Leylen Nyel

Quondam ... Der magische Schild


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großen dunklen Augen traurig an. Kraftlos fiel der Kopf des Fohlens gleich wieder zurück ins Stroh. Vorsichtig setzte sich Eric neben das Tier und bettete den Kopf des Fohlens auf seine Beine. Einulf ließ ihn allein. Eric wartete bis sich die Stalltür geschlossen hatte.

      „Ich weiß, du bist traurig, weil du allein bist“, begann Eric mit dem kleinen Hengst zu reden. „Ich bin auch traurig. Meine Mutter ist auch gestorben.“ Unter fortwährendem Streicheln erzählte er dem Tier leise seine Geschichte. Er erzählte von Trendhoak, seinem Leben und den Menschen dort. Natürlich erzählte er auch von Leif und die Abenteuer, die er zusammen mit seinem Freund bestanden hatte. Und von seiner Mutter. Einulf hatte den Stall jedoch nicht verlassen. Vor Erics Blicken verborgen hatte er die Entwicklung der Dinge abwarten wollen und wurde nun ungewollt Zuhörer. Auf diese Weise lernte er den ihm anvertrauten Jungen sehr viel besser kennen als jemand sonst in Oskan. Eric war einsam und brauchte dringend einen Freund. „Vielleicht kann dieses hilflose Fohlen sein Freund sein“, überlegte Einulf. Ursprünglich hatte er Eric das sterbende Fohlen als abschreckendes Beispiel zeigen wollen, doch jetzt änderte er seine Pläne. Leise schlich er sich aus dem Stall. Kurze Zeit später kam er wieder. Bewaffnet war er mit einem Eimer frisch gemolkener Stutenmilch und Erics Teller. „Da!“, sagte er und reichte Eric den Eimer. „Vielleicht kannst du ihn dazu bewegen, etwas zu trinken. Sonst ist es morgen vorbei.“ Entschlossen griff der Junge nach der Milch. Wie beiläufig stellte Einulf Erics Essen hinzu und ließ ihn mit dem Fohlen allein. Beide sollten sich sicher und unbeobachtet fühlen. Nur so könnte er sie dazu bewegen, ihren Widerstand gegen jegliche Form der Nahrungsaufnahme aufzugeben.

      Vorsichtig führte Eric den Eimer an das weiche Maul des Fohlens. Doch das Tier schnaubte nur unwillig und drehte seinen Kopf weg. Ein beträchtlicher Teil der kostbaren Milch kleckerte auf das Stroh und Eric Hose. Ratlos hielt er den Eimer in der Hand. Noch war die Milch warm. Das Fohlen musste sie bald bekommen, sonst wäre es zu spät. „Du musst deine Milch trinken“, redete er dem kleinen Tier gut zu. „Komm, mir zuliebe!“, bat er und startete den nächsten Versuch. Der kleine Hengst sah ihn nur mit seinen dunklen Augen an, nahm aber wieder keine Milch an. Hilflos sah sich Eric in der Box um. Da fiel sein Blick auf den Teller. Er beschloss, über seinen Schatten zu springen und mit gutem Beispiel voranzugehen. Das Fohlen sollte nicht verenden, wenn er es verhindern könnte. Er brach ein kleines Stück von seinem Brot ab und steckte es sich in den Mund. „Siehst du, es ist ganz einfach“, sagte er kauend zu dem Fohlen und tat, als hätte er noch nie so etwas Köstliches gegessen. Dabei rebellierte sein Magen, der nach dreitägiger Fastenzeit plötzlich wieder etwas angeboten bekam. Tapfer schluckte der Jungen den Bissen herunter und lächelte dem Fohlen aufmunternd zu. Das beobachtete ihn aufmerksam. Seine kleinen Ohren spielten. „Komm, nur ein kleines bisschen“, versuchte er, den kleinen Hengst zu überreden. Vorsichtig träufelte er ein paar Tropfen von der Milch auf seinen Finger und steckte ihn dem Tier mit sanfter Gewalt ins Maul. Das Wunder geschah. Eric fühlte wie die kleine Zunge die Milch von seinem Finger leckte und plötzlich fing der kleine Hengst an, zu saugen. Behutsam steckte der Junge zwei weitere Finger ins Maul und formte damit eine Art Tülle. In seine Hand ließ er langsam die Milch laufen, und indem das Fohlen an seinen Fingern lutschte, nahm es die für ihn so lebenswichtige Flüssigkeit zu sich. Immer gieriger saugte das Fohlen. Langsam führte Eric sein Maul zu der Milch. An seinen Fingern nuckelnd leerte das Tier den ganzen Eimer. „Das hast du gut gemacht“, lobte Eric. Herausfordernd sah ihn der kleine Hengst an. „Jetzt du!“, schien er zu sagen. Und der Junge enttäuschte ihn nicht. Mühsam, aber stetig, aß er Bissen um Bissen. Vertrauensvoll legte das Fohlen seinen Kopf wieder auf Erics Beinen ab. Einulf nickte zufrieden in seinem Versteck. Sein Plan war aufgegangen. Ihre Seelenverwandtschaft hatte dem Fohlen und dem Jungen geholfen, ihren Kummer zu überwinden und wieder Nahrung zu sich zu nehmen.

      Eric blieb den ganzen Tag bei dem kleinen Hengst. Einulf brachte ihm noch zweimal Milch, die das Fohlen ohne Umstände jedes Mal bis auf den letzten Tropfen austrank. Die Zuwendung des Jungen begann, sich auszuzahlen. Schon am Abend war das Tier in der Lage, seinen Kopf längere Zeit aufrecht zu halten. Mit Erics Hilfe kam es auf seinen wackligen Beinen zu stehen und lief ein paar Schritte auf und ab. „Kann ich heute Nacht bei ihm bleiben?“, fragte er, als Einulf wieder in den Stall kam, um ihm sein Abendbrot und dem Fohlen die letzte Milch zu bringen. „Morgen beginnt deine Ausbildung. Ich werde dich nicht schonen. Wir haben schon zu viel Zeit verloren“, wandte der ein. „Was für eine Ausbildung?“, wollte Eric wissen. „Zu einem Krieger Oskans“, antwortete Einulf knapp, als wäre damit alles gesagt. Nachdenklich streichelte Eric über das struppige Fell seines kleinen Freundes, zu dem ihm das Fohlen im Laufe der gemeinsam verbrachten Stunden geworden war. Hatte ihn sein Vater nur deshalb nach Amesia gebracht, weil er Nachwuchs für sein Heer brauchte? Würde er für Thore wirklich nicht mehr als einer der vielen anderen Soldaten sein? Der große Gott hatte ihm verboten, ihn Vater zu nennen. Ganz Oskan hatte gehört, dass ihn niemand als Thores Sohn bezeichnen sollte. Verbittert presste Eric die Lippen aufeinander.

      Einulf las in seinem Gesicht wie in einem Buch. Er ging zu dem Jungen, der nach wie vor im Stroh verharrte, stockte dann jedoch, als er sah, dass das Fohlen scheute. Er ging in die Hocke, um dem kleinen Hengst die Angst zu nehmen und um Eric in die Augen sehen zu können. „Ein Krieger Oskans zu sein, ist eine Ehre“, erklärte er. „Alle Jungen Oskans erhalten diese Ausbildung. Es ist ein langer und steiniger Weg. Nicht alle schaffen es, die Prüfung am Ende zu bestehen.“ „Werde ich mit anderen zusammen sein?“ Die Aussicht, auf Gleichaltrige zu treffen, machte Eric neugierig. Er hatte bisher nur Thore und Einulf kennengelernt. „Noch nicht. Die Jungen deines Alters sind dir ein Jahr voraus. Diesen Rückstand musst du erst aufholen. Wenn du soweit bist, die Aufnahmeprüfung abzulegen, werden wir weitersehen“, erklärte Einulf. „Ich kann kämpfen!“, widersprach Eric trotzig. „Eric, es geht nicht darum, in einer Prügelei zu bestehen!“, wies ihn Einulf ernst zurecht. „Ein ehrenvoller Kämpfer zu sein, ist etwas ganz anderes. Das ist es, was dir hier beigebracht wird.“ Beschämt schlug Eric die Augen nieder. „Ich bin nicht ehrlos“, sagte er leise. „Das weiß ich, sonst würde ich kein Wort mit dir reden!“, bekräftigte Einulf. Das war die volle Wahrheit. Manch einer hätte es nicht für möglich gehalten, dass die sonst so wortkarge Leibwache Thores zu einem so tiefschürfenden Gespräch fähig war. Einulf begann Thores Sohn zu mögen und wollte ihm helfen, sich in der für ihn so fremden Welt zurechtzufinden. „Woher weißt du das?“, fragte Eric ungläubig. Einulf schwieg. Als Sohn von Martan, dem Gott des Krieges, und einer menschlichen Mutter, war er wie Eric ein Halbgott. Halbgötter verfügten aufgrund ihres göttlichen Erbes über besondere Gaben. Einulfs Gabe war es, die Gesinnung eines anderen sofort zu erkennen. Jemanden mit einem starken Ehrgefühl sah er mit einem grünen Kranz bekrönt. Auch deshalb war er Thore so wichtig. Zwar konnte der große Gott in der Seele eines jeden lesen, doch dazu musste er dicht an den anderen herantreten, um ihm tief in die Augen sehen zu können. Einulfs Einschätzung aus der Ferne war da viel unauffälliger. Außer ihm selbst und seinem Vater Martan, wussten nur Thore und Fraya von seiner besonderen Gabe. Als Einulf Eric das erste Mal gesehen hatte, hatte er deutlich die grüne Blätterkrone auf dessen Haupt gesehen. „Du kannst heute Nacht hierbleiben“, entschied er versöhnlich. „Aber nur dieses eine Mal. Falls du mich brauchst, ich bin in deiner Kammer.“ Eric nickte ihm dankbar zu.

      Thores Leibwache hatte kaum den Stall verlassen, da wurde es noch einmal unruhig. Die Pferdeknechte führten die anderen Stuten mit ihren Fohlen in ihre Boxen. Den Tag hatten die Tiere auf der Weide an der frischen Luft verbracht. Der Stall war erfüllt vom Dröhnen der Hufe, dem hellen Wiehern der Fohlen und den dunkleren Antworten ihrer Mütter. Der kleine Hengst bei Eric stand zitternd auf seinen noch schwachen Beinen und rollte vor Angst mit den Augen. Sanft redete der Junge auf ihn ein und streichelte ihm beruhigend das Fell. „Donnerwetter! Der lebt ja noch“, staunte Delano, der älteste und erfahrenste der Stallknechte, als er zu Eric in die Box sah. Er hatte braunes gekraustes Haar, ein grobes, wettergegerbtes Gesicht mit freundlichen dunklen Augen und eine stämmige untersetzte Figur. Am Halfter führte er eine Fuchsstute, deren Fohlen ihr nicht von der Seite wich. „Ich hätte schwören können, dass der Kleine diesen Tag nicht übersteht. Hast du dafür gesorgt, dass er endlich seine Milch trinkt?“, wandte er sich an Eric. Der nickte stolz. „Gut gemacht!“, lobte Delano. „Er hat gute Eltern. Wäre wirklich schade um ihn gewesen“, fuhr er fort, während er die Stute in die Nachbarbox brachte. „Hat er schon