Leylen Nyel

Quondam ... Der magische Schild


Скачать книгу

Kammer, in der eine einfache Holzpritsche, ein Tisch und ein Hocker standen. Thore stieß Eric dort hinein. „Du wirst diesen Raum nur verlassen, wenn man es dir erlaubt“, wies der große Gott seinen Sohn an. „Vater, du kannst mich doch nicht hier einsperren?“, antwortete Eric entgeistert. Er war noch nie eingesperrt gewesen und wusste nicht, warum ihn sein Vater wie einen Gefangenen behandeln wollte. Statt einer Antwort erhielt er eine gewaltige Ohrfeige. Krachend landete er an der Wand der Kammer. Für Thore war es nur ein Klaps gewesen, aber Eric war, als würde ihm der Kopf von den Schultern fliegen. „Sage nie wieder Vater und DU zu mir!“, herrschte ihn Thore an. „Aber …?“ „Nie wieder!“, wiederholte Thore drohend. Krachend schlug die Tür zu. Fassungslos sah Eric zu der geschlossenen Tür.

      „Du machst ihn zu einem Krieger Oskans! Und bringe ihm Benehmen bei!“, befahl der große Gott Einulf zornig. Der verneigte sich wortlos vor seinem Herrn. Einulf war ein Sohn Martans und Thores persönliche Leibwache, obwohl der große Gott eigentlich niemanden brauchte, um ihn zu beschützen. Er war ein ausgezeichneter Streiter, groß, hatte die starken Arme und die breitet Brust eines Schwertkämpfers und war seinem Herrn absolut treu ergeben. Thore schätzte an ihm vor allem seine Verschwiegenheit und dass er kein Freund vieler Worte war. Lästige Schmeicheleien und wortreiche Erklärungen brauchte Thore von ihm nicht zu fürchten. Auch Widerspruch war von ihm nicht zu erwarten. Ergeben führte er jeden Befehl zuverlässig aus. Auch manch heikle Angelegenheit hatte Einulf schon im Sinne seines Herrn erledigt. Er war über die lange Zeit in Thores Diensten fast schon ein Vertrauter des großen Gottes geworden. Nun war er wieder mit einer heiklen Angelegenheit betraut worden, wie er schnell erkannt hatte. Thore hatte seinen unehelichen Sohn im hintersten Winkel des Palastes untergebracht, um ihn möglichst weit von seiner Frau Fraya und ihren gemeinsamen Söhnen Yuron und Eyrin fernzuhalten. Einulf sollte die Erziehung des Jungen übernehmen. Warum der große Gott den Jungen überhaupt nach Oskan geholt hatte, erschloss sich Einulf aber nicht. Doch er war es gewöhnt, keine Fragen zu stellen.

      Aufgebracht stürmte Thore durch den Palast zu seinen Gemächern. Er hatte sich verschätzt. Er hatte noch vor Sonnenaufgang in Oskan sein wollen. Niemand sollte sehen, dass er den Jungen bei sich hatte. Hätte er den Weg über seinen heiligen Baum nehmen können, wäre ihm das auch ohne Weiteres gelungen. Aber so einen magischen Ritt hätte der Körper des Jungen womöglich nicht verkraftet und so hatte er den Weg nach Oskan ganz normal reiten müssen. Doch obwohl er sein Pferd fast bis zur Erschöpfung getrieben hatte, waren sie zu spät angekommen. Sowohl in Oskan selbst als auch im Palasthof hatten viele Eric gesehen. Die Nachricht von ihm würde bestimmt schon zu Fraya gedrungen sein. Dabei hatte er sie schonend darauf vorbereiten wollen, dass und warum Oskan einen neuen Bewohner bekommen hatte und wer dieser sei. Wie er Klatsch und Tratsch im Palast hasste. Zwar hatte er mit rigiden Gesetzen versucht, diese Unart der Menschen zu unterbinden, die viele Götter und Halbgötter nur zu gern übernommen hatten. Aber so ganz war ihm das nicht gelungen. Doch Fraya war auf den Klatsch gar nicht angewiesen. Thore war am Vortag plötzlich aus dem Palast verschwunden. Man hatte sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass in Osiat jemand eine Fackel an einen von Thores heiligen Bäumen geworfen hatte. Es war für sie selbstverständlich, dass sich ihr Mann um diesen Frevel selbst kümmern wollte. Doch als er am Abend noch immer nicht zurück war, hatte sie besorgt nach ihm Ausschau gehalten. Auf der Brücke zwischen Osiat und Amesia hatte sie ihn entdeckt. Er ritt wie gehetzt, vor sich im Sattel einen Jungen. Der hielt den Blick nicht gesenkt und seine Tränen ließen seine Augen intensiv in dem schwachen Licht leuchten. Da wusste Fraya, wer vor ihrem Mann auf dem Pferd saß.

      Vor Thores Gemächern trat sie ihm in den Weg. „Wieso hast du deinen Sohn nach Oskan geholt?“, fragte sie ihn wütend. „Nenne ihn nie wieder meinen Sohn! Er ist nur ein Junge, der seine Mutter verloren hat!“, brüllte Thore. „Mäßige dich! Ganz Oskan kann dich hören!“, ermahnte ihn Fraya ruhig, doch ihre türkisfarbenen Augen funkelten zornig. Ihre Selbstbeherrschung, die es ihr ermöglichte, sogar in größter Wut ruhig und gelassen zu erscheinen, versetzte Thore immer wieder aufs Neue in Erstaunen. Doch es war zu spät. Seine Worte flogen bereits durch den Palast, drangen durch alle Mauern, Wände und ganz Oskan. Jeder konnte sie hören und wusste jetzt, wer der Junge auf dem Pferd bei Thore gewesen war. Eric hörte sie in seiner Kammer und sie trafen ihn wie ein Schock. Verzweifelt kauerte er sich auf den Boden. Auch Yuron und Eyrin, die zum Frühstück zu ihrer Mutter in den Palast gekommen waren, hörten diese Worte. Eyrin pfiff vor Überraschung durch die Zähne. „Noch ein Sohn?“, fragte er verwundert. Yuron, der ältere der beiden, zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wahrscheinlich ein Ausrutscher in Osiat“, erklärte er beiläufig. Anders als sein jüngerer Bruder wusste er über die gelegentlichen Abenteuer seines Vaters in der Welt der Menschen Bescheid und auch darüber, wie seine Mutter darunter gelitten hatte. Fraya und Thore hatten versucht, diesen Teil ihrer Ehe vor ihren Söhnen geheim zu halten. Bei Yuron war ihnen dies nicht gelungen.

      „Also, wieso ist der Junge hier?“, wollte Fraya wissen, hielt sich dabei aber ganz an die Anweisung ihres Mannes. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er in dieser Stimmung nicht weiter gereizt werden sollte. „Er wird zu einem Krieger Oskans ausgebildet“, antwortete Thore sehr viel ruhiger. „Vielleicht ist er ja zu etwas nütze.“ Zweifelnd sah ihn Fraya an. Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. „Du willst mir weismachen, dass er dir nichts bedeutet?“, fragte sie misstrauisch. „Nicht das Geringste.“ Thores Stimme war frostig. Seine Kälte durchzog den ganzen Palast und drang durch jede Ritze. „Wir werden mit ihm nicht mehr zu tun haben, als mit jedem anderen Bewohner Oskans auch“, versprach er. Frayas Wut legte sich etwas, aber sie war noch lange nicht versöhnt. Das wusste Thore. Also würde er auch weiterhin sein Herz vor diesem Sohn verschließen und seine Gemahlin auf diese Weise von der Aufrichtigkeit seiner Worte überzeugen. Erics Träne auf seiner Hand, die ihn nur ganz kurz etwas für diesen unglücklichen Jungen hatte empfinden lassen, verbannte er aus seinem Gedächtnis. „Erlaubst du, dass ich mich jetzt zurückziehe? Ich möchte mich etwas ausruhen.“ Ohne Frayas Antwort abzuwarten, verneigte er sich kurz vor ihr und verschwand in seinen Gemächern. Nachdenklich sah sie ihm hinterher und ging dann zu Yuron und Eyrin. Die sahen ihrer Mutter neugierig entgegen. Schweigend setzte sich Fraya mit ernster Miene zu ihren Söhnen an den Tisch. „Es wird das Beste sein, wir vergessen, dass es diesen Jungen gibt“, erklärte sie knapp. Yuron und Eyrin sahen sich vielsagend an. Für Fraya war das Thema damit erledigt.

      Eric kauerte immer noch am Boden, als sich die Tür öffnete und ihm Einulf etwas Essen sowie einen Becher Wasser auf den Tisch stellte. „Iss!“, befahl er und ließ ihn wieder allein. Doch Erics Willen, sich in der Fremde zurechtzufinden und schnell zu einem Mann zu werden, hatte sich durch Thores Kälte in Nichts aufgelöst. Er fror jämmerlich, obwohl es ein schöner warmer Sommertag war. Wie sehnte er sich danach, bei seiner Mutter zu sein. Da fiel ihm ein, wie er vielleicht doch aus dieser grässlichen Welt entfliehen könnte, ohne diesen Raum zu verlassen. Seine Mutter hatte es ihm vorgemacht. Sie hatte ja nur deshalb so lange durchgehalten, weil sie sich ihm zuliebe immer wieder ein paar Löffel Suppe hinein gequält hatte. Hier gab es niemanden, für den Eric auch nur einen Bissen essen würde. Schon träumte er davon, wie seine Seele Linellas Seele finden würde und sie endlich wieder vereint sein würden. Das gab ihm die Kraft, über seinen knurrenden Magen zu siegen. Als Einulf drei Tage später wieder sah, dass Eric das Essen nicht angerührt hatte, war er mit seiner Geduld am Ende. „Du wirst jetzt endlich etwas essen und wenn ich es in dich reinprügeln muss“, brüllte er den störrischen Jungen an und hob drohend die Hand. Eric sah ihn mit leerem Blick nur stumm an. Er hatte nicht einmal gezuckt. Einulf fluchte, ließ aber die Hand sinken. Mit Gewalt kam er hier nicht weiter, das sah er ein. Da kam ihm ein Gedanke. „Du willst dich also zu Tode hungern?“, fragte er ernst. Eric antwortete nicht und sah nur unbeteiligt zum Fenster. „Also gut! Es gibt hier noch jemanden, der das vorhat. Du kannst dich mit ihm zusammentun. Komm mit!“, forderte er den Jungen auf. Doch Eric rührte sich nicht. Einulf packte ihn unwirsch am Arm und zog ihn einfach mit sich fort.

      Der ausgehungerte Zwölfjährige hatte dem nichts entgegenzusetzen. Kraftlos stolperte Eric hinter dem großen Mann her, der ihn unbarmherzig mit sich zog. Er war erstaunt, dass ihn Einulf in einen Pferdestall führte. An einer Box machte er Halt und öffnete die Tür. In sauberem Stroh verborgen lag ein schwarzes Knäuel. Fragend sah Eric zu Einulf. „Der kleine Hengst hat auch seine Mutter verloren. Er trinkt nicht.