Leylen Nyel

Quondam ... Der magische Schild


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konnte er jemanden auf der Pritsche liegen sehen. Mit der Berührung seiner Hand brachte er eine Wand zum Leuchten. Das Licht war gerade hell genug, dass er Einulf als den Schläfer erkannte. Wütend trat Thore gegen die Pritsche. „Wo ist der Junge?“, knurrte er wütend. Erschrocken sprang Einulf beim Klang der Stimme seines Herrn auf. „Er ist bei dem Fohlen, Herr!“, antwortete er und verneigte sich vorschriftsmäßig. „Welchem Fohlen?“ „Dorinas Fohlen, Herr.“ „Das lebt noch?“, fragte Thore zweifelnd. „Ja, Herr!“ Dorina war Diomeds Mutter. Eine Stute hatte ihr am Ende ihrer Trächtigkeit auf der Weide in den Bauch getreten. Sie war an der schweren Verletzung verblutet. Nur ihr Fohlen hatten sie noch retten können. Doch das hatte sich geweigert, Milch aus der Flasche anzunehmen und sein Tod war nur eine Frage der Zeit gewesen. Thore frönte einer zutiefst menschlichen Leidenschaft, der Pferdezucht. Als ausgesprochener Liebhaber seiner Pferde war er über alles im Bilde. „Was hat der Junge damit zu tun?“, wollte der große Gott ungehalten wissen. „Von ihm hat das Fohlen die Milch angenommen, Herr“, antwortete Einulf knapp. Thores Augen funkelten zornig. „Wer hat dir gesagt, dass du den Jungen zu einem Stallknecht machen sollst?“, fuhr er seine Leibwache mit schneidender Stimme an. Nur der vorgerückten Stunde war es zu verdanken, dass sich Thore beherrscht und nicht gebrüllt hatte. Das hätte den ganzen Palast aufgeweckt. Einulf zuckte zusammen. Er kannte seinen Herrn gut genug, um zu wissen, dass der kurz davor stand, die Geduld zu verlieren. „Durch das Fohlen isst Eric jetzt auch wieder, Herr“, erklärte er entschuldigend und erzählte, wie es dazu gekommen war, dass Eric jetzt im Stall bei dem Fohlen schlief. Aufmerksam hörte ihm Thore zu. Erleichtert sah Einulf, wie der Zorn seines Herrn langsam verrauchte. „Wie lange hat er nichts gegessen?“, erkundigte sich der große Gott ernst. „Drei Tage, Herr.“ Ein vernichtender Blick traf seine Leibwache. „Das nächste Mal gibst du mir sofort Bescheid, wenn er Schwierigkeiten macht!“, befahl Thore streng. „Ja, Herr!“, versicherte Einulf und verneigte sich vor dem Rücken seines Herrn. Thore hatte sich bereits umgewandt und lief zu der Nebentür, von der aus der kürzeste Weg zu den Pferdeställen führte.

      Im Stall umfing ihn der Geruch nach Pferd, Stroh, Heu und Hafer. Es war still, nur ab und zu war ein leises Rascheln zu hören, wenn eine der Stuten auf der Stelle trat. Die Fohlen lagen zum Schlafen in dem sauberen Stroh, während ihre Mütter in typischer Pferdeart im Stehen schliefen. Es war dunkel. Nur der Stab in Thores Hand verbreitete etwas Licht. Er hatte ihn neben der Stalltür gefunden und trug ihn wie eine Fackel vor sich her. Vor der Box, in der Eric und Diomed schliefen, blieb er stehen. Das Fohlen war sofort erwacht, hob den Kopf und sah Thore mit seinen klugen Augen aufmerksam an. Als könne es die Macht des großen Gottes spüren, blieb es jedoch ganz ruhig liegen, als der leise die Tür öffnete, zu ihm trat und neben ihm in die Hocke ging. Sanft streichelte er das weiche Fell des kleinen Hengstes. Nachdenklich blickte er dabei auf den schlafenden Jungen. Eric lag, den Kopf auf einen Arm gebettet, in dem Stroh und atmete ruhig. Durch sein im Schlaf entspanntes Gesicht sah er in dem sanften Licht seiner Mutter noch sehr viel ähnlicher als er es ohnehin schon tat. Thores Gedanken gingen zurück in die Zeit, als er Erics Mutter Linella kennengelernt hatte.

      Peer, Linellas Vater, war der reichste Bauer in Trendhoak gewesen. Zur Ernte konnte er sich sogar ein paar Erntehelfer leisten. Trotzdem war er ein freundlicher und bescheidener Zeitgenosse gewesen, der den anderen Dorfbewohnern auch gern einmal unter die Arme griff, wenn ihre Not zu groß wurde. Seine Frau Estella, Linellas Mutter, war kurz nach der Geburt des Kindes verstorben. Seine Tochter war ihm das größte Glück und so war es auch kein Wunder, dass er sie über die Maßen verwöhnte. Er war ihr gegenüber sehr nachsichtig gewesen, und wenn er doch einmal strenger zu ihr sein wollte, wusste sie ganz genau, wie sie ihn um den Finger wickeln konnte. Mit zunehmender Sorge beobachtete der Vater, wie aus dem fröhlichen jungen Mädchen im Laufe der Zeit eine Schönheit wurde. Sie hatte die blonden Locken der Mutter und, was sehr ungewöhnlich gewesen war und ihr einen besonderen Reiz verliehen hatte, die dunkelbraunen Augen des Vaters. Sie hatte eine natürliche Anmut, die viele andere Mädchen nicht aufweisen konnten. Schon viele Männer hatten an Peers Tür geklopft und um Linellas Hand gebeten. Doch sie hatte bisher jeden Freier abgewiesen. Noch hatte niemand ihr Herz berührt und sie hatte nur den Mann heiraten wollen, den sie auch mit ihrer ganzen Seele liebte. Der Vater hätte es gern gesehen, dass sie sich vermählte und sich somit unter den Schutz eines Ehemannes stellte. Er fühlte, dass er langsam alt wurde und fürchtete, dass er sie bald nicht mehr beschützen könnte. Überall sah er Gefahren für die Tugend und Reinheit der Tochter. Besonders ungern sah er, dass ihr nicht auszureden war, in einem ruhigen Seitenarm des Flusses, an dem Trendhoak lag, zu baden.

      Sie ging dort immer allein hin. Es war eine ganz ruhige, mit hohem Schilf bewachsene romantische Stelle. Dichte Büsche, die bis an das Wasser reichten, verdeckten den Blick auf das glasklare Wasser. Seidenweiches Gras bedeckte den schmalen Zugang zu dem Ufer. Es war so still hier, dass sich selbst die Vögel in den Ästen nicht von ihrer Anwesenheit stören ließen. Sie fühlte sich hier vollkommen sicher und lachte über die Bedenken ihres Vaters. Gerade war sie wieder mit nassem Haar vom Baden zurückgekommen und Peer hatte sie mit Vorwürfen überhäuft. „Linella, du weißt, dass ich es nicht gern sehe, wenn du allein zum Fluss gehst. Was ist, wenn dir dort jemand auflauert?“ Sie trocknete sich mit einem feinen weißen Leinentuch das Haar und zog einen Schmollmund. Sie hatte die ewigen Vorhaltungen ihres Vaters so satt. „Vater, das ist eine ganz versteckte Stelle. Keiner weiß, dass es sie gibt. Niemand wird mich dort sehen“, hatte sie ungeduldig zurückgegeben. „Kind, sei nicht so sorglos“, hatte er sie beschworen. „Was ist, wenn er wieder durch Osiat streift und nach einem hübschen Mädchen Ausschau hält?“ „Du meinst Thore, den alten Schwerenöter?“, hatte sie leichthin zurück gefragt. „Linella, versündige dich nicht! Was ist, wenn er dich hört?“ Verzweifelt hatte Peer die Hände gerungen. Das war also seine große Sorge. Seit König Dorin von Doritan Fraya verflucht hatte, hielt Thore seine schützende Hand nicht mehr über das Land. Auch die anderen Götter mieden dieses Königreich. Überschwemmungen, Stürme, Dürren und bitterkalte lange Winter, in denen Mensch und Tier gleichermaßen erfroren, suchten Doritan seit dieser Zeit immer wieder heim und machten aus diesem ehemals reichen grünen Königreich ein Land, in dem aus Leben ein Kampf ums Überleben geworden war. Von Zeit zu Zeit kam Thore jedoch hierher, um sich mit einem Menschenkind zu vergnügen. Meist handelte es sich dabei um das schönste Mädchen der Gegend und natürlich musste sie noch Jungfrau sein. Und jedes Mädchen schenkte sich ihm in der vergeblichen Hoffnung, den großen Gott wieder zu versöhnen. Doch Tore hatte sich immer unversöhnlich gezeigt. Ihrer Tugend beraubt und mit gebrochenem Herzen ließ sie Thore nach einigen wenigen Besuchen zurück. Dieses Schicksal wollte Peer um keinen Preis für seine geliebte Tochter. „Vater, wieso sollte er uns hören. Ich bin doch viel zu unbedeutend“, hatte Linella versucht, ihren Vater zu beruhigen. Doch der hatte nur bekümmert seinen Kopf gewiegt. Ihr hatte es leidgetan, dass sie ihren Vater so betrübt hatte. Zu seinen Füßen hatte sie sich niedergelassen und ihr Haupt auf seine Knie gebettet. Ihre dunklen Augen hatten liebevoll auf ihn geblickt, als sie sagte: „Hab keine Angst, Vater! Ich werde Thore niemals gehören.“ Kummervoll hatte der Vater über das Haar der Tochter gestrichen.

      Doch Thore hatte sie gehört. Er hatte vor ihrem Fenster geschwebt und das ganze Gespräch belauscht. Vor einigen Tagen war in ganz Osiat die Sommersonnenwende gefeiert worden. Nach langen Jahren von Missernten, hatte es endlich auch in Doritan wieder ein gutes Jahr gegeben. Das Korn stand dicht und kräftig auf den Feldern und die Menschen waren voller Hoffnung, eine reiche Ernte einbringen zu können. Überall hatten in den heiligen Hainen die Freudenfeuer gebrannt. Blumenbekränzte Mädchen hatten um sie herum getanzt und alte Weisen gesungen. Diese Gelegenheit hatte sich Thore nicht entgehen lassen. Von Escalinbaum zu Escalinbaum war er in den heiligen Hainen gewandert, um sein geschultes Auge auf die tanzenden Mädchen zu werfen. In Trendhoak war er fündig geworden. Durch ihre Anmut, ihre süße Stimme und ihr glockenhelles Lachen war ihm Linella sofort ins Auge gesprungen. Unbemerkt von den Dorfbewohnern hatte er sie das ganze Fest über beobachtet. Je länger er ihr zugesehen hatte, umso mehr hatte sie ihm gefallen. Ihr gewinnendes Wesen und ihr natürlicher Stolz hatten ihn gefesselt. Doch er wollte sie nicht ins Bett gelegt bekommen, wie die anderen Jungfrauen vorher. Sie hatte er selbst ausgesucht. Ohne die üblichen feierlichen Gesänge und Zeremonien, mit denen ihm die Mädchen sonst übergeben worden waren, um ihre Pflicht gegenüber ihrem Land zu erfüllen, hatte er sich Linella in aller Stille