Vorstellung sein, die sich die schwarze Umwelt a priori von ihnen machte. Mehr noch schienen sie sich aus der freudigen Erkenntnis zu entwickeln, daß der Tatendrang hier plötzlich nicht mehr an die tausend Schranken stieß, die ihm in Europa gleichgerichtete Dränge der Mitmenschen setzen. Fähigkeiten traten zu Tage, die, wie man schaudernd wahrnahm, ‚zu Hause‘ nicht einmal zu ahnen waren. Sie waren nicht immer nützlich oder auch nur begrüßenswert. Jeder Weiße, der länger in diesen Ländern lebte, verfiel in einen Dauerrausch, mancherorts ‚coup de bambou‘ genannt, der den Blick für sogenannte Realitäten Europas trübte und das Wertesystem verschob, weg vom Perfektionismus, hin zu einer Vorliebe für Improvisationen, von grauer Bescheidenheit zu aus-ladendem Auftreten. Auch Leute, die Land und Leute nicht an sich heranließen, die eine dichte, abgeschlossene Atmosphäre um sich herum aufbauten, verfielen ihm. Auch sie wurden dem Begriff muzungu immer gerechter im Lauf der Jahre.
Leider ist das nur die eine Seite des Muzungutums. Die andere ist ein abgrundtiefes Unvermögen, schwarzafrikanische Denkwege, Motiva-tionen und Empfindungen zu erfassen oder gar daran teilzuhaben, ein Mangel an Sensibilität für Schattierungen zwischenmenschlicher Beziehungen, die den sozusagen ausschließlichen Inhalt schwarz-afrikanischen Lebens ausmachen. Der Europäer ist in schwarzafrika-nischen Augen einsam, wenn auch meistens nicht alleine. Er lebt in einer sozial und psychisch eiskalten Wolke. Sein Interesse für Dinge, die oft weitab der menschlichen Sphäre in schwarzafrikanischem Sinn liegen, ist absurd. Leute vom Land, die nicht eine Schule besucht und dort einen verständnisfernen Respekt vor europäischem Wissen aufgeklebt bekommen haben, mußten über den muzungu, wenn ihm nicht gerade, wie leider nicht ganz selten, die Galle überlief, eigentlich immer lachen. Was er auch tat, sagte oder fragte, war umwerfend komisch und der Drang unwiderstehlich, den Reichtum und die gewiß anerkennungswerten Fähigkeiten dieses freundlichen Narren für eigene Zwecke in Gang zu bringen. Er selbst wußte ja offenbar nichts Rechtes damit anzufangen.
So etwa stellt sich in großen Zügen der muzungu für die Landeskinder dar, ein, milde gesagt, etwas einseitiges Bild. Aber kann das ein Trost sein, wenn wir unsererseits diese Leute so wenig verstehen? Unter all den Menschentypen, die in größerer Anzahl den Erdball bevölkern, setzt vielleicht kein anderer unserem Einfühlungsvermögen soviel Widerstand entgegen wie die schwarzen Afrikaner. Nach jahrelangem Zusammenleben kann man ihre Reaktionen zwar in etwa voraus-sehen, die Empfindungen und Motivationen, die zu ihnen führen, nachzuerleben bleibt unendlich schwer.
Natürlich wird man sich trotzdem bemühen, seine schwarz-afrikanische Umgebung zu begreifen, und ab und zu geht uns auch ein kleines Licht auf. Aber man braucht Jahre und Jahre dazu, und ein muzungu bleibt man doch. Man bleibt eingeschlossen in sein europäisches Denken und Fühlen, und was Afrika uns bietet, zu-nächst werden wir es immer mit den Augen des Weißen sehen. Manchmal kann man dafür auch dankbar sein: Man sieht Vieles, und vieles Schöne, für das die schwarzen Landeskinder offenbar voll-kommen blind sind.
Dieses Buch schildert den Weg eines muzungu zu einem Verständnis Schwarzafrikas, bescheidener und richtiger gesagt, der schwarzen Zentralafrikaner, unter denen wir gelebt haben. Ich will nicht sagen, daß ich wirklich angekommen bin auf diesem Weg, Eben weil ich ein muzungu bin, ist das Verständnis fragmentarisch geblieben, und der Pfad war voller Umwege und Irrgänge. Ich werde Facetten des Lebens in den Ländern um den Kivusee beschreiben, die mein Bild von dem, was uns umgab, verschoben und korrigiert haben, bis es schließlich kaum noch etwas mit den Vorstellungen gemein hatte, mit denen ich nach Afrika gekommen war. Es ist mein persönlicher Weg, und auf ihn möchte ich mich hier beschränken. Ich möchte meine Beschreibung nicht damit belasten, daß ich die zahllosen Afrikabilder anderer diskutiere und mit dem meinen vergleiche. Ich glaube, das kann ich getrost dem Leser überlassen. Nur was an Schriften und Arbeiten anderer zu meinem Verständnis beigetragen hat, soll in meine Schilderung eingehen.
Zu Hause im Kivu
Vor unserem Haus steht eine Bank. Zwei Stützen aus aufgemauerten Feldsteinen und ein dickes Brett darüber, grau vom Regen vieler Jahre, mit einem großen Riß über die ganze Fläche hin. Sie paßt nicht recht zu den beiden Flügeltüren mit ihren vielen kleinen Glasscheiben und ihrem Anspruch auf Schloß, zwischen denen sie an der Haus-wand steht. Aber es gibt keinen schöneren Platz, um zu sitzen und zu schauen.
Unter uns, sechshundert Meter tiefer, liegt der Kivusee, fast zehn Kilometer weit weg. Nur ein kleiner Teil davon ist zu sehen; hohe Grasberge zu beiden Seiten des Panoramas und vor allem die große Insel Idjwi, die sich als langer Riegel durch zwei Drittel des Sees zieht, verdecken das Meiste von ihm. Hinter Idjwi steht die zerklüftete Kette der Berge Rwandas in der verblauenden Ferne. Vom Ufer des Sees mit seinen Buchten, Halbinseln und Grashügeln steigt das Gelände steiler und steiler zu uns empor, ein kleinteiliges Mosaik von Hügelrücken, Senken und Tälchen, über das das frische Grün der Kulturen hinzieht: der satte Farbton ausgedehnter Bananen-pflanzungen, der hellere der Felder von Sorghohirse und Mais und der noch hellere der Bohnenfeldchen, dazwischen immer wieder Feldstücke, die nicht bestellt sind und sich erholen sollen, gelblich von den unzähligen Blüten der Kompositen und Kleinsträucher, die sie gleich nach der letzten Ernte überziehen. Ein Sumpf, der eine Senke mit seinen graugrünen Seggen und dunklen Randgebüschen ausfüllt, ist der einzige größere Fleck in diesem Flickenteppich.
Dieses Kulturland unterhalb unseres Hauses gehört zu den am dich-testen besiedelten ländlichen Gebieten des Kongo-Zaire. Vom See-ufer reicht es bis zu zweitausend Meter über dem Meer auf die Flanken der Berge hinauf und zieht sich bald breiter, bald schmäler den ganzen See entlang. Höher hinauf ist Wildnis, Bergwald und dichte Bambusbestände, in denen die wenigen Pygmäen umher-streifen und Berggorillas zu Hause sind. Eine Gruppe der großen Menschenaffen kommt alle paar Monate auf dem Rundgang durch ihr Territorium einen knappen Kilometer hinter unserem Haus vorbei.
Von der dichten Besiedlung unter uns ist fast nichts zu sehen. Nur direkt vor uns, hinter dem Rasen unseres Gartens, wo eine ausge-diente Fahrstraße zu unserem Haus, jetzt nur noch eine Ansammlung von Erosionsrinnen, ein Anwesen durchschnitten hat, sind zwischen Bananenstauden ein paar Hütten in Bienenkorbform zu sehen. Oder eine frisch gebaute Hütte steht einsam auf einem neu angelegten Feld. Gewöhnlich aber sind die Gehöfte in den Bananenpflanzungen versteckt, und aus der Ferne gibt nur die Vegetation Kunde von menschlicher Tätigkeit. Anstelle des Waldes, der sich einmal bis fast zum Seeufer hinuntergezogen hat, Felder und Grashügel, also das, was der Mitteleuropäer zu Hause bereits als sehr viel Natur anzunehmen geneigt ist.
In dieser Landschaft ist – sehen wir einmal von den wenigen europäischen Gebäuden ab, Fremdkörpern in jeder Beziehung – kein Punkt gesetzt, um den sich jetzige und künftige Geschlechter sammeln und historischen Gefühlen hingeben können, nicht immer zum Guten ihrer Gegenwart. Das unterscheidet die zentral-afrikanische Landschaft zutiefst von den pathetischen Landschaften anderer Kontinente, in denen Schlösser, Tempel oder Kathedralen einen unübersehbaren Akzent in eine Ebene setzen, eine Burg sich einen Felsen, eine Kirche sich eine Halbinsel so vollkommen unter-ordnet, daß alle Linien in ihnen zusammenzulaufen scheinen, in denen sogar ein Hügelchen durch ein Marterl sich selbst entfremdet und zum Träger einer Idee gemacht wird, von etwas so Unseligem wie Deutschlands Bismarcktürmen ganz zu schweigen.
Nicht daß ein Hügel oder eine Halbinsel nicht in den Augen der Einheimischen religiöse oder metaphysische Bedeutung haben könn-te. Sie kann, im Gegenteil, oft wuchtiger und verbindlicher sein als die von Überresten versunkener Epochen anderswo, besonders wenn Hügel oder Halbinsel Sitz eines Heroen oder Stammesgründers sind. Aber man sieht es ihnen nicht an. Sie sind mit Gras überzogen, in den Flanken wachsen ein paar schüttere Akazien mit ihren horizontalen Ästen in mehreren Etagen übereinander, oder sie tragen unregel-mäßige Flecken höchst alltäglicher Pflanzungen, immer wieder Bananen, Bohnen, Sorgho. Sie sind ohne jedes Pathos, ohne Zusammenfassung und damit auch Knechtung ihrer Linien durch Menschenhand, ohne die Wehmut der Vergänglichkeit. Jede Halb-insel gleicht der nächsten. Jeder Hügel ist einer von tausend ähnlichen, die in geringer Variation einander bis zum Horizont folgen und darüber hinaus bis zum Rand des Kontinents.
Man wird nicht müde, die Landschaft im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten zu betrachten. Morgens, kurz bevor die Sonne über den Bergen von Rwanda aufgeht, liegt der See in stumpfem Bleigrau spiegelglatt zwischen den grauen Bergen, deren Runsen im