denn etwa nicht mehr? Alles verlief reibungslos bei eurem Abendessen.«
»Natürlich erinnere ich mich noch daran.«
»Na bitte!«
Ich warf einen kurzen prüfenden Blick auf meine Armbanduhr, um das Ende meiner zehnminütigen Pause nicht zu verschlafen. Ich hatte mich auf der Toilette verbarrikadiert, weil das der einzige Ort war, an dem man Ruhe und Privatsphäre fand. Es war nicht einmal unappetitlich, denn nicht nur im Laden, auch hier hing dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr die weihnachtliche Duftmischung aus Zimt und Zitrusfrüchten in der Luft statt der beißende Geruch von Klostein und Urin.
»Und wenn er nur höflich sein und mir nicht sagen wollte, dass er sich mit mir zu Tode gelangweilt hat?«
»Gütiger Himmel, Linnéa! Manchmal glaube ich wirklich, du machst das mit voller Absicht.«
»Was meinst du damit?«
»Dass du, kaum nähert ihr euch an, Gründe suchst, wieder zu mauern.«
»Irrtum! Ich freue mich über jeden Schritt nach vorn.«
»Dann gewöhn es dir ab, ihm Dinge zu unterstellen. Du weißt ganz genau, dass er perfekt ist. Aus diesem Grund hast du auch Feuer gefangen.«
Exakt, er war perfekt. Aber niemand war perfekt. Und erst recht kein Mann. Ausgenommen wenn er homosexuell war. Oder mein Vater. Doch egal wie oft ich es drehte und wendete, ich konnte einfach nichts Übles an Håkon finden. Er war alles, was sich eine Frau nur wünschen konnte.
Neben in sich ruhend, humorvoll, pünktlich und charmant, war er auch kommunikativ, intelligent, galant, verständnisvoll, spontan und lebensfroh. Obendrein hatte er ein unverkennbares Erscheinungsbild. Es war weniger adonisch als vielmehr apart. Seine hellgrauen Augen zogen mich wie eine Spirale in sich hinein und umklammerten mich fest, sodass es kein Entkommen gab. Darum vermied ich es, ihm allzu oft direkt hineinzublicken. Zwar fielen sie leicht ab, doch es lag so viel Wärme in seinem Blick, dass es mich an manchen Tagen richtig schmerzte, weil ich ihn nicht Mein nennen durfte. Und sein Lächeln war einzigartig. Genau genommen glich es eher einem Schmunzeln. In vielen Fällen wirkte er verlegen dabei. Für ihn war das Fluch und Segen zugleich. So konnte er Frauen, die ihm gefielen, leicht um den Finger wickeln, doch Frauen die ihm nicht gefielen, missinterpretierten den Gesichtszug am laufenden Band. So wie ich!
Wenigstens war ich trotz blonder Haarpracht kein kleines Dummchen und mir dessen bewusst. Also litt in mich hinein, statt ihm schamlos auf den Pelz zu rücken. Nun, über ein bisschen Würde verfügte ich schon noch!
»Ich sollte aufhören, mir Hoffnungen zu machen. Er erwidert meine Gefühle nicht. Und wenn er es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht tut, wird er es niemals tun.«
»Mach dir doch nichts vor, Süße. Solange du Gefühle für ihn hast, wirst du die Hoffnung nicht aufgeben können. Das ist quasi miteinander verknüpft.«
»Dann sollte ich schleunigst dafür sorgen, dass sich das ändert. Wollen wir uns am Samstag amüsieren und Jungs aufreißen gehen? Für mich, meine ich?« Denn Mailin war ja längst in festen Händen. Nicht nur das, auch Mutter einer zuckersüßen Tochter.
Mailin räusperte sich. »Bist du dir sicher?«
»Ja, das bin ich! Ich werde nicht jünger und möchte noch in diesem Leben heiraten und Sex und Kinder haben.«
»Ganz ehrlich, Linnéa«, sie seufzte schwer, »würdest du bloß auf deine Prinzipien pfeifen, dann würdest auch du an Sex Gefallen finden.« Sie lachte hell auf.
Woher meine Prinzipien zu diesem Thema kamen, hatte ich bis heute nicht herausfinden können. Ich war nicht besonders religiös und war Sex nicht im Geringsten abgeneigt. Für mich war Sex schlicht und ergreifend ein derart intimes Ereignis, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, ihn mit jeder dahergelaufenen Niete zu praktizieren. Meinen Körper musste ein Mann sich noch verdienen. Wie sonst sollte er ihn zu schätzen wissen, statt ihn nur abzufertigen wie billiges, wesenloses Fleisch? Hinter meinen Prinzipien steckten offenbar bloße Wertvorstellungen, die rein gar nichts mit Ethik, sondern allein mit Selbstwertgefühl zu tun hatten.
Ich vernahm, dass plötzlich jemand die Tür zur Toilette öffnete. Daraufhin machte sich meine Chefin barsch bemerkbar. »Fräulein Lysefjord?«
Ich erschrak heftig und bekam einen roten Kopf, fühlte mich wie ein kleines Kind, das bei etwas Verbotenem ertappt worden war. Nun war ich mehr als glücklich, dass ich mich zuvor in eine der Kabinen eingeschlossen hatte und sie mich so nicht zu Gesicht bekam. Ich machte auch keine Anstalten, zu ihr herauszukommen.
»Ja?«, rief ich zögerlich.
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie das Telefonat beenden und sich zu mir herausbequemen würden.«
»Ich muss Schluss machen«, raunte ich ins Mikrofon und drückte Mailin eilig fort, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich wusste, dass es sie nicht verärgern würde, denn ein jähes Gesprächsende wie dieses war sie längst gewohnt. Noch ehe ich die Kabinentür ganz geöffnet hatte, stellte ich klar: »Ich habe noch zwei Minuten, Frau Hæreid.«
»Herr Ertsås kann sich seine Pausen auch nicht aussuchen. Nun gehen Sie schon und helfen ihm freundlicherweise dabei, die Wacholderbäumchen hereinzutragen.«
Håkon war da? Warum hatte sie das nicht gleich gesagt? Natürlich ließ ich mir das nicht zweimal sagen. »Das ist durchaus ein schlagendes Argument, Frau Hæreid.«
Trotz Eile vergaß ich dieses Mal nicht, mir meinen Mantel überzuziehen und den Schal umzubinden. Auf die Handschuhe, die mich beim Schleppen ohnehin nur behindern würden, und die Mütze verzichtete ich. Als ich den Kleintransporter erreichte, war weit und breit keine Spur von Håkon zu sehen. Ich ging einmal ganz um das Fahrzeug herum, stellte mich auf die Zehenspitzen und reckte meinen Hals, um durch das Beifahrerfenster einen Blick in die Fahrerkabine zu werfen. Doch auch dort hielt er sich nicht auf.
Gerade, als ich wieder in den Laden zurückgehen und dort nach ihm suchen wollte, um ihm in aller Deutlichkeit zu sagen, dass ich die Ware heute nicht wieder allein in den Laden befördern würde und nicht seine livrierte Dienerin war, traf mich plötzlich etwas hart am Hinterkopf.
Ich schrie: »Aua!«, packte mir an die Stelle, an der es schmerzte, und wandte mich um.
Es war Håkon. Er lugte hinter einem dicken Baum hervor und lachte sich ins Fäustchen. Dann bückte er sich, nahm Schnee auf, formte ihn zu einem Ball und schmetterte ihn ein weiteres Mal in meine Richtung. Doch dieses Mal verfehlte er mich um Haaresbreite und der Schneeball flog über meine linke Schulter hinweg.
»Håkon!«, ermahnte ich ihn gackernd und ließ es mir nicht nehmen, es ihm heimzuzahlen. Auch ich nahm eine reichliche Menge Schnee auf, formte eine einigermaßen runde Kugel daraus und warf sie nach ihm. Mir war bewusst, dass meine Chance, ihn zu treffen, gleich null war, solange er sich hinter diesem Baum aufhielt. Darum stakste ich so schnell es mir eben möglich war durch den hohen Schnee auf einer großen Rasenfläche zu ihm. Währenddessen formte ich bereits den zweiten Schneeball. »Du Angsthase, komm hervor und stell dich mir verdammt nochmal wie ein Mann!«
Er ließ sich nicht lange bitten, stürzte hinter dem Baum hervor und eröffnete das Feuer. Dieser Mistkerl! Er hatte die Zeit, die ich gebraucht hatte, um mich ihm zu nähern, genutzt, um zahlreiche Schneebälle vorzuformen. Nicht ein einziger verfehlte mich. Doch wenn er geglaubt hatte, er könnte mich mit dieser Aktion einschüchtern, hatte er sich mächtig getäuscht. Mit den Armen schirmte ich mein Gesicht grob vor den harten Bällen ab, während ich ihm die letzten Meter entgegenlief. Mein Entschluss, ihn mit meinem Schneeball zu liquidieren, war viel zu groß, um nun die Waffen zu strecken.
Als ich ihn beinahe erreicht hatte, lief er die letzten Meter mit erhobenen Händen auf mich zu. »Ich ergebe mich«, wollte er mir ernsthaft weismachen.
»Der Schneeball in deiner Rechten spricht eindeutig dagegen«, ließ ich mich nicht irreführen. »Lass ihn fallen!«
Er zögerte.
»Ich sagte, lass ihn fallen!« Ich hob meine Hand, in welcher ich meinen