her, ich lebe noch, mich gibt es noch. Alle Freunde anrufen und beruhigen. Obwohl, offiziell war sie auf Reisen, ihre Teilnahme unterlag der Geheimhaltung, also würde auch keiner der Freunde sie mit dem Unglück in Verbindung bringen.

      Eigentlich gibt es mich nicht mehr, eigentlich bin ich wie alle anderen im Hotel verbrannt oder von der Explosion in Stücke gerissen. Ich bin tot. Kann mich tot stellen, abwarten, in Ruhe über Ursachen und Konsequenzen spekulieren, die nächsten Schritte planen. Und das besser an einem Ort, wo mich niemand kennt oder findet. Eine misstrauische warnende Stimme riet ihr, erst einmal unterzutauchen.

      In einem billigen Laden kaufte sie sich eine Hose und ein T-Shirt und zog die Sachen in der Umkleidekabine gleich an. Die Verkäuferin musterte sie neugierig.

      Gottseidank hatte sie ihre Umhängetasche aus dem Hotel mitgenommen und in dem Chaos nicht verloren. Erstaunlicherweise hatte sie Hunger. Nach einer Viertelstunde Fußweg fand sie ein kleines Café in einem ärmlichen Stadtteil. Hoffte, dass sie hier auf niemanden bekannten treffen würde. Sie bestellte sich ein kleines Frühstück. Sie aß unaufmerksam, schmeckte kaum etwas. Ihre Gedanken rotierten. Noch gestern hatte sie sich über Paranoia und Verschwörungsängste lustig gemacht. Heute war sie überzeugt, dass Collins Angst begründet war. Es konnte kein Zufall sein, dass ausgerechnet der Hotelblock ausradiert wurde, in dem die Mitwisser untergebracht waren. Die, die nur bei der Ausarbeitung, bei der Vorbereitung von Wichtigkeit waren, die man problemlos ersetzen konnte. Auch sie war ersetzbar. Und sie war verdächtig durch ihren Kontakt zu Collins. Und womöglich auch in Lebensgefahr, würde sie ihr Überleben bekannt machen.

      Sie verfügte über gut zweihundert Euro Bargeld. Sie machte sich auf die Suche nach einem Geldautomaten, fand ihn ein paar Straßen weiter und hob ihr gesamtes Guthaben vom Konto ab. Vielleicht war das ein Fehler. Bis jetzt würde alle Welt glauben, dass auch sie in den Flammen umgekommen war. Aber man würde kaum alle Konten prüfen. Und mit zweihundert Euro würde sie nicht weit kommen. Und sie wollte so weit wie möglich weg.

      In einem Laden kaufte sie etwas zu Essen ein, ein Weißbrot, Käse, eine Gurke, eine Flasche Wein und einen großen Tabakvorrat. In einer Apotheke kaufte sie eine Tube Heilsalbe und Pflaster. Und dann noch eine kleine Reisetasche und ein paar billige Sachen zum wechseln. Sie wollte sich so wenig wie möglich in den Straßen zeigen. Sich in einem Hotel verkriechen,

      bis sie einen Plan hatte. Sie suchte sich eine kleine, billige Pension, trug sich mit einem falschen Namen ein, einen Pass wollte man nicht sehen. Sie bezahlte für zwei Nächte im voraus.

      Die Frau hinter dem Empfangstresen redete aufgeregt auf sie ein. Ist das nicht schrecklich, dieser Anschlag, und nicht die Politiker, wieder mal das Fußvolk, wer macht so was, und sie sehen aus, als wären sie in der Nähe gewesen und hätten auch etwas abbekommen. Sie stach mit einem nikotingelben Finger in Richtung Dr. Malloys Stirn.

      „Ein dummer Unfall.“ murmelte diese, lächelte und sagte „Ich könnte einen Kaffee gebrauchen und eine Zigarette.“

      Die Frau reichte ihr einen Schlüssel. „Den Kaffee bringe ich hoch.“ sagte sie.

      Das Zimmer war nicht anders als erwartet einfach und mit abgenutzten Möbeln eingerichtet, dafür billig und abgelegen. Im Badspiegel prüfte sie die Verletzungen in ihrem Gesicht. Ihre Stirn brannte höllisch. Kleine, schwarze Partikel hatten sich in die Haut gebohrt. Und am rechten Bein klaffte ein blutiger Riss. Sie duschte und versorgte das Bein mit Wundsalbe und Pflaster. Dann öffnete sie die Weinflasche, die glücklicherweise einen Schraubverschluss hatte. Sie trank gierig direkt aus der Flasche, drehte sich eine Zigarette, öffnete das Fenster und rauchte. Im Zimmer roch es schon nach altem Rauch. Es klopfte an der Tür, sie erschrak. Es war die Wirtin mit dem Kaffee.

      Den Rest des Tages lag sie auf dem Bett, setzte sich nur manchmal auf, um zu rauchen oder Wein zu trinken. Hunger hatte sie nicht.

      Durch das offene Fenster zog Brandgeruch herein. Draußen bebte der Himmel wie in einem Krieg. Hubschrauber zogen ohne Pause Kreise über der Stadt. Unter ihr dunkles Knattern mischte sich das grelle Heulen von Sirenen. Durch die Straßen wälzten sich Autoschlangen, als führe alle Welt zum Katastrophenort. Angehörige, Schaulustige. Am nächsten Morgen sah sie sich die Nachrichten im Fernsehen an. Ein Journalist berichtete, dass, bevor noch der Rauch verzogen war, schon viele Menschen Blumen vor den Sicherheitszäunen niederlegten, Gläubige für die Opfer beteten, Priester spontane kurze Gottesdienste abhielten und Politiker herbeieilten, um unter dem Blitzlichtfeuer der Journalisten ihre Betroffenheit zu demonstrieren. Menschen weinten fassungslos, als sie vor den rauchenden Trümmern standen. Dazu wurden Bilder in hektischer Folge gezeigt. Man brachte eine Großaufnahme vom belgischen Außenminister. Tränen liefen über sein Gesicht. Als eine Journalistin ihn um ein paar Worte bat, schüttelte er den Kopf. „Ich kann jetzt nichts sagen, zwei enge, vertraute Mitarbeiter liegen unter diesen Trümmern.“

      Man schätzte mehr als vierzig Tote. Noch nicht alle waren geborgen und nur wenige konnten bis jetzt identifiziert werden. Das unversehrte Hauptgebäude hatte man in kürzester Zeit geräumt. Die Politiker aus Sicherheitsgründen ausgeflogen. Ein weiteres Attentat war nicht auszuschließen, wenn die Täter sich im Gebäude geirrt und der Anschlag den Politikern gegolten hatte.

      Aber wer konnte das schon glauben. Nur wer blind und dumm war, konnte das alte, viel kleinere Hotelgebäude mit dem riesigen Prachtbau, dem Hauptgebäude, verwechseln.

      Vier Tage nach dem Ereignis traf Dr. Malloy in Hamburg ein. Die Reise war problemlos verlaufen. In der ersten Zeit fand sie Unterschlupf bei einem Professor, mit dem sie jahrelang übers Internet korrespondiert hatte und der sie schon mehrmals zu einem Besuch eingeladen hatte. Der an Fachsimpeleien interessiert war und sonst keine Fragen stellte.

      Ungefähr zeitgleich zum Terroranschlag hatte die „Neu Pest“ eine verheerende Größenordnung angenommen. Aus Irland war ein einziges großes Krankenlager geworden und die Zahl der Opfer stieg von Stunde zu Stunde. Es gab Todesfälle, meist waren es aber durch andere Erkrankungen schon geschwächte Menschen, Alte und Säuglinge.

      Die Infrastruktur