vor, wir alle, auch Richard und du würden dazu gehören und hätten dort eine andere Aufgabe, eine gänzlich andere Rolle zu besetzen als hier.
In dieser Welt herrschen andere Regeln und Zusammenhänge und sie ist mit der hiesigen Welt nur durch kleine Tore im Raum verbunden. Diese Tore sind nicht allgemein zugänglich, sondern nur für besonders ausgewählte Personen passierbar. Um sie durchschreiten zu können, benötigen diese Personen eine Ermächtigung vom Obersten ihres Clans. Außer dem was man auf dem Leibe trägt, kann grundsätzlich nichts durch dieses Tor gelangen. Es gibt nur wenige Ausnahmefälle. Das heißt, einzig mit der besonderen Genehmigung des Herrschers können Gegenstände von dort in die hiesige Welt mitgenommen werden. Auf dem Weg nachhause, können nur diese zuvor genehmigten Dinge durch die Tore zurück gelangen. Dadurch wird seit allen Zeiten eine Vermengung der Kulturen verhindert. Aber ich schweife ab." Laurent räusperte sich und setzte seine Erzählung fort. „Diese Welt jenseits des Tores nennt sich Aloronice. In Aloronice gibt es einen König, einen Regenten, einen Anführer, einen Herrscher, ganz wie man es bezeichnen will und seine Aufgabe ist es, in dieser Welt dafür zu sorgen, dass alles im Gleichgewicht, alle friedlich miteinander und im Einklang bleiben. Das ist wahrlich keine leichte Aufgabe, denn es herrschen auch dort Schatten von
Gefahr und Aufruhr, die immer wieder dafür sorgen, dass die ganze Welt ins Wanken gerät.
Im Großen und Ganzen war diese Welt friedlich, bis vor einigen Jahren die Bedrohungen größer wurden, mächtiger und sich stetig weiter ausbreiteten. Bis heute ist es gelungen, diese Bedrohung in Schach zu halten, wenn auch nur unter größter Kraftanstrengung und unter Einsatz einiger, ja auch Menschenleben.
Seit Jahrhunderten lebten die Völker der Menschenähnlichen, der Erdvölker und der Elfengleichen friedlich in Aloronice zusammen. Sie unterschieden sich sehr in ihrer Einzigartigkeit, aber sie hatten gelernt miteinander auszukommen, betrieben Handel untereinander und tauschten schließlich sogar ihr uraltes Wissen gegenseitig aus.
Man einigte sich auf gemeinsame Grenzen und wählte einen übergeordneten Rat, in dem fünf Vertreter jedes Stammes einen Sitz und eine Stimme bekamen. Aus diesem Kreis wurde und wird das Oberhaupt der Völker gewählt und dieses bleibt einschließlich seiner Nachfahren solange im Amt, bis seine Familienlinie ausstirbt, oder sein Clan einstimmig vom Rat der Völker abgewählt wird. Er seinerseits kann diese Wahl nicht ablehnen und bleibt bis zu seinem Tod, und durch seine legitimen Nachfolger auch darüber hinaus, dieser Aufgabe unwiderruflich verpflichtet.
Der jetzt herrschende Clan, ist der Clan der Metamorphen. Er gehört zum Stamm der Menschenähnlichen, dies ist seit mehreren Jahrhunderten nun schon so.
Die Metamorphen sind in der Lage sich vom Menschen in ein Tier und zurück zu verwandeln und können, ihrer jeweiligen Gestalt entsprechend, mit den anderen Völkern kommunizieren.
Das derzeitige Oberhaupt ist sowohl ein Mensch, als auch ein Tier, ein Raubtier, die genaue Art bestimmt seine Veranlagung. Seine direkten Vorfahren waren so und auch seine Nachfolger werden das Raubtierblut in den Adern haben. So gab es die Herrschaft des Bären, des Tigers und die derzeitige Herrschaft des Wolfes. Jedes Clanoberhaupt zeugt seinen Nachkommen, einen Nachkommen, der seine Aufgabe in der Völkergemeinschaft übernimmt, einen Erben wenn du so willst. Das gilt auch für den Herrscher.
Der Sohn des Herrschers wird geboren und wird unmittelbar nach seiner Geburt in das reine, unbeeinflusste Menschenleben geschickt. Das ist wichtig, damit die Raubtierseite, die sehr mächtig in ihm ist, nicht vorzeitig die Überhand bekommt. Auch später wird es immer schwierig bleiben, vom Raubtier zum Mensch zurückzukehren. Aber ohne den Aufenthalt in der „normalen" Welt ist es fast unmöglich, die Art von Kraft und Beherrschung aufzubringen, die dafür nötig ist. Das gilt allerdings nur für die herrschende Familie, alle anderen der Metamorphen sind weniger gefährdet, da ihre Verwandlung nur in Tiere weitaus ungefährlicherer Arten möglich ist.
Ist der Thronfolger also geboren, wird er bis zu seiner Volljährigkeit in der Menschenwelt aufwachsen, meist wird ihm ein erfahrener Metamorph zur Seite gestellt und außerdem begleitet ihn sein vorbestimmter Vasall, sein mit ihm besonders verbundener Gefährte von Anfang an auf dieser Reise ins Erwachsenenleben. Wer das sein soll, wird vom Rat bestimmt.
Auch dieser Gefährte weiß nichts von seiner ursprünglichen Existenz, er gerät genauso jung und unwissend in die Menschenwelt und doch ist er mit jeder Faser seines Daseins mit dem Prinzen verbunden. Auch ihm wird erst mit Eintritt in die Volljährigkeit seine wahre Herkunft und Bestimmung offenbart. Da er meist einige Monate älter ist als der Prinz, kann er schon ein wenig vorher die ersten Eindrücke seines neuen Lebens erfahren und sich zumindest zeitweise, schon vorab in Aloronice umsehen und Vorbereitungen für die Rückkehr des Thronfolgers treffen.
Auch beginnt sein Unterricht etwas früher, damit er dem Prinzen von Anfang an von Nutzen sein kann, wenn dieser seine andere Seite noch erfahren, entdecken und beherrschen lernen muss."
Laurent machte eine Pause, noch nie hatte er eine derartig lange Rede gehalten.
Claude ertappte sich dabei, dass er wie ein Schuljunge lauschend auf dem Sofa saß. Seinen Mund halb offen, hatte er das Gefühl einer Geschichte zu lauschen, die ihm zwar bekannt vorkam - ähnlich einem Märchen, das man in Kindertagen bereits einmal gehört - deren genauen Inhalt er aber gänzlich vergessen hatte.
Richard lehnte noch immer völlig unbeweglich an der Fensterbank. Sein guter, alter, sein bester Freund. Claude überkam ein Schauer, Richard war schon vor einem halben Jahr volljährig geworden und dann bis vor kurzem angeblich in den USA zu einem Studienhalbjahr gewesen, erst seit einer Woche war er wieder zurück.
„Um zum Punkt zu kommen", fuhr Laurent fort, „ vermutlich spürst du es schon, der Thronfolger von Aloronice bist du, Claude! Richard ist dein auserwählter Gefährte und heute beginnt für dich die Reise in dein dir bestimmtes Dasein. Heute wirst du, zusammen mit Richard und mir, zum ersten Mal Rein gehen. Erschrick nicht, noch gibt es mich, den alten Herrscher, noch kannst du alles in Ruhe ausprobieren und deine Fähigkeiten schulen, ich verspreche, dir den Rücken freizuhalten. Es ist noch Zeit, bist du die Verantwortung allein tragen musst. Aber dass sie irgendwann auf dich zukommt und dass du jetzt sehr viel lernen musst ist unausweichlich! Ich hoffe, du bist bereit dazu?"
Laurent schwieg und er und Richard blickten gespannt auf Claude und auf dessen Reaktion.
Lehrjahre
Noch immer saß Claude gänzlich unbewegt, die Beine angezogen, seine Arme fest darum gelegt und starrte ins Leere. Ein paar Sekunden vergingen, als er plötzlich auflachte und sagte „ gute Story, einen Moment lang habe ich sie euch sogar geglaubt, wirklich eine gute Story!"
Richard ging aus dem Zimmer und kam wenig später mit einem länglichen Paket zurück.
„Alles Gute zum Geburtstag alter Freund!", sagte er und überreichte ihm sein Geschenk.
Es war ein Schwert, wunderschön gearbeitet, mit einer kleinen silbernen Platte auf dem Griff, sie war leer und glänzend.
„Dort wird dein Wappen, dein Tier eingeprägt werden, wenn es soweit ist.", Richard sprach, als ob das alles völlig normal für ihn wäre. Das Geschenk seines Großvaters war ebenso prächtig, es war ein Schild, der perfekt zum Schwert passte und eine ebenso glänzende, leere Stelle aufwies.
Er war fassungslos, das konnte doch alles nur ein Witz sein? Gleich würden die beiden aufstehen und über sein dummes Gesicht lachen, aber sie blieben ernst.
„Komm", sagte Laurent, „es wird Zeit, dir deine neue, deine wirkliche Heimat anzusehen! Und nimm deine Geburtstagsgeschenke mit, wir haben sie auf diesem Weg hierhergebracht und so werden sie auch wieder zurück gelangen." Und dann hatten sie ihm diese neue Welt gezeigt, das Land Aloronice.
Es war gar nicht so schwer dorthin zu kommen, wenn man den Weg kannte, das Tor kannte.
Hinten im Garten gab es eine kleine Laube, darin befand sich nicht viel, außer ein paar Gartengeräten wie Harke, Spaten, ein paar leeren Plastikblumentöpfen. Wenn man den alten Stofffetzen am hinteren Ende des Raumes wegzog, stieß man auf eine kleine Tür, die, da sie sehr niedrig, auch sehr unauffällig war.