Reflexe – es waren mehr oder weniger solche, die im Labor untersucht wurden – allein für die Determiniertheit aller menschlichen Handlungen sprechen, darf wohl mit einem Fragezeichen versehen werden.
Nur unter Annahme der Willensfreiheit kann sich ein Mensch auch die Tugend des Gehorsams gegenüber Gott zusprechen, die natürlich einem Automaten nicht als Verdienst anzurechnen wäre. Genau genommen müsste sich der Mensch auch einbilden, sein So sein sich in freier Entscheidung selbst zugelegt zu haben. Denn aus seinem Wesen folgt doch, wie er sich in bestimmten Situationen entscheidet.
„Aber nein, seine Entscheidung erwächst aus dem freien Nichts!“ Warum nennst du dann den einen Betrüger, der dich betrogen hat? Er hat doch eben gerade mal frei und undeterminiert betrogen und kann das nächste Mal ebenso frei und unbedingt, will sagen aus dem Nichts heraus, ganz anders handeln, zum Beispiel dich beschenken. Ein punktuelles Betrugsereignis, aus dem Nichts geboren, kann doch niemanden zum Betrüger stempeln.
Nicht auszuschließen sind höhere Wesen, die, sofern vorhanden und von uns Kenntnis nehmend, in uns kaum mehr als spaßige Äffchen sehen, die sich selbst – was e' Ding, was e' Ding – zu einem absoluten Wert hochschrauben.
Merkwürdigerweise wird als eines der Hauptargumente für die Willensfreiheit die Strafjustiz ins Felde geführt. Ohne die Annahme der Willensfreiheit könne man keinen Verbrecher guten Gewissens seiner gerechten Strafe zuführen. Ein verblüffender Gedankengang. Demnach hätte die Natur sich in ihren Einrichtungen danach zu richten, ob ihre Folgen uns passen oder nicht.
Ferner sei auf folgende Selbstverständlichkeit verwiesen. Die Gesellschaft wird durch Strafen, die den Täter aus dem Verkehr ziehen, geschützt. Durch die Todesstrafe zeitlich unbegrenzt, durch die Haftstrafe zeitlich begrenzt. Zudem erhalten potentielle Täter durch angedrohte Strafen ein Motiv, das ihr vom Willen bestimmtes Abwägen des Für und Wider einer Straftat beeinflussen kann. Je nachdem es sich gegenüber den anderen Motiven behauptet, fällt die Entscheidung – nicht frei aus dem Nichts heraus.
Strafen müssen demzufolge nicht nur angedroht, sondern auch vollstreckt werden. Dieser Täter hier muss bestraft werden, obwohl er nicht anders wollen konnte, damit von dem nächsten potentiellen Täter das Beispiel hemmend ins Kalkül gezogen wird und womöglich mit anderen günstigen Motiven die Oberhand gewinnt. So dass er dann nicht anders kann, als die in Erwägung gezogene Tat zu unterlassen.
Bekanntlich nennt man das die abschreckende Wirkung der Strafe, und es gibt Experten, die wollen deren Untauglichkeit ermittelt haben. Ein Verweis auf die weltweit hohe Zahl bekannt gewordener Straftaten und die damit einhergehende Überfüllung der Haftanstalten reicht dazu allerdings nicht aus. Zwar haben sich die Insassen dieser Anstalten nachweislich von der angedrohten Strafe nicht abschrecken lassen – vornehmlich deswegen nicht, weil sie in ihrer notorischen Selbstüberschätzung davon ausgingen, selbstverständlich nicht erwischt zu werden – , die Zahl der Straftaten aber, die aus Furcht vor Strafe nicht begangen wurden, bleibt dabei vollkommen unbekannt und konnte selbst von Statistikern bislang nicht errechnet werden. So wenig, das sei hinzugefügt, wie die Zahl der Straftaten, die überhaupt nicht entdeckt wurden. Und noch eine Frage, eine ketzerische: wie viele Straftaten mögen gar geschehen sein, gerade weil sie unter Strafe standen?
Zweifelst du weiterhin, ob man nach Entthronung der Willensfreiheit noch guten Gewissens strafen könne, sei dir gesagt: natürlich, mein Guter, kannst du das, denn nicht nur die anderen, sondern auch du hast keine Willensfreiheit und kannst in bestimmten Fällen gar nicht anders als strafen.
Die Art deiner Verteidigung wird dir vom Angreifer vorgeschrieben. Das Unrecht ist zuerst da und schafft zwingend das Recht. In aller Bescheidenheit kannst du demjenigen, der dir Unrecht tut, im schlimmsten Fall das nehmen lassen, was zu den höchsten Gütern der Menschheit gerechnet wird (und doch nur eine Schimäre ist) ─ die Freiheit. Aber bitte nicht mit Geifer. Reagiere so, als hätte dich ein gefährliches Tier angegriffen. Handelt es sich um geringere Übel, entrüste dich so wenig wie über den Blinden, der dich stößt oder das Pferd, das dich tritt.
Mit Gerechtigkeit, Schuld und Sühne hat das freilich nichts zu tun. Wenn schon Schuld, dann liegt eine Gesamtschuld der in sich verwobenen Verhältnisse vor, die den Einzelnen auf einen verbrecherischen Weg nagelten. Als Glied einer ewigen Kette von Ursache und Wirkung kann er noch nicht einmal an dieser Kette rütteln.Und er möge sich, bitteschön, auch nichts auf irgendein persönliches Verdienst einbilden. So wenig nämlich wie die böse Tat kommt die gute unkonditioniert aus seinem Selbst.
Was die Naturkräfte in ihrem unaufhörlichen Spiel mit Ursache und Wirkung vollbringen, dessen Urheber bist du so wenig, wie der Mauerstein der Urheber der Mauer ist. Für die aber ihr Erbauer die Verantwortung trägt. So wäre auch für die Kausalkette, wenn sie nicht ewig wäre, sondern einen Beginn aufzuweisen hätte, derjenige verantwortlich,der sie begonnen hat. Da ein Beginn aber nicht vorliegt – er müsste ja aus dem Nichts entstanden sein – , wir uns daher nicht mit fremder Schuld entschuldigen können, sollten wir uns auf unsere Unschuld verlassen. Besser noch, die Begriffe von Schuld und Unschuld ausmustern. Es reicht vollends, die Last von Ursache und Wirkung zu schleppen.
Ebenso wirst du deine eigenen Taten in keinem Fall mehr bereuen müssen. Deine Reue wäre weiter nichts als ein Vorwurf gegen die Existenz der ewigen Kausalkette, nach der jede Wirkung eine bestimmte Ursache haben muss und nicht aus dem Nichts auftauchen kann. Eine freie Ursache ist eigentlich schon ein Widerspruch in sich. Du wirst die weise Einrichtung der Natur bewundern, Entscheidungen, die dich betreffen, nicht dir zu überlassen, sondern in ihre eigene Hand zu nehmen, so wie das bei Herzschlag, Atmung, Verdauung, Schlaf, Wegducken vor Schlägen, Stößen, Stichen und Wurfgeschossen geschieht.
Und du wirst dich vielleicht der Auffassung nähern, unser Strafrecht verdiente eine Revision.Denn die Mehrheit der Gefängnisinsassen besteht aus Wiederholungstätern mit mehr als einer Vorstrafe. Diese Verurteilten werden stets aufs Neue in die Gesellschaft entlassen, obwohl ihre Strafakte belegt, dass sie nicht anders können als immer wieder straffällig werden. Die Natur hat ihnen die fundamentale Einsicht, sein Glück nicht auf dem Unglück eines anderen aufbauen zu können, versagt. Die fixe Idee von der Willensfreiheit, nach der ein Übeltäter sich nach der 64. Verurteilung die 65. nunmehr zu Herzen nehmen werde ( das habe ich einmal in einer richterlichen Urteilsbegründung gelesen), um in Zukunft ein deliktfreies Leben zu führen, diese fixe Idee stürzt Opfer und Täter wieder und wieder ins Elend.
Beide sind zu bedauern, nicht nur das Opfer. Der Täter auch, weil gegen seinen in eine bestimmte Richtung wirkenden Willen alternative Motive chancenlos bleiben und er damit ein aus der nichtinhaftierten Gesellschaft Ausgestoßener bleiben muss. In der Haftgesellschaft fühlt er sich übrigens nicht als Ausgestoßener. Somit ihm auch von Urteil zu Urteil die Strafe immer weniger ausmacht und er bald zu dem Standpunkt gelangt, Personen seines Schlages seien die normalen Menschen, nur mit denen da draußen stimme etwas nicht. Da ihm zudem, kaum eingerückt, zur Erleichterung der Haftzeit ein vielfältiges Unterhaltungsprogramm angeboten wird, verliert Strafandrohung für ihn mehr und mehr den vielleicht doch noch vorhandenen Rest ihres Abschreckungscharakters. Strengere Haftbedingungen mit dafür kürzerer Haftdauer wären in manchen Fällen effektiver, billiger auf jeden Fall. Auch verweilte der Verurteilte nicht so lange in der schädlichen Umgebung seiner Gesinnungskumpane. Doch davon abgesehen, wie ist ihm und der von ihm bedrohten Gesellschaft zu helfen?
Ab einer bestimmten Anzahl von Straftaten (über diese Zahl ließe sich trefflich streiten) bleibt der Delinquent kaserniert und erhält keine Gelegenheit mehr für eine weitere Übeltat im Außenbereich. In einem nach außen abgeschlossenen Wohnund Lebensbereich lebt er unter seinesgleichen und unter ständiger Beaufsichtigung, aber unter Umständen menschenwürdiger als so mancher Unbescholtene im Altersheim. Aufsicht ist nötig, da die Belegschaft sich andernfalls gegenseitig reduzieren und Zynikern einen Heidenspaß liefern würde.
Was dem Intensivtäter ( früher: Berufsverbrecher) genommen wird, ist die Möglichkeit, seine Artgenossen nach Gutdünken wieder und wieder zu schädigen. Die Gesellschaft jenseits der Mauern und des Natodrahtes wird dann nur noch von denen bedroht werden, die gerade ihre kriminelle Karriere beginnen (wollen) und nicht mehr zusätzlich und weit gefährlicher von den Routiniers. Es sei denn, letztere sind so gewitzt,