ab.« Behutsam stellte ich den Karton auf ihrem gigantischen Mahagoni-Schreibtisch ab, schließlich konnte ich ja nicht wissen, ob sich darin tatsächlich nur Federn befanden.
»Spucken Sie schon aus, worum geht es, Frau Lysefjord?« Tiefe Müdigkeit lag auf ihrem Gesicht. Erschöpft ließ sie sich auf ihrem Stuhl am Schreibtisch nieder und lehnte sich zurück. Die Rückenlehne kippte ungewöhnlich weit nach hinten. Bestimmt ließ es sich in diesem Zustand viel besser aushalten, wenn ihr das ein oder andere Mal die Augen zufielen.
Ich räusperte mich lang und verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere. »Es geht um die Lieferung, die Herr Ertsås am Sonntag nach Oslo transportieren soll.«
»Ja?«
Ich räusperte mich wiederholt. »Na ja, ähem, er hat mich gebeten, ihn zu begleiten.« Es war raus.
Ihren Gesichtszügen nach zu urteilen war sie über den Vorschlag weder verärgert noch sonderlich verwundert. »Nun gut, tun Sie sich keinen Zwang an.«
»Die Sache ist aber die ...«
»Sie benötigen einen Urlaubstag.«
»Richtig! Susann, ich meine, Frau Jørgensen würde mich vertreten. Das hat sie mir versichert.«
»Na schön, genehmigt.«
»Was?«
»Der Urlaubstag. Er ist genehmigt.«
Ich platzte fast vor Begeisterung. Wie sollte ich da noch seriös bleiben? »Fantastisch«, rief ich aus und klatschte erleichtert in die Hände. »Ich freue mich so. Ich könnte Sie küssen, Frau Hæreid. «
»Bloß nicht!« Ein knappes Lachen entwich ihr. Ich traute meinen Ohren nicht. Lachen stellte praktisch eine Ausnahme dar.
»Danke, danke, danke. Vielen Dank!« Ich überschlug mich fast vor Euphorie. Um es nicht zu weit zu treiben, verließ ich das Büro in Windeseile. »Susann?«, rief ich.
»Hier!«, rief sie aus irgendeiner Ecke des Ladens.
Ich lief blind drauf los. »Wo bist du?«
Plötzlich kam sie aus einem Gang herausgeschossen. Ohne darauf aus gewesen zu sein, erschrak sie mich fast zu Tode. »Oh, hab ich dich etwa erschreckt?«
Mir standen noch immer die Haare zu Berge, ich war bleich wie eine Leiche und röchelte. Wonach sah das ihrer Meinung nach aus? »Ach Quatsch, ich übe nur für meine Komparsenrolle als Zombie! Selbstverständlich hast du mich erschreckt, was denkst du denn?«
Sie lachte aus vollem Halse. Doch etwas war seltsam daran: Es klang zweistimmig. Erst als eine Stimme hinter mir sagte: »Ich halte mir den Bauch vor Lachen«, erfuhr ich auch den Grund meiner Hörprobleme.
»Håkon, was machst du denn hier?«
»Nette Begrüßung.«
»Lenk nicht ab!«
»Ich hole die Chefin zum Mittagessen ab.« Susann und ich starrten erst einander, dann ihn ungläubig an. »Was ist daran so eigenartig? Es geht um eine banale Lagebesprechung, um nichts weiter.«
Jeder hier hatte schon die wildesten Theorien über Frau Hæreids Gefühle für Håkon aufgestellt, doch niemandem wäre im Traum eingefallen, dass ihm ihr Interesse de facto ins Konzept passte.
»Jeder muss mal essen. Warum sollte er auch nicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden?«, zeigte Susann plötzlich vollstes Verständnis.
Daraufhin trat auch der Grund dafür in Erscheinung. »Was stehen Sie hier herum? Gibt es nichts zu tun?« Frau Hæreid war wieder ganz die Alte.
Damit sie sich das mit dem Urlaubstag nicht noch einmal anders überlegte, lief ich davon und zog Susann am Pulloverärmel hinter mir her.
»Das mit Montag klappt übrigens«, informierte ich sie nun endlich über die Neuigkeiten. Natürlich im Flüsterton.
»Nein!?«, war sie platt. Ebenfalls im Flüsterton.
»Doch, doch«, behielt ich den Flüsterton bei.
»Kneif mich mal«, behielt sie den Flüsterton ebenfalls bei.
Ich kniff sie in den Oberarm. Schweigend.
»Autsch! Doch nicht so doll!«, krächzte sie im Flüsterton.
»Wie sollst du denn sonst feststellen, dass es kein Traum ist?«, erklärte ich jetzt bedenkenlos in normaler Zimmerlautstärke, da die Chefin und Håkon endlich im Büro verschwunden waren.
Auch Susann fühlte sich von keiner Gefahr mehr bedroht und meckerte wie eine Ziege auf der Weide: »Trotzdem musst du meine Haut nicht gleich von rechts auf links drehen.«
»Nun weißt du ganz sicher, dass es wahr ist.« Ich ging zur Kasse herum, denn eine Kundin steuerte diese an, wenn auch nur im kriechenden Tempo.
Noch immer rieb sich Susann die Schmerzstelle. »Nun ist es erwiesen: In Frau Hæreids Brust schlägt ein Herz.«
Zum Feierabend hatten Mailin, Yva und ich uns für eine kleine gemütliche Einkaufstour im umschwärmten Stadtteil Bakklandet verabredet, um die letzten fehlenden Geschenke für die Liebsten zu besorgen. Hier hielt ich mich gern auf, besonders im Winter zur Weihnachtszeit. Alles hier war so wunderschön geschmückt. Girlanden mit Lichtern hingen zwischen den Häusern über uns und leuchteten uns den Weg durch die Altstadt und an beinahe jeder grünen und blauen und roten und gelben Holztür waren Weihnachtskränze angebracht worden. Jeder Laden, den wir betraten, hatte etwas Anheimelndes und lud uns ein, dort eine Zeit zu verweilen und uns aufzuwärmen. Denn dieses Jahr begann der Winter sehr hart, so sehr, dass die Schneemassen, die stetig von den Straßen und Gehwegen gekarrt wurden, in Teilen abtransportiert werden mussten.
Am Ende unseres Bummels hielten wir es für das Beste, den Abend in einem Restaurant ausklingen zu lassen. Schon vorab wusste ich, dass ich die Kosten für Yvas Menü tragen müsste und dass sie das auch ausgiebig zu genießen verstand. Doch heute würde ich nichts dagegen haben. Sie hatte es sich verdient, schon allein, weil sie seit dem Morgen, an dem sie mich über Håkon auszuquetschen versucht hatte, keine Silbe mehr über ihn verloren hatte. Mir war klar, dass meine Eltern sie darum gebeten hatten, mich nicht zu behelligen, damit in den heiligen Tagen kein unnötiger Ärger aufkommen würde, doch sie hielt sich daran, und das war das Kunststück.
Auch ich hatte es mir verdient. Gestern waren wir nämlich endlich mit dem Herrichten unseres Hauses fertig geworden. Am Freitag würden wir endlich den Christbaum kaufen und aufstellen. Dieses Jahr würde es eine Rotfichte sein. Das Aufstellen überließen wir zumeist den Männern. Das Schmücken überließen die Männer dann uns Frauen. Doch das war mir einerlei, denn das war eines meiner Lieblingsaufgaben. Zuletzt würde Yva der Fichte den Stern aufsetzen. Bei dieser Tätigkeit wechselten wir uns ab. So würde Mami nächstes Jahr wieder an der Reihe sein. Wir hielten es auch nicht so sehr mit dem gesellschaftlich vorgegebenen Bräuchen. Wir hatten unsere eigenen Wertvorstellungen, was bedeutete, dass wir den Christbaum weit vor Heiligabend dekorierten, da es die aufgewandte Mühe und Zeit ansonsten nicht rechtfertigte. Nur den Stern setzten wir der Krone erst am Weihnachtsabend auf.
Als wir das Restaurant betraten, waren wir über den Mangel an Gästen sichtlich überrascht. Zugleich erfreute es uns natürlich, denn so war uns ein Platz sicher, sogar an der beliebten Fensterfront. Sofort ergatterten sich Mailin und Yva den direkten Platz am Fenster, wurden praktisch eins mit der Scheibe, während ich mich mit dem Platz auf der Gangseite zufrieden geben musste. Doch ich störte mich nicht daran. Nicht die Bohne. Denn auf diese Weise hatte ich freie Sicht nach draußen und müsste mir nicht den Hals verrenken, falls sich dort spannende Szenen abspielen würden.
Unsere Mäntel und Einkaufstüten hatten wir an der Garderobe abgegeben, darum konnten wir uns richtig fallen lassen und uns breitmachen. Das Gute an uns Norwegern war, dass wir großes Vertrauen in unsere Mitmenschen hatten und nicht vorhatten, es auszunutzen. Das machte Momente wie diesen leicht und bedeutsam.
»Und, hast du nun Montag frei bekommen?«, erkundigte Mailin sich bei mir, während sie die Speisekarte aufnahm