Leylen Nyel

Quondam ... Der magische Schild


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vor Augen, an ihre Liebe, ihre Stimme, ihre Wärme und ihr Lachen, um all dies tief in seinem Herzen zu bewahren. Lars hatte ihm viel Zeit für den Abschied verschafft und doch ging es Eric viel zu schnell, als der Schmied die Tür wieder öffnete und zu ihm in die Kammer trat. „Eric, wir müssen jetzt gehen. Die Frauen müssen sie noch für die Bestattung herrichten. Du bleibst so lange bei uns“, bestimmte er. „Ist sie jetzt glücklich? Sie sieht so friedlich aus“, fragte Eric, als hätte er Lars Worte nicht gehört und wandte ihm hoffnungsvoll sein tränenverschmiertes Gesicht zu. Der schluckte. Er kannte Eric und die tragische Geschichte seiner Mutter nur zu gut. Als Linellas Ende absehbar war, hatten Gwyn und er beschlossen, ihn zu sich zu nehmen. Eric war bereits fast ein Mitglied der Familie geworden. Leif und er klebten wie Pech und Schwefel aneinander und auch ihr jüngerer Sohn Thorben mochte den Freund seines großen Bruders. Väterlich legte er seine schwere Hand auf Erics Schulter. „Ich glaube schon“, antwortete er unsicher. „Sie wird jetzt für immer bei dir sein. Solange du sie nicht vergisst, wird sie in dir weiterleben, so als wäre sie nie krank gewesen“, versuchte er den Jungen zu trösten.

      Die Menschen glaubten fest daran, dass die Verstorbenen in einer anderen Welt weiterleben und sie beschützen würden, solange man ihrer ehrend gedachte. Neben den Göttern wurden oft auch die Ahnen bei rituellen Handlungen angerufen. „Aber ich werde sie nie wiedersehen“, flüsterte Eric verzweifelt. „Wieso hat sie mich allein gelassen?“ Tränen schossen wieder in seine Augen. „Eric, du bist nicht allein!“, widersprach Lars. „Du hast Leif und Thorben. Gwyn und ich werden auch für dich da sein. Wir können dir deine Mutter zwar nicht ersetzen, aber du bist nicht allein!“, bekräftigte er. Mit sanfter Gewalt führte er Eric aus der Kammer heraus, vor deren Tür schon die Frauen warteten.

      Linellas Bestattung fand am späten Nachmittag des nächsten Tages in dem heiligen Hain statt. Das hatte mit dem Glauben der Menschen in Osiat zu tun. Sie waren davon überzeugt, dass die Seele nach dem Tod eines Menschen in dem toten Körper noch eine Weile weiterlebt. Sie muss so schnell wie möglich befreit werden, damit sie dort keinen Schaden nimmt. Der Leichnam wurde auf einem Scheiterhaufen den Flammen übergeben. Wenn von ihm nur noch Asche übrig bliebe, wäre die Seele frei und könnte noch lebende Angehörige vor dem Unbill des Lebens beschützen. Der Scheiterhaufen, auf dem Erics Mutter in ein sauberes Tuch eingeschlagen lag, war klein und einfach. Das Holz dafür hatten die Dorfbewohner gespendet. Manch einer konnte nur ein Scheit geben, doch es hatte sich niemand nehmen lassen, der unglücklichen jungen Frau auf diese Weise die letzte Ehre zu erweisen. Nur Orun, der Schankwirt, und Lars, der Schmied, konnten etwas großzügiger sein. Um die ganzen Vorbereitungen für Linellas Bestattung hatten sich die Frauen unter Leitung von Gwyn gekümmert, während die Männer den Scheiterhaufen aufgestapelt hatten. Eric hatte die ganze Zeit über wie betäubt in der kleinen Hütte gesessen, die jetzt die Seine war. Da er noch ein Kind war, hatte man ihn mit diesen Arbeiten nicht behelligt. Außerdem sollte er in Ruhe um seine Mutter trauern können. Es gab keinen in Trendhoak, der nicht mit dem Jungen gefühlt hätte. Leif und Thorben hatten sich hinter die Schmiede ihres Vaters verkrochen. Eric hatte niemanden, nicht einmal seinen besten Freund, um sich haben wollen. Wie lächerlich erschien jetzt den Brüdern ihr Streit vom Vortag, den Eric geschlichtet hatte, während seine Mutter im Sterben lag. Auch wenn sie sich freuten, dass er in Zukunft als ihr Bruder bei ihnen leben würde, so waren sie doch ebenso traurig über den Tod seiner Mutter wie er.

      Die bereits tief stehende Sonne zauberte ein besonderes intensives Rosa auf die wenigen harmlosen Wolken, als wollte auch sie der jungen Toten einen letzten Gruß entbieten. Mit einer brennenden Fackel in der Hand stand Eric neben dem Scheiterhaufen, während der eilig aus einem Nachbardorf herbeigerufener Priester ein paar Abschiedsgebete für die Verstorbene sprach. In seinen Augen war eine unverheiratete Mutter es nicht wert, seinen Segen für die Befreiung ihrer Seele zu erhalten. Erst als ihm gesagt worden war, wer der Vater ihres Kindes ist, hatte er sich auf den Weg gemacht. Von den Worten des heiligen Mannes drang an Erics Ohr nicht mehr als ein Murmeln. Zu tief saßen der Schmerz und die Erkenntnis, dass er jetzt ganz allein auf der Welt war. Dass ihn Gwyn und Lars bei sich aufnehmen würden und der Gedanke an Leif war der einzige, wenn auch geringe, Trost für ihn in diesen schweren Stunden. Eric schreckte hoch. Das Murmeln hatte aufgehört. Alles wartete darauf, dass er als einziger Familienangehöriger Linellas den Scheiterhaufen anzünden würde. Eric zögerte, den Leib seiner Mutter den Flammen zu übergeben. Zu endgültig erschien ihm der Abschied, wenn er jetzt die Fackel an das Holz legen würde. Es ging ihm alles viel zu schnell. Noch gestern hatte er mit ihr geredet und heute Abend würde von ihr nicht mehr als ein Haufen Asche übrig sein. „Du musst ihre Seele befreien“, redete Lars Eric gut zu und legte dem Jungen seine große schwere Hand auf die Schulter, als wollte er ihm Halt geben. Eric wandte dem Schmied sein tränenüberströmtes Gesicht zu. Es lag eine so tiefe Traurigkeit in diesem Blick, dass sich dem Mann das Herz zusammenkrampfte. Aufmunternd nickte er Eric zu. Mit einem entschlossenen Schritt trat der Junge an den Scheiterhaufen und hielt die Fackel an das trockene Holz. Schnell fraß sich das Feuer von Scheit zu Scheit. Es gab Eric einen Stich, als er sah, wie der verhüllte Leichnam seiner Mutter im Flammenmeer verschwand.

      Langsam wandelte sich seine Trauer in Wut. Seine Mutter hatte ihn immer wieder gebeten, ja angefleht, seinen Vater Thore nicht zu hassen. Irgendwann, so hatte sie ihm versprochen, würde der große Gott nach Trendhoak kommen. Er würde ihn als sein eigen Fleisch und Blut anerkennen und sie dafür dankbar in die Arme nehmen, dass sie ihm einen so wunderbaren Sohn geschenkt hatte. Eric hatte diesen Worten seiner Mutter nur schweigend zugehört, ohne ihre Hoffnung zu teilen. Der Stimmungswandel war ihm anzusehen. Sein Körper straffte sich und mit einem zornigen Blick holte er aus. „Eric, nicht!“, rief Lars, der sofort erkannte, was der Junge vorhatte. Doch es war bereits zu spät. In einem hohen Bogen flog die Fackel zu Thores Escalinbaum und blieb brennend am Fuß des Stammes liegen. Gierig leckten die Flammen an der borkigen Rinde. Dem Priester entfuhr ein quiekender Entsetzensschrei, während einige Dorfbewohner zu Thores Heiligen Baum liefen und sich darum bemühten, das Feuer zu löschen. „Er wird den Zorn des großen Gottes über Trendhoak und die ganze Gegend bringen. Jagt ihn fort!“, schrie der Priester hysterisch. Ein zustimmendes Raunen antwortete ihm aus der versammelten Menge und alle Augen richteten sich auf den Übeltäter. Lars stellte sich schützend vor Eric und ballte drohend seine Fäuste. „Hier wird niemand fortgejagt! Der Junge gehört jetzt zu mir!“, stellte er unmissverständlich klar. Die Menschen verharrten. Niemand wollte sich als erster mit dem starken Schmied auf einen Kampf einlassen, der jeden Einzelnen von ihnen mit einem herausfordernden Blick ansah.

      Plötzlich fielen alle Dorfbewohner vor Lars und Eric auf die Knie und senkten ehrfürchtig die Köpfe. Selbst die, die das Feuer an dem Escalinbaum gelöscht hatten, verharrten in dieser unterwürfigen Stellung. Verwundert wechselten Lars und Eric einen Blick, da hörten sie hinter sich das Schnauben eines Pferdes. Als sich Lars nach dem Reiter umdrehte, beeilte er sich, die vorgeschriebene Haltung einzunehmen. Vor ihnen stand ein riesiger weißer Hengst und auf ihm saß Thore. Wie aus dem Nichts war er in dem heiligen Hain erschienen. Selbst weit entfernt von Trendhoak, in seinem Palast in Oskan, der Hauptstadt von Amesia, war ihm nicht verborgen geblieben, dass jemand eine Fackel an einen seiner heiligen Bäume gelegt hatte. Sofort war er aufgebrochen, um diesen Frevel zu ahnden. Mit einem wütenden Blick musterte der große Gott die vor ihm kauernde Menge und den Jungen, der nicht daran dachte, sich vor ihm zu verneigen und ihm trotzig ins Gesicht sah. „Warst du das?“, fragte Thore mit dröhnender Stimme und zeigte auf seinen Baum. „Ja Herr! Es war dieser unverschämte Junge“, antwortete der Priester ungefragt. „Bitte straft ihn für diesen Frevel. Uns trifft nur die Schuld, dass wir ihn so lange in unserer Mitte geduldet haben“, fuhr er in seinem Bemühen fort, Thores Zorn ausschließlich auf Eric zu lenken. „Schweig! Wer hat dir erlaubt, das Wort an mich zu richten“, fuhr ihn der große Gott an. Mit einer Hand zielte er in Richtung des Priesters. Den Priester traf ein heftiger Schlag, der ihn von seinem Platz fegte. Halb ohnmächtig blieb der Priester ein ganzes Stück entfernt liegen und wagte nicht, sich zu rühren. Er hatte eines der Gebote im Umgang mit Thore außer Acht gelassen. Kein Mensch durfte das Wort direkt an ihn richten. Nur, wenn der große Gott an jemanden eine Frage stellte, war es überhaupt erlaubt, in seiner Gegenwart den Mund zu öffnen.

      Eric stand aufrecht vor seinem Vater. Er hatte noch nie jemanden gesehen, der so groß war. Selbst Lars, für Eric bis dahin der größte und