Leylen Nyel

Quondam ... Der magische Schild


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seinen Tränen freien Lauf lassen. Er liebte seine Mutter sehr und es quälte ihn, sie so leiden zu sehen. Wie gern hätte er sie noch einmal so fröhlich lachen erlebt wie in seinen frühen Kindertagen. Es fiel ihm immer schwerer, sich daran zu erinnern, denn das Bild seiner apathisch in ihrem Bett liegenden blassen Mutter war das Einzige, das sich ihm seit fünf Jahren tagtäglich immer tiefer einbrannte. Nur ihre Augen leuchteten noch so liebevoll wie einst, wenn er ihre Kammer betrat.

      Es war ein schöner sonniger Tag, der geradezu zu Unternehmungen im Freien einlud. Doch Eric war bei seiner Mutter und versuchte, ihr etwas von der Suppe einzuflößen, die Gwyn vorbeigebracht hatte. Während sie Linella beim Sitzen stütze, führte ihr Eric vorsichtig den Löffel zum Mund. Linella war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Wenn Eric sie nicht fütterte, verweigerte sie jegliche Nahrung. Nur ihrem Sohn zuliebe zwang sie sich, etwas zu sich zu nehmen, obwohl sie schon lange keinen Appetit mehr hatte. Sie konnte das Flehen in seinem Blick nicht ertragen. Aber an diesem Tag wollte sie einfach nicht essen. Schon nach dem zweiten Löffel drehte sie abwehrend den Kopf zur Seite. „Mutter, du musst etwas essen“, drängte Eric. „Ich habe heute keinen Hunger“, antwortete Linella schwach. „Du hast nie Hunger! Seit Wochen nicht!“, rief ihr Sohn verzweifelt und warf Gwyn einen hilflosen Blick zu. Sie wusste auch nicht, wie hier noch zu helfen war. In die Suppe für Linella hatte sie ein großes Stück Butter hineingetan, um sie so für Erics entkräftete Mutter noch nahrhafter zu machen. „Mutter, bitte! Nur noch einen Löffel“, flehte Eric. Doch Linella lag mit geschlossenen Augen in Gwyns Arm und reagierte nicht. Ihr Atem ging nur ganz flach. Eric bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Beklommen stellte er die Suppe zur Seite und nahm die kühle Hand seiner Mutter. „Mutter, was ist mit dir?“, fragte er bestürzt. Sie öffnete die Augen und zwang sich zu einem schwachen Lächeln. „Es ist nichts. Ich musste nur einmal kurz ausruhen. Gibst du mir noch etwas?“ Erleichtert ließ Eric die Hand seiner Mutter los und reichte ihr einen Löffel Suppe.

      Von der Tür kam ein zaghaftes Klopfen. „Eric, kommst du mit zum Fluss?“ Eric schüttelte den Kopf. Auch ohne sich umzudrehen, wusste er, dass Leif in der Tür stand. Sein Freund wechselte einen kurzen Blick mit seiner Mutter, die immer noch Linella stützte. „Du kannst ruhig gehen. Ich werde mich weiter um deine Mutter kümmern“, redete sie Eric gut zu. Der war hin und her gerissen zwischen der Sorge um seine Mutter und dem Wunsch, diesem Elend wenigstens für eine Weile zu entfliehen. „Geh, mein Sohn“, ermutigte ihn auch Linella. „Gwyn ist doch bei mir. Ich verspreche auch, noch etwas zu essen.“ „Wirklich?“, fragte Eric ungläubig. „Versprochen!“ Linella schaffte es mit äußerster Anstrengung, den Arm zu heben und ihrem Sohn zärtlich über das Gesicht zu streichen. „Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Vergiss das nie!“, sagte sie liebevoll. „Geh jetzt!“ Mit einem Kloß im Hals stellte er den Teller ab. „Ich bleibe nicht lange fort“, versprach er, nickte Gwyn dankbar zu und ging zu Leif, der immer noch in der Tür stand. Lange sah Linella ihrem Sohn hinterher. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie daran dachte, dass sie Eric nicht die Mutter war, die sie sein wollte. Es tat ihr unendlich leid, ihrem Sohn solchen Kummer zu bereiten. Doch ihr fehlte einfach die Kraft, wieder gesund zu werden. Gwyn nahm ein Kissen, um Linella abzustützen. Linella schüttelt den Kopf. „Ich werde nichts mehr essen“, sagte sie schwach. „Aber Linella, du hast es Eric versprochen“, wandte Gwyn ein. „Ich weiß! Ich wollte doch nur, dass er mit Leif mitgeht. Er ist doch viel zu erwachsen!“ Gwyn nickte verständnisvoll, doch auch sie quälte die Sorge um die vor ihr liegende junge Frau. Drei Löffel Suppe am Tag sind einfach zu wenig. „Hilfst du mir bitte? Ich möchte gern etwas ausruhen“, bat Linella. Gwyn bettete sie vorsichtig und deckte sie sorgsam zu. Linella lächelte dankbar. „Nachher werde ich noch etwas essen“, versprach sie. „Darüber wird Eric sehr froh sein“, freute sich Gwyn. „Kann ich noch irgendetwas für dich tun?“, fragte sie. Linella schüttelte erschöpft den Kopf. Nachdem Gwyn endlich unter tausend Versicherungen, ganz schnell wiederzukommen, gegangen war, seufzte Linella erleichtert auf. Unendlich müde schloss sie die Augen.

      Leif war in demselben Alter wie Eric. Obwohl er in Trendhoak zu den größten Zwölfjährigen gehörte, war er doch immer noch einen halben Kopf kleiner als Eric. Dunkle Brauen überspannten seine klugen grün-blauen Augen. Er hatte dichtes dunkelblondes Haar und ein hübsches rundes Gesicht. Da er seinem Vater Lars bereits in der Schmiede half, hatte er schon breite Schultern und kräftige Arme. Er war der einzige Freund, den Eric in Trendhoak hatte. Die anderen Kinder des Dorfes hatten sich von Eric zurückgezogen, seit Linella krank geworden war. Eric war immer ernster und stiller geworden. Manchmal hatte er bei den geringsten Anlässen Wutanfälle bekommen und war keiner Prügelei aus dem Weg gegangen. Durch seine Kraft war er meist als Sieger aus diesen Kämpfen hervorgegangen. Schon bald hatte sich keiner mehr allein an ihn herangewagt, nicht einmal die älteren Jungs. Sie alle hatten Angst vor ihm und sich daher gegen ihn zusammengetan. Sie fingen an, Eric von der Ferne aus als Bastard zu beschimpfen und warfen mit Steinen nach ihm. Einmal hatten sie ihm aufgelauert und waren zu fünft über ihn hergefallen. Empört über diese Feigheit und ohne nachzudenken, war ihm Leif zu Hilfe geeilt und gemeinsam hatten sie die Angreifer in die Flucht geschlagen. Mit blutenden Nasen hatten sie ihre Freundschaft besiegelt. Da waren sie beide neun Jahre alt gewesen. Leifs Vater war daraufhin zu den Eltern der Übeltäter gegangen. Sein Wort hatte Gewicht und die Schmähungen und Steinwürfe hörten auf. Auf eine Prügelei mit Eric und Leif ließ sich sowieso keiner ein.

      Aber Leifs Freundschaft zu Eric erschöpfte sich nicht darin, ihm bei Rangeleien mit anderen Kindern zur Seite zu stehen. Über seine Mutter und die Gespräche seiner Eltern, die er manchmal heimlich belauschte, wusste er mehr als jeder andere über die große Last, die sein Freund zu schultern hatte. Deshalb konnte er auch besser mit Erics plötzlichen Wutausbrüchen und Launen umgehen. Auf der anderen Seite ersann er ständig neue Spiele, um Eric auf andere Gedanken zu bringen. Besondere Freude bereitete er ihm, wenn er ihn zu einem Wettkampf aufforderte. Vor allem beim Wettrennen schien Eric seinen Kummer zumindest für eine Weile zu vergessen. An anderen Tagen saßen sie nur am Flussufer schweigend beisammen. Leif wusste inzwischen, dass es an Tagen, an denen Eric kein Wort sprach, immer sehr schlimm mit seiner Mutter gewesen war. Wenn es ihr besser ging, war Eric sofort wie ausgewechselt.

      Leif hatte mit einem Blick von der Tür in Linellas Kammer sofort erkannt, dass heute wieder so ein besonders schwieriger Tag für Eric war. Verbissen kniff er die Lippen zusammen. Es war ein so schöner Tag und er hatte sich so darauf gefreut, im Fluss zu baden. Er hatte gehört, dass auch die Mädchen des Dorfes zum Fluss gehen wollten. Sie gingen nie dorthin, um zu baden, sondern um den Jungen bei ihren Wasserkämpfen und Mutproben zuzusehen. Mit ihren Kleidern konnten sie nicht schwimmen und nur die Kecksten von ihnen hielten die Zehen ins Wasser. Die Jungen hatten eine bevorzugte Stelle am Ufer. Dort trat das Gras vom Ufer zurück und gab einen Abschnitt mit schönem, weißem Sand frei. Ein Baum war vor langer Zeit von einem Sturm in eine solche Schräglage gebracht worden, dass seine Äste über den Fluss ragten. Es galt als Mutprobe, von diesen Ästen ins Wasser zu springen. Nur die Mutigsten unter ihnen erklommen auch die obersten Äste. Auf einen Ast kletterte jedoch niemand. Er war der Höchste und seine Blätter spiegelten sich in der Mitte des Flusses. Jeder Sprung wurde von den Mädchen mit Beifall bedacht und von anderen Jungen kritisch kommentiert. Dabei kam es nicht nur darauf an, von welcher Höhe aus man sprang. Auch die Art des Sprunges wurde bewertet. So manch einer war schon durch einen gekonnten Salto für einen Sommer zum Helden der Dorfjugend geworden. Doch das war eher die Sache der älteren Jungen von dreizehn oder vierzehn Jahren. Leif und Eric waren dafür noch zu jung, obwohl sie zu den wenigen gehörten, die sich bereits in die höheren Etagen wagten. Für Leif gab es jedoch noch einen weiteren Grund, sich auf die Anwesenheit der Mädchen zu freuen. Mit Vergnügen hatte er sich vorgestellt, sich an sie heranzuschleichen und sie an den Zöpfen zu ziehen. Vor allem bei Jorid, einem Mädchen, ein Jahr jünger als er, tat er das besonders gern. Sie hatte lange braune Zöpfe und ihre dunklen Augen blitzten vor Empörung immer so lustig, wenn er das tat. Eric hatte ihn schon ein paarmal damit aufgezogen, dass er wohl in dieses Mädchen verliebt sei, was er heftig bestritten hatte. Aber wenn er ehrlich war, gefiel sie ihm von allen Mädchen am besten. Er mochte sie, aber vorerst war das sein Geheimnis, das er nicht einmal mit Eric teilen wollte.

      Wortlos lief Eric neben seinem Freund her und schien das schöne Wetter gar nicht wahrzunehmen. Leif überlegte krampfhaft, wie er ihn etwas aufmuntern