Arnulf Meyer-Piening

Doppel-Infarkt


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Getränk, jedenfalls für diesen Augenblick.

      Der kleine Vogel hüpfte näher zu mir heran, richtete sich auf und blickte mir in die Augen. Aufgeregt flatterte er mit den Flügeln.

      „Was willst du von mir, hast du nicht genug zum Essen bekommen?“ fragte ich ihn. Dreimal tschilpte er und schlug jedes Mal mit den Flügeln. „Ich kann dich nicht verstehen, du willst mir doch etwas sagen. Ich habe keinen Drachen getötet. Ich bin nicht Siegfried.“ Der Vogel saß noch eine kleine Weile, breitete die Flügel aus und flog davon. ‚Der will mir doch etwas sagen, aber was? Da kam mir die rettende Idee: Hatte er nicht dreimal Signal gegeben? Kannte er etwa die Signale aus der Seefahrt? Das Signal bedeutet: ‚Meine Maschine dreht rückwärts.‘ Ob es sich nun um ein Zeichen handelte oder nur ein Zufall war, ich wusste es nicht, aber ich nahm es als ein Hinweis zum Aufbruch.

      „Ich möchte gern zahlen“, sagte ich zu der Kellnerin, als sie wiederkam.

      „Macht sechs achtzig.“

      Ich gab ihr zehn Mark. „Der „Rest ist für Sie, für Ihre Freundlichkeit und für das Aspirin.“

      „War doch selbstverständlich. Kann ich Ihnen sonst irgendwie helfen?“

      „Danke, es geht schon besser, die Tablette hat mit etwas geholfen.“

      „Haben Sie es noch weit bis nach Hause?“

      Ich schüttelte den Kopf. „Ich wohne da oben auf dem Berg.“

      „Das ist aber ein gutes Stück Weg bis da oben“, meinte sie besorgt.

      „Ich werde es schon schaffen!“

      Sie zögerte. „Wenn Sie noch etwas warten, kann ich Sie im Auto mitnehmen, wir schließen in einer halben Stunde.“

      „Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen“, lehnte ich höflich ab. Vielleicht sollte ich wirklich noch etwas bleiben, dachte ich, aber ich wollte unbedingt allein in der frischen Luft nach Hause gehen. Was ich wirklich nicht gebrauchen konnte, war eine gemeinsame Autofahrt mit einer fremden Frau, die schwatzhaft und neugierig war und vielleicht Anschluss suchte. Eigentlich wollte ich nur allein sein, mit niemanden reden müssen, von niemanden gesehen werden. Aber ich fürchtete mich auch vor dem Weg auf die Höhe bei der beginnenden Dunkelheit. Niemand würde mir helfen können, wenn ich den Weg dorthin nicht schaffen würde. Abends ging dort kaum einer hinauf. Die ersten Häuser beginnen erst kurz unterhalb der Höhe, sicher würde ich heute für den Aufstieg eine dreiviertel Stunde brauchen, während ich sonst in einer halben Stunde oben war. Heute war es weit bis dorthin, fast wie eine Reise in ein fernes Land.

      Chicago: The Great Client Award

       Der Flug von Stuttgart nach Frankfurt ging erst um 10 Uhr 50, so hatte Beyer genügend Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Er schlug die Zeitung auf und sah die Überschrift: ‚Ansturm auf Botschaft. In Budapest stürmen ‘DDR‘-Bürger die Deutsche Botschaft‘. Darunter ein Bild von Familien, die über einen Zaun kletterten und Polizisten, die versuchten sie daran zu hindern.

       „Wenn das man gut geht“, sagte Beyer zu seiner Frau, die gerade eine Tasse Kaffee trank. Es scheint sich wirklich etwas zu bewegen. Der Druck im Wasserkessel wird zu groß. Der Honecker kann das Volk nicht mehr auf Dauer im eigenen Land einsperren. Die wollen raus in die Freiheit.“

       „Ich habe gestern Abend einen Bericht im Fernsehen darüber gesehen“, berichtete Elinor. „Es waren ergreifende Bilder: Hunderte Menschen, Familien mit Kindern, kletterten über den Zaun, um in dem völlig überfüllten Botschaftsgelände einen Hoffnungsschimmer auf Freiheit zu erlangen.“ Nach einer Weile des Nachdenkens fügte sie hinzu: „Was wir für ein Glück, dass meine Eltern im April 1945 mit uns Kindern Berlin verlassen haben.

       „Bei uns war es ähnlich, meinte Arnim kopfnickend.“ Nur unsere Familie lebte seit 1943 getrennt: Vater in Bremen, um die Firma so gut es ging am Leben zu halten. Mutter und wir drei Söhne in Thüringen bei den Großeltern. Mutter ist im Sommer 1945 mit meinen älteren Brüdern über die Grenze im Harz geflohen, ich kam dann später mit meiner Großmutter in einem Flüchtlingstreck nach. Ich bin nie wieder drüben gewesen. Eigentlich möchte ich einmal wieder hin. Ob das irgendwann möglich sein wird?“

       Arnim verabschiedete sich von Elinor mit einem flüchtigen Kuss. Ein Taxi brachte ihn zum Flugplatz. Der Flug erster Klasse nach Chicago verlief ruhig und problemlos.

       Beyer las in der ‘Frankfurter Allgemeinen‘ und in der ‘Welt‘ die Berichte und Kommentare zur aktuellen Lage in den Botschaften und in der ‘DDR‘. Es sah wirklich so aus, als ob sich da etwas zusammenbraute, wobei kaum abzusehen war, wie es enden würde. Entweder würde es zu noch stärkerer Repression führen oder Honecker müsste die Grenze öffnen, wenigstens vorübergehend, um den Überdruck im Kessel entweichen zu lassen. Beides war möglich, aber wenn die Grenze auch nur einen Spalt breit geöffnet würde, dann wäre sie wohl nur mit Gewalt wieder zu schließen. Der Drang zur Freiheit und der Sog der D-Mark waren zu stark.

       Beyer hatte große Sorge vor der unübersichtlichen Situation. Er lehnte sich in dem breiten Sessel zurück und schloss die Augen, und schließlich gelang es ihm, Schlaf zu finden, bis er kurz vor der Landung geweckt wurde.

       Der Wagen, der Beyer am Flughafen abgeholt hatte, hielt vor dem Eingang des alten Gebäudes an der Ecke Harrison Street/Michigan Avenue. Er schätzte die gediegene Atmosphäre des alten Clubs und er zog sie der sterilen Einheitlichkeit der modernen Hotels vor, in denen man nie weiß, in welcher Stadt man sich gerade befindet. Hier war es anders. Die hohe Lesehalle mit der Holztäfelung und der Kassettendecke atmete die behagliche Wohlhabenheit der Kaufleute und Industriellen vor etwas mehr als hundert Jahren. Die Bilder an den Wänden in der Vorhalle zeigten Portraits von allen Präsidenten seit der Gründung des Clubs. Edle Möbel standen an den Wänden, alte Perserteppiche bedeckten die gepflegten Parkettböden.

       Beyer wurde wie ein alter Bekannter begrüßt und auf sein Zimmer begleitet. Die Gästezimmer waren klein und hielten den Vergleich mit modernen Hotels keineswegs stand. Aber von den wenigen größeren Appartements hatte man einen schönen Blick auf den Michigan See. Einer dieser aufwendigen Räume war für ihn reserviert worden. Man konnte nur als Gast eines Club Mitglieds dort übernachten. Jack und einige andere Partner waren dort für einen horrenden Jahresbeitrag Mitglied. Damen war der Zutritt nur bei offiziellen Anlässen gestattet. Auch sonst wurden die Traditionen des Hauses sorgfältig gepflegt. Eine dieser Traditionen, die Beyer besonders schätzte, war der große Korb mit frischem Obst sowie die freundliche Einladung zu einem Drink an der Bar. Er bestellte sich einen erfrischenden Saft aus exotischen Früchten und atmete die herbstliche Luft am offenen Fenster, die vom Michigan See herüberzog.

       Jack kam zur verabredeten Zeit. Die beiden begrüßten sich wie alte Freunde. Sie kannten sich aus der Düsseldorfer Zeit, als Jack noch das Deutsche Büro leitete. Er hatte sich in der Zwischenzeit kaum verändert, es sah immer noch wie ‘a big boy in a men’s shoe‘ aus, hatte aber eine steile Karriere gemacht, weil er niemanden auf den Fuß getreten hatte. Er zeichnete sich nicht durch außergewöhnliche Intelligenz aus, aber er konnte Menschen führen, und das war in seiner Position wichtig.

       Er hatte Beyer vor mehr als 17 Jahren als Finanz- und DV-Experten eingestellt. Er sprach seit seiner Düsseldorfer Zeit perfekt Deutsch. Sie fuhren in ein kleines Restaurant an der Randolph Street, von wo man einen schönen Blick auf den Michigan See hatte. Die untergehende Sonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche und ihre die Strahlen brachen sich in vielfältigen Mustern, die über die Vorhänge in immer neuen Varianten huschten. Motoryachten rauschten mit schäumender Bugwelle vorbei, und von dem am Seeufer gelegenen kleinen Flugplatz starteten Privatjets und Propellermaschinen. „Schöner Blick von hier oben, es war eine gute Idee von dir, hierher zu kommen, Arnims Augen leuchteten. Ich war lange nicht mehr in diesem Lokal. Man isst hier vorzüglich, gepflegte französische Küche, sehr europäisch.“