Peter Kunkel

Muzungu Facetten zentralafrikanischer Jahre


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Grau wie die Berge und so genau horizontal, daß die Berge darauf stehen wie Kurven auf einer Abszisse. Über dem nahen Kulturland hängen Nebelfetzen. Sie geben nur hie und da den Blick frei auf einen größeren Baum oder eine Hügelspitze mit ein paar Bananenstauden. Es ist schneidend kalt. Nie sieht die Landschaft abweisender aus als zu dieser Stunde. Sogar die Vegetation ist optisch weggewischt, vom Herrn der Schöpfung gar nicht erst zu reden. Es sieht aus, als ob selbst die Pflanzen erst einmal erfunden werden müßten, und Gott gerade eben gesagt habe: „Es werde Licht.“

      In der Regenzeit hängen die Wolken oft schwer über dem See. Das Grün bekommt einen düsteren bläulichen Stich. Schmale Regen-vorgänge verdecken einen Teil des Panoramas, allerdings immer nur einen kleinen: Es regnet im Kivuhochland nie anders als in kleinen Streifen und für kurze Zeit. Selten dauert die wolkenbruchartige Flut länger als eine Stunde, bevor sie wieder der Sonne Platz macht. Nach dem Regen ist die Sicht weit, besonders morgens um neun Uhr herum, wenn die Luft reingewaschen ist vom nächtlichen Regen und sich noch nicht wieder mit Dunst und Staub gefüllt hat. Man kann von der Fahrstraße zu unserem Haus aus manchmal sogar drei der acht Virungavulkane sehen, deren Sicht von unserer Bank aus durch den nächsten Grashügel versperrt ist. Sie riegeln den See in achtzig Kilometer Entfernung ab, und aus dieser Distanz wird das einsame Übermaß dieser Bergriesen deutlich, die den See bis zu mehr als dreitausend Metern überragen.

      Deprimierend ist die Trockenzeit von Mai bis September, wenn man von den ersten vier bis sechs Wochen absieht, in denen noch alles grünt und blüht. Später vergilbt und verwelkt ein großer Teil der Vegetation. Graue und braune Töne gewinnen die Oberhand. Nur die Bananenpflanzungen behalten ihr frisches Grün und heben sich scharf ab. Große Wolken ziehen über den Himmel hin, geben aber kein Wasser. Die Luft füllt sich zunehmend mit Staub und Dunst, besonders wenn die Buschfeuer anfangen, in langen Linien über die Grashügel zu laufen und sie schwarz von Asche zu hinterlassen. Zuletzt ist der Dunst so dicht, daß man kaum hundert Meter weit sehen kann, und dort, wo man den Kivusee und die Berge Rwandas weiß, ist graue, formlose Unbestimmtheit. Es ist eine Zeit allgemeiner Reizbarkeit, wie sie anderswo Föhn und Chamsin erzeugen, und in ihr brechen gewöhnlich auch die Revolutionen aus.

      Zu allen Stunden und Jahreszeiten strahlt die Landschaft den Zauber der Unberührtheit aus, dem sich keiner unserer europäischen Besucher je hat entziehen können. Auch dort, wo sich Einheimische in ihr betätigt und breitgemacht haben, bleibt sie unbeschrieben und frei. Hier ist nichts von fremder Hand hineingezeichnet. Die Ge-danken bleiben nicht am gestalteten Ausdruck anderer, fremder Gedanken hängen. Man empfindet die Versuchung, selbst einmal etwas in diese leere Tafel zu schreiben, zugleich aber auch, wie anmaßend und absurd dieser Versuch wäre: Würde nicht auch das Beste in dieser durch und durch nicht menschlichen Landschaft kleinlich wirken?

      Nun, man betrachte, was die Kolonialzeit hier an Marken hinterlassen hat. Ein wenig nach rechts liegt unten am Hang, etwa zwei Kilometer entfernt, das Hauptzentrum unseres Instituts. Von meiner Bank aus sehe ich nur einen kleinen Teil der Gebäude, eine Reihe weißer Häuschen, die zum Dorf für die Angestellten gehören, das Gästehaus in belgischem Landhausstil und den Hauptblock in zartem Rosa, mit Bibliothek, Labors und Verwaltung. Ein englischer Besucher hat ihn etwas unfreundlich, aber nicht ganz unzutreffend als Kreuzung zwischen Naziarchitektur und Maharadjapalast bezeichnet. Die übri-gen Häuser verbergen sich unter dem dunklen Laub der Albizzien-bäume in den Gärten und Anlagen.

      Erstaunlich genug, nimmt die Entfernung den Gebäuden all das, was dem englischen Besucher unangenehm war. Wie auch die wenigen anderen europäischen Gebäude, die man sieht, ein Pflanzerhaus, eine Klinik am Seeufer und eine ferne Krankenstation auf der Insel Idjwi, sehen sie rein funktionell aus. Sie verlieren alles, was sie aus der Nähe an Pompösen haben mögen, und wirken so nüchtern und alltäglich wie ein Bohnenfeld. In den großen Linien der Landschaft kommen sie sozusagen gar nicht vor.

      Niemand würde auf den ersten Blick von hier oben vermuten, daß dieses scheinbar so menschenferne Land übervoll von Menschen ist: Im Anbaugebiet zwischen See und Wald leben, das heißt, lebten bereits in den sechziger Jahren mehr als dreihundert Menschen auf dem Quadratkilometer. Das entsprach der Durchschnittsdichte Bel-giens und der Niederlande. Wenn man daran denkt, wie stark gerade Niederländer und Belgier ihre Länder umgestaltet, wie sehr sie sich im wahrsten Sinn des Wortes in ihnen breitgemacht haben, empfin-det man einen regelrechten Schock beim Anblick dieses übervöl-kerten und doch so unberührt wirkenden Landes. Gewiß, es sind nur die hohen, dichten Bananenstände, die uns den Blick auf die über das ganze Land verstreuten Hütten versperren. Aber wie anders sähe die Landschaft aus, wenn jede Familie ein Bauernhaus europäischen Stils besäße. Solche Unterkünfte ließen sich bestimmt nicht hinter Bana-nenstauden verstecken. Wohin verkrümelt sich diese Masse Menschen? Oder man muß wohl anders fragen: wie klein muß der Raum sein, den jeder um sich herum gestaltet, um so in der Landschaft zu verschwinden?

      Nun, der Wirkungskreis einer bäuerlichen Familie erstreckt sich zwangsläufig auf eine Hofstelle mit ihren Feldern. Im Kivuhochland lebt jede Familie für sich inmitten des Landes, das sie bestellt. Dörfer gibt es nicht. ‚Posten‘ wie Städte sind eine Errungenschaft der Kolonialzeit und heute kaum neunzig bis hundert Jahre alt. Traditio-nellerweise legt man ein Gehöft am liebsten auf der Kuppe eines Hügels an und pflanzt um es herum, was schnell zu ernten, also auch leicht zu stehlen und zu wertvoll ist, um nicht ständig unter den Augen des Besitzers zu bleiben, vor allem die Bananen. Ein paar Fruchtbäume wie Papaya, Orangen oder Zitronen, seit Ende der sechziger Jahre zunehmend auch Kaffeebäumchen, dicht bei der Hütte etwas Tabak und ein Busch scharfer Paprika . Alles andere – Bohnen, Sorgho, Maniok, Erdnüsse, Mais, Bataten und manches mehr – pflanzt man weiter draußen auf den abschüssigeren Teilen des Hügels oder unten an seinem Fuß, wo die bei diesem Verfahren unvermeidliche Erosion die fruchtbare Erde zusammengeführt hat. Diese Felder müssen sich immer wieder erholen und lagen wenig-stens früher zwischendurch für mehrere Jahre brach. In den Brachen weidete das Vieh, das sich sonst sein Futter an Stellen suchen muß, die für den Anbau nicht mehr geeignet sind, an Steilhängen und, vor allem in der Trockenzeit, in den sumpfigen Niederungen, die die Senken zwischen den Hügeln ausfüllen.

      Ein Bild, das allerdings der Vergangenheit angehört. Bei einem Be-such zu Anfang der neunziger Jahre war kaum noch eine Brache zu sehen. Die Dichte der Bevölkerung hatte auf etwa das Doppelte zugenommen, und offenbar könnte niemand es sich mehr leisten, sein Feld auch nur eine Saison unbestellt zu lassen. Und die Kühe? Es gab kaum noch welche…

      Groß waren die Felder allerdings wohl nie. Die mühsame Bearbeitung mit Hacke und Machete setzte ihrer Ausdehnung rasch eine Grenze, auch wenn beliebig viel Ackerland verfügbar war. Klima und Boden erlauben zudem eine häufige Fruchtfolge. So kommt man auch bei nur schwach entwickelter Vorratswirtschaft mit verhältnismäßig klei-nen Anbauflächen aus. Fünfmal im Jahr können Bohnen, das Grund-nahrungsmittel in unserer Region, auf demselben Feld geerntet werden oder zweimal Sorgho. Schon Anfang der sechziger Jahre bestimmte allerdings der wachsende Bevölkerungsdruck die Größe der Felder. Die Hofstätten rückten immer dichter zusammen, und zum Mindesten im Gelände um unser Institut herum gab es keinen Hügel mehr, der nur von einer Familie besetzt gewesen wäre. Aber die Anordnung der Kulturen war noch dieselbe, und die Bana-nenstauden hatten mehr denn je die beiläufige Funktion, den allzu genauen Einblick der Nachbarn ins Familienleben zu verhindern. Heute ist es auch damit vorbei.

      Die Gehöfte sind einfach angelegt: eine blankgefegte Tenne, nackte Erde, auf der kein Pflanzenwuchs geduldet wird, und darauf ein paar Hütten, die Zimmer der Familie gewissermaßen, zugleich aber auch Ställe: eine für den Pater familias und die Kuh, eine für Frau und kleine Kinder sowie Ziegen und Schafe und eventuell weitere für die heranwachsenden Söhne und Töchter, für Gäste, Vieh und andere Zwecke. Meistens sind es nicht mehr wie zwei oder drei. Eine Feuerstelle, von ein paar Steinen eingefaßt, einige Baumstämme, die auf der Tenne liegen und auf denen man sich niederlassen kann, und ein kleiner runder Hirse- oder Bohnenspeicher aus Sorghostengeln mit spitzem Dach vervollständigen die Anlage, die ein niedriger Zaun aus Stecken oder Sorghostengeln umschließt.

      Das Westufer des Kivusees war zu unserer Zeit eine der letzten Regionen Afrikas, in denen die Bienenkorbhütte noch weitgehend in Gebrauch war. Zu Anfang des Jahrhunderts war sie überall im Zwischenseengebiet zu Hause, in Rwanda, Burundi, Südwestuganda