Leylen Nyel

Quondam ... Der magische Schild


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erkannte er nicht, dass er sich bereits mitten in dem Albtraum befand, vor dem er sich und seine Tochter bewahren wollte.

      Thore ging dank seiner List bei Peer ungehindert ein und aus. Freudig hatte der alte Mann jedem in Trendhoak erzählt, dass sein bester Freund Timo in die Nähe des Dorfes gezogen sei, um ihn öfter besuchen zu können. Die Dorfbewohner hatten gewusst, dass sich Linellas Vater irrte und wer der häufige Besucher in Wirklichkeit war. Auch der Zweck seiner Besuche war allgemein bekannt. Doch aus Furcht vor dem großen Gott hatte es niemand gewagt, dem Mädchen und ihrem Vater zu Hilfe zu eilen. Nur Lars, der Schmiedegeselle, hatte einmal das Gespräch mit Peer gesucht. Noch auf dem Weg zu dessen Haus war ihm Thore in den Weg getreten. Als wären sie die dicksten Freunde, hatte der große Gott dem jungen Mann seinen Arm um die breiten Schultern gelegt und ihn so gezwungen, mit ihm zu gehen. In freundlichem Plauderton hatte er sich nach Gwyn, der Braut von Lars, erkundigt und ihre Schönheit gelobt. Dabei hatten seine Augen drohend gefunkelt, als er den Schmiedegesellen aufgefordert hatte, ihn anzusehen. Lars hatte die Bedeutung von Thores Worten durchaus richtig verstanden und war unverrichteter Dinge wieder nach Hause gegangen. Gwyn sollte nicht ihre Unschuld an Thore verlieren, nur weil er helfen wollte, wo nicht zu helfen war.

      „Der arme Peer“ hatten sich die Leute mitleidig zugeraunt. „Ihn wird der Schlag treffen, wenn er erfährt, dass Thore seine Tochter verführt hat.“ Doch noch war Peer vollkommen arglos gewesen. Er war sogar so weit gegangen, Linella zu bitten, doch zu seinem Freund nicht immer so abweisend zu sein. In seiner Ahnungslosigkeit hatte er überdies gestattet, dass Thore seine Tochter bis zur Tür ihrer Schlafkammer begleiten durfte. Galant und mit immer neuen Komplimenten über ihr Aussehen, ihr Essen, ihren Fleiß und die Freude, die sie ihrem Vater bereiten würde, hatte er sich jedes Mal von ihr vor der Tür verabschiedet. Rasch war sie immer in ihrer Kammer verschwunden, froh, dass sie wenigstens hier von seinen Nachstellungen verschont zu bleiben schien. Denn bei allem, was sie getan hatte, war sie von dem großen Gott beobachtet worden. Manchmal hatte er sich nur einen Moment gezeigt, manchmal leistete er ihr über längere Zeit bei ihren täglichen Handgriffen Gesellschaft und unterhielt sie mit allerlei Geschichten. Doch trotz aller Bemühungen war er keinen Schritt weitergekommen. Im Gegenteil! Linella hatte bei ihren Arbeiten zunehmend die Nähe der anderen Frauen des Dorfes gesucht, um zu vermeiden, dass er sie allein treffen konnte.

      So war sie auch an diesem schwülen Sommertag in Begleitung von etwa zehn Frauen an den Fluss gegangen, um Wäsche zu waschen, wie Thore verärgert feststellte. Die Frauen wurden von ihren Kindern begleitet, die sich die Zeit mit Spielen vertrieben, während ihre Mütter schwatzend und tratschend die schmutzigen Hemden und Hosen wieder und wieder auf die an dem Waschplatz vorhandenen großen Steine schlugen, damit sie sauber würden. Es hatte vor einiger Zeit etwas flussaufwärts ein heftiges Sommerunwetter gegeben. Innerhalb weniger Stunden war so viel Regen niedergegangen wie sonst in einem ganzen Monat. So hatte sich der sonst ruhig an Trendhoak vorbeifließende Fluss in einen reißenden Strom verwandelt. Dunkelbraun von der in das Wasser gespülten Erde schoss er an den Frauen vorbei, die bald eingesehen hatten, dass sie mit dem Wäschewaschen warten mussten, bis das Hochwasser vorüber war. Die Frauen hatten ihre Kinder gerufen und wollten sich bereits auf den Rückweg ins Dorf machen, als plötzlich Tilda, eine der Frauen, anfing zu schreien. „Amira! Amira, wo bist du?“ Keine Antwort. Alle Kinder waren da, nur Tildas fünfjährige Tochter Amira war nicht zu finden. Sofort riefen auch alle anderen Frauen nach dem Mädchen. Linella sah plötzlich inmitten der tosenden Wassermassen einen dicken Ast schwimmen und einen kleinen Arm, der sich krampfhaft daran festhielt. Doch der Ast hatte sich gedreht und der kleine Arm war in dem braunen gurgelnden Fluss verschwunden. Ohne nachzudenken war Linella in das Wasser gesprungen und hinter dem Ast hergeschwommen. Sie gehörte zu den wenigen in Trendhoak, die schwimmen konnte. Ja, sie war sogar die einzige Frau, die das konnte. Sie hatte es sich selbst beigebracht. Doch das Hochwasser war nicht zu vergleichen mit dem ruhigen Wasser, das sie sonst gewöhnt war. Das bekam sie sehr schnell zu spüren. Sie wurde von der starken Strömung sofort erfasst und hatte mehr damit zu tun, selbst nicht zu ertrinken, als mit gezielten Schwimmstößen zu dem Ast zu gelangen. Ihr Kleid hatte sich mit dem Wasser vollgesogen und erschwerte ihr zusätzlich das Schwimmen. Aber sie wollte nicht aufgeben und ließ sich mit der Strömung treiben, die sie sehr schnell mit sich fortgetragen hatte. Die Stimmen, der rufenden Frauen am Ufer wurden immer leiser und Linella hörte bald nur noch das Tosen der braunen Wellen um sie herum. Hilflos hatte sie sich umgesehen. Da war sie plötzlich gegen etwas Festes kurz unter der Wasseroberfläche getrieben worden. Blitzschnell hatte sie unter sich gegriffen und tatsächlich hielt sie den leblosen Arm Amiras in den Händen. Mit einiger Mühe gelang es ihr, den Kopf des Mädchens aus dem Wasser zu heben. Es atmete nicht und hatte die Augen geschlossen. Immer weiter hatte sie die Strömung getrieben. Entsetzt hatte Linella gesehen, dass sie sich dabei immer mehr zur Flussmitte hin bewegte. In einem Arm hielt sie das Kind, mit dem anderen paddelte sie verzweifelt, um doch noch das rettende Ufer zu erreichen. Doch der Fluss hatte sie und das Kind nicht wieder hergeben wollen. Langsam hatte Linella gespürt, wie sie ihre Kräfte verließen. Ihr nasses Kleid hatte sie immer weiter nach unten gezogen und der Rock hatte sich im Sog der Strömung so um ihre Beine gewickelt, dass sie sie fast nicht mehr bewegen konnte.

      Da spürte sie, wie sich eine starke Hand um ihren Knöchel legte und sie zum Grund des Flusses zog. Mit einem letzten verzweifelten Schrei hatte sie versucht, sich zu befreien, dann schlug das nasse Braun über ihr und Amira, die sie immer noch krampfhaft im Arm hielt, zusammen. Fast zufrieden hatte sie sich immer weiter unter das Wasser ziehen lassen. Sie hatte alles versucht, das Leben des kleinen Mädchens zu retten, nun würde sie also mit ihm zusammen in das nasse Grab gehen. Ein letzter Rest ihres Überlebenswillens ließ sie die Luft anhalten, doch sie wusste, es trennten sie nur Augenblicke vor dem Ertrinken. Wie erstaunt war sie, als sie plötzlich wieder Luft bekam, obwohl sie sich auf dem Grund des Flusses befand. Plötzlich konnte sie festen Boden unter den Füßen spüren. Vor ihr stand Thore in einer Luftglocke und sah sie ernst an. „Das hätte böse enden können!“, hatte er sie getadelt. Linella hatte ihn sprachlos angestarrt. Leise gurgelnd floss das Wasser in einem Bogen um sie und den großen Gott herum. Sie hatte in nassen Kleidern vor ihm gestanden und Amira, die sie immer noch im Arm trug, war das Wasser aus ihren dunklen Zöpfen getropft, während Thore vollkommen trocken war. Nicht einmal an seiner Hand, mit der er nach ihr gegriffen und sie in diese magische Glocke gezogen hatte, waren Wassertropfen zu sehen. Als Linella erkannte, dass Thore ihr das Leben gerettet hatte, wurden ihr die Knie weich. Doch bevor sie zu Boden stürzen konnte, hatte er sie aufgefangen und wohlbehalten ans Ufer getragen. Sanft hatte er sie auf dem weichen Gras abgesetzt und seine große Hand Amira über das Gesicht gelegt. Kurz darauf hatte das Kind tief Luft geholt, angefangen zu husten und die Augen geöffnet. Linella waren vor Freude und Erleichterung Tränen über die Wangen gelaufen. Da sie ihre tiefe Dankbarkeit nicht in Worte hatte fassen können, hatte sie dem großen Gott die Hand geküsst. „Ich habe das nur für dich getan!“, hatte er gesagt und ihr tief in die Augen gesehen. „Du sagst zu niemandem ein Wort!“, hatte er sie noch angewiesen und war verschwunden, da sich die aufgeregten Stimmen der anderen Frauen genähert hatten, die das Ufer nach Linella und Amira abgesucht hatten.

      Von da an hatte sie ihr Verhalten ihm gegenüber geändert. Sie zeigte sich nicht mehr ganz so abweisend und war nicht mehr so erschrocken zusammengezuckt, wenn er plötzlich in ihrer Nähe aufgetaucht war. Sie hatte nicht mehr so einsilbig geantwortet und sich auf Gespräche mit dem großen Gott eingelassen. Mit der Zeit war es ihm sogar gelungen, sie gelegentlich zum Lachen zu bringen. Da hatte er gewusst, dass er auf dem richtigen Weg war. Langsam hatte er die Schlinge zugezogen. Den letzten Angriff auf ihr Herz hatte er mit einem für sie überraschenden Zug gestartet. Er entzog sich ihr. Den ganzen Sommer über war er tagtäglich bei ihr oder ihrem Vater gewesen. Nun hatte er sich seit Tagen nicht mehr sehen lassen. Er hatte sie zwar immer noch beobachtet, aber er zeigte sich ihr nicht mehr. Stattdessen hatte er ihr betörende Träume geschickt, aus denen sie schweißgebadet mit laut pochendem Herzen erwachte. Deutlich hatte er ihre zunehmende Verwirrung darüber gespürt, dass sie ihn vermisste. Sie hatte angefangen, mit den Augen nach ihm zu suchen. Da hatte er beschlossen, diesem Spiel ein Ende zu setzten und sich seinen wohlverdienten Lohn zu holen. Als sie an diesem kühlen Herbstabend ihre Schlafkammer betrat, hatte sie eine außergewöhnliche große violette Blume auf ihrem Kissen gefunden, die ihren süßen Duft in dem ganzen Raum verbreitet hatte. Die rosettenförmigen