„Bixi, kannst du mir in kurzen Wort die Chemie erklären?“, will Professor Garou von seinem Schüler wissen.
Bixi schüttelt den Kopf. Nyras Hand schiesst in die Höhe. Die hat sich wohl in den Sommerferien ein wenig über Chemie schlau gemacht. Professor Garou ignoriert Nyras Hand und sieht sich in der Klasse um.
„Ely? Weisst du was Chemie ist?“, fragt Professor Garou, der offensichtlich nach mir gesucht hat.
Ich durchwühle in meinem Gehirn und suche nach einer geeigneten Antwort. Was ist Chemie, Ely? „Eine Naturwissenschaft“, überlege ich unsicher. „Chemie ist die Lehre der Stoffe und beschäftigt sich mit dem Aufbau, den Eigenschaften und den Umwandlungen… der Stoffe.“ Das habe ich irgendwo einmal gelesen. Mich wundert das nicht, denn ich habe schon sehr viele Bücher gelesen. In irgendeinem Buch, das ich gelesen habe, ist wohl Chemie erwähnt worden. Das war garantiert kein Fantasy-Buch.
„Stimmt“, sagt Professor Garou, der genauso erstaunt über meine Antwort ist, wie Sissy, die neben mir sitzt.
Wir hatten bis jetzt noch keine einzige Chemiestunde in der Schule gehabt. Chemie nehmen wir heute zum ersten Mal durch.
„Woher hast du das gewusst? Nyra sieht ziemlich enttäuscht aus“, flüstert Sissy mir zu.
Ich schaue zur vordersten Tischreihe, wo Nyra sitzt. Ich kann ihren Gesichtsausdruck von hier aus zwar nicht erkennen, da sie mir den Rücken zugekehrt hat, aber ich kann ihre Enttäuschung spüren. Professor Garou teilt jedem Schüler ein Buch aus. Er erklärt uns die Eigenschaften des Wassers, während meine Gedanken aus dem Schulzimmer schweben und um Sahiras Körbchen kreisen, unter dem sich immer noch die roten Pfotenabdrücke befinden. Was ist, wenn meine Mom mein Zimmer staubsaugt und Sahiras Körbchen hochhebt? Oder, wenn sie mich fragt, wieso so viel Blut auf der Bettwäsche ist? Wird sie mir glauben, wenn ich behaupte, dass ich meine Tage bekommen habe? Wohl eher nicht. Es ist einfach zu viel Blut. Ausserdem habe ich schon seit sechs Monaten keine Menstruation gehabt. Das weiss meine Mutter natürlich nicht. Meine besten Freundinnen bekommen jeden Monat ihre Tage. Nur ich nicht. Vor sechs Monaten habe ich zum ersten Mal meine Tage gehabt. Es war meine erste und letzte Menstruation. Malia hat mich gefragt, ob ich möglicherweise schwanger bin. Aber das kann nicht sein, denn genau wie Jess, bin ich immer noch Jungfrau. Sissy meint, ich solle zum Frauenarzt und mich dort einer gründlichen Untersuchung unterziehen. Zum Frauenarzt will ich aber nicht gehen. Ich bin nicht so erpicht darauf, mich vor einem Mann bis auf die Unterwäsche auszuziehen.
„Elynne Badrey?“ Professor Garou stützt sich auf meinem Tisch ab und sieht mich eindringlich ein. „Hast du etwas zum Thema beizutragen?“
Ich schlucke schwer. Zu welchem Thema? „Nein.“
«Ich würde aber gerne etwas von dir zu diesem Thema hören», beharrt Professor Garou darauf und verschränkt die Arme vor der Brust.
Einatmen. Ausatmen. Ich schaue Sissy an, die zu ahnen scheint, dass ich überhaupt nicht aufgepasst habe. „Mitternachtsblau“, sprudelt aus mir heraus. Was rede ich da bloss?
„Mitternachtsblau?“ Professor Garou sieht mich überrascht an.
„Die Augen des Wolfes waren mitternachtsblau“, entgegne ich kleinlaut. Schlimmer kann die Situation nicht werden.
„Du hast einen Wolf gesehen?“, fragt mich Professor Garou. Er stützt sich wieder mit den Händen auf meinem Tisch ab und sieht mich interessiert an. „Wo?“
Ja, Ely, wo hast du diesen Wolf mit den mitternachtsblauen Augen gesehen? Und sag jetzt bloss nicht im Wald! Irgendwas sagt mir, dass es keine gute Idee ist, wenn ich den Wald erwähne. Ich überlege kurz. Komm, schon! Denk schneller! „Ich konnte wegen dem Vollmond nicht schlafen. Als ich aus dem Fenster in meinem Zimmer rausgeschaut habe, habe ich den Wolf gesehen. Er stand in unserer Wiese und hat in meine Richtung geschaut.“ Eine grandiose Lüge. Jetzt belüge ich schon meinen eigenen Lehrer.
Professor Garou nickt und geht wieder nach vorne zum Lehrerpult. „Zum Glück warst du nicht draussen. Dieser Wolf hat am Waldweg eine Frau umgebracht.“
Ein Raunen geht durch das Klassenzimmer.
„Woher wissen Sie das?“, will Tamera von unserem Lehrer wissen.
„Ein Freund von mir ist Polizist“, antwortet Professor Garou.
Der hat aber viele Freunde. Er hat sicher einen Freund, der Politiker ist. Vielleicht ist einer seiner Freunde Journalist oder Moderator, so erfährt er immer, was ausserhalb von Tossa geschieht.
„Er hat mir erzählt, dass die Frau auf dem Weg in die Stadt gewesen ist. Kurz vor der Stadt hatte sie eine Autopanne. Der Wolf hat sie regelrecht in Stücke gerissen“, sagt Professor Garou zu seinen Schülern.
Alle sind zutiefst schockiert über diese Neuigkeit. Mir wird schlecht, als ich an das viele Blut auf meiner Bettwäsche denke. War ich das etwa? Aber wie kann das sein? Da läutet die Schulglocke und die ganze Klasse packt schweigend die Schulsachen in den Rucksack. Niemand spricht ein Wort. Ich folge meinen Freunden betroffen aus dem Klassenzimmer. Soll ich mich ihnen anvertrauen und ihnen sagen, was letzte Nacht passiert ist? Aber wie soll ich es ihnen erklären können, wenn ich das Ganze selber nicht so richtig begreife? Wir laufen zur Turnhalle und ziehen uns in der Garderobe um. Ich komme mir wie auf einer Beerdigung vor. Haben meine Mitschüler die Frau etwa gekannt? Aber die wissen doch nicht einmal genau, wer diese Frau gewesen ist. Professor Garou hat uns nicht gesagt, wie die Frau hiess. Wahrscheinlich weiss er es selber nicht. Ich will den Namen der Frau auch gar nicht wissen. Schlimm genug, dass ich sie umgebracht habe. Die Turnhalle in unserer Schule ist sehr gross. Die Sekundarschule Wulfilo hat zwei Turnhalle, die A und B heissen. Die Bodengrundfarbe bei Turnhalle A ist grün und bei B ist sie gelb. Dasselbe gilt für die Decke, die bei Turnhalle A grün ist. Die Turnhallen sind doppelt so gross, wie eine normale Turnhalle. Oft turnen zwei Klassen zusammen. Als wir in die Turnhalle reinkommen, sind Nemuel und seine Freunde schon dort und spielen Basketball. Kyara rennt mit strahlendem Gesicht zu Nemuel. Bixi schlägt Murphy den Basketball aus der Hand und stürmt auf den Korb zu. Wie ein Blitz, schiess ich an ihm vorbei und schnapp mir den Ballen. Ich blinzle verwundert und stehe für einen kurzen Augenblick einfach nur da, den Ball in der Hand. Was habe ich da eben gemacht? Wie kommt der Ball in meinen Besitz? Hatte Bixi ihn nicht noch gerade eben gehabt?
Sissy stellt sich neben mich. „Willst du den Ball nicht abgeben?“
Immer noch verwirrt, gib ich den Ball an Sissy ab, die mit dem Ball nach vorne prellt und eine Täuschung macht, um an Murphy vorbeizukommen. Doch Murphy bleibt hartnäckig und versucht ihr den Ball wegzunehmen. Malia kommt angerannt und stellt sich frei, so dass Sissy ihr den Ball zuwerfen kann. Jetzt ist es Malia, die nach vorne sprintet und den Ball versucht in den Korb zu werfen. Nemuel springt hoch und blockt den Wurf ab. Bixi schnappt sich den Ball und rennt zum gegnerischen Korb. Ich schaue zu, wie mein bester Freund an mir vorbeirennt und den Ball hochwirft. Der Ball prallt am Ring des Korbes ab.
Isaac lacht und joggt zu Bixi, der den Ball aufgefangen hat und den Korb in Visier nimmt. „Brauchst du Hilfe?“
„Das ist ziemlich peinlich“, stellt Bixi kleinlaut fest und richtet seine Aufmerksamkeit auf Isaac.
„Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“, zitiert Isaac schulterzuckend.
„Übung macht den Meister“, sagt Kyara und lächelt Bixi zuckersüss an.
Bixi lächelt sie verlegen an. Ich traue meinen Augen nicht. Stehen die beiden etwa aufeinander? Kyara schnappt sich den Ball und zielt auf den Korb. Doch ich bin schneller und springe in die Luft. Mitten in der Luft schnappe ich mir den Ball und werfe ihn in den Korb. Der Ball geht in den Korb und prallt auf den Boden, während ich mich am Ring festhalte und mit den Beinen in der Luft baumle.
„Was für ein Dunking“, meint Nemuel anerkennend.
„Wir bilden zwei Mannschaften! Bixi und Leyth ihr seid die Mannschaftskapitäne und wählt euch eure Teammitglieder aus. Bixi, du beginnst mit Wählen“, ruft Professor Garou, der soeben in die Turnhalle gekommen ist.
Bixi