Christine Boy

Sichelland


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bald ändern. Schon bald überzogen Sichelkrieger und Säbelwächter die Länder südlich Valahirs und sie würden keine Gnade kennen. Am ehesten, so fand Rahor, konnte man seine Lage mit einem Traum vergleichen. Er wartete nur darauf, dass ihn jemand wachrüttelte und er sich wieder wie ein Krieger fühlte, der inmitten eines alles vernichtenden Feldzuges stand.

      'Ash-Zaharr, großer Dämon und Herr über die Sichel,' dachte er nun voller Inbrunst. 'In uns allen fließt das Blut der Kämpfer. Gebe dem meinem wieder die Kraft, durch die Adern zu strömen und nicht zu stocken. Auf dass ich das deinige beschützen kann. Selbst wenn du es verabscheust, so willst du es doch nicht verlieren.'

      Glatt und makellos.

      Hart.

      Kalt.

      Ein Bild schoss ihr durch den Kopf. Ein Bild von einem ebenso glatten, ebenso makellosen und ebenso harten Steinboden. Und ebenso kalt. Obwohl diese Erinnerung erst einige Monate alt war, so schien sie ihr doch verschwommen und undeutlich. Es war wie bei einem Schwerkranken, der den eigentlichen Beginn seiner Leiden schon fast vergessen hat.

      Aber sie war nicht krank. Damals, auf diesem Steinboden hatte sie gefühlt, dass sich etwas in ihr veränderte. Irgendetwas war in ihr erwacht, es zeigte sich in Träumen und Visionen, über die sie zunehmend die Kontrolle verloren hatte. Dieser Steinboden hatte zu Akoshs Haus gehört. Zu seinem Keller, in dem sie die verborgen lebenden Cycala aufgerufen hatte, sich für den Kampf bereit zu machen. Den Sichelkriegern hatte sie befohlen, sich ihrer Kelche zu besinnen und den Durst, den sie so lange unterdrückt hatten, wieder zu stillen.

      Doch die Träume hatten sie weiter begleitet. Bis zurück nach Semon-Sey, sogar bis in ihre Gemächer in Vas-Zarac. Das Reinigende Wasser hatte ihr geholfen und sie hatte inzwischen gelernt damit umzugehen. Nur manchmal, wenn ihr sonst so starker Wille einen Riss zu bekommen drohte, da waren sie noch da. Niemand wusste davon.

      Nicht einmal Rahor hatte es bemerkt. Es war noch nicht lange her, nur wenige Stunden. Oder war es noch kürzer? Wie lange lag sie schon hier? Die Sonne war untergegangen, doch der Mond verbarg sich hinter dichten Wolken. Dort drüben war sie am Abgrund gestanden, nur einige Schritte von dieser Felsplatte entfernt. Sie hatte hinuntergestarrt und statt des Abstiegs zu den Sümpfen hatte sich nur endlose Schwärze unter ihr ausgebreitet. Und gleichzeitig war der Schmerz in ihr angewachsen. Glühende Klauen, die ihren Leib zerfetzen wollten. Nein, das war kein Traum gewesen, aber vielleicht auch keine Wirklichkeit, denn obgleich ihr Verstand zu versagen drohte, so war sie sich doch dessen bewusst gewesen, dass sie eigentlich immer noch da stand, ganz ruhig, ohne sich zu krümmen, ohne sich unter diesen Qualen zu winden. Aber sie sah sich auch gefangen in einem undurchdringlichen Nebel, der sie zum Niederknien zwang und der sie hätte schreien lassen, wenn sie denn dazu noch die Kraft gehabt hätte.

      Und dann war alles vorbei gewesen. Der steinige Weg formte sich aus dem Dunkel und um sie herum fiel der Nebel ab. Sie war zu der Platte hinübergegangen, auf der sie jetzt lag, aber es hatte sie sehr viel mehr Anstrengung gekostet, als sie glaubte, noch aufbieten zu können. Niemand hatte es gesehen. Sie hatte den Cas nur noch zugerufen, dass sie mit dem Abmarsch noch ein paar Stunden warten würden.

      Dann hatte sie sich hingelegt. Zum ersten Mal seit vielen Tagen hatte sie das Bedürfnis, einfach nur zu schlafen. Aber ihre Gedanken kreisten unaufhörlich, wurden immer wirrer und unfassbarer. Bis sie kein Gefühl mehr für Zeit und Raum hatte.

      Erst jetzt kehrte langsam eine schwache Klarheit zurück. Die Erinnerung an den Steinboden in Akoshs Haus war ein erster kläglicher Versuch, ihr Denken wieder selbst zu steuern.

      Ein kalter Tropfen berührte sie auf der Stirn. Noch ein weiterer auf ihrer Wange. Regen. Hier im Mittelland war es milder als in Cycalas, auch wenn der Winter sich dem Frühling noch längst nicht geschlagen geben wollte.

      Plötzlich sah sie, wie die Cas eilig ihre Habseligkeiten zusammensammelten und sich in den geschützten Höhleneingang zurückzogen.

      Sie sah es, obwohl sie immer noch dalag und in den Himmel starrte, der ihr weder Sterne noch den Mond offenbarte. Sie sah, wie Haz-Gor zu ihr hinüberdeutete, wie er aber dann auf eine kurze Bemerkung von Rahor die Schultern zuckte und abwandte. Und sie sah Rahor, der diesmal etwas länger als zuvor in ihre Richtung starrte.

      Immer mehr Tropfen prasselten auf sie hinab. Es störte sie nicht. Noch immer versuchte sie zu begreifen, warum sie all das sehen konnte, obwohl ihre Augen nur auf das schwarze Nichts hoch über ihr gerichtet waren.

      „Du wirst immer Mein sein.“ hörte sie es in sich flüstern. Die Stimme, die schon so oft zu ihr gesprochen hatte, war wieder da und sie fühlte, wie sie mit eisiger Kälte erfüllt wurde.

      „Du bist Mein. Ich kann dich sehen lassen, was ich will. Ich kann dich hören lassen, was ich will. Und du wirst das fühlen, was ich will.“

      Kaum waren diese Worte verklungen, verschwand der Himmel über ihr und sie glaubte, aus ihrem Körper gerissen zu werden, der noch immer reglos auf dem Fels lag. Aber gleichzeitig fühlte sie sich, sehr viel wirklicher als in einem Traum, in einem neuerlichen Bild gefangen.

      Ein Gewölbe, nur notdürftig von Fackeln erleuchtet. In der Mitte ein Blutaltar, dessen tiefe Kerben und Rinnen schon schwarz verfärbt waren. Unzweifelhaft hatten auf diesem Stein schon viele Opfer ihren Tod gefunden, aber sie hatten dabei nicht dieselbe Gewölbedecke über sich gesehen. Es war ein Altar, den man vor vielen Jahren von einer Zeremoniestätte hierher gebracht hatte. Sein ursprüngliches Zuhause war nun verwildert, man hatte es aufgegeben und stattdessen unweit davon einen neuen Tempel gebaut. Und diesem auch einen neuen Altar gestiftet. Doch an dem alten hingen zu viele Geschichten, zu viel Vergangenheit. Und nun wies er den Weg in die Zukunft.

      Vierzehn Sichelländer in einfacher Ritualkleidung standen um ihn herum. Einer von ihnen trug mehrere seidene Laken mit sich und hielt sich dicht an dem Ältesten in der Runde, dessen Gewand nicht silbergrau wie die anderen, sondern tiefschwarz war. Jetzt nickte er seinem Nebenmann zu, der darauf hin die Laken neben dem Steinblock auf den Boden ablegte und dann durch eine niedrige Tür verschwand. Der Älteste blickte in die Runde.

      Die Zwölf waren allesamt recht jung, manche von ihnen zählten gerade einmal sechzehn oder siebzehn Sommer. Die meisten starrten neugierig und zugleich auch erschrocken auf das eingetrocknete Blut. Sie wussten, was sie erwartete, oder vielmehr, sie glaubten, es zu wissen, doch kaum einer von ihnen war wirklich darauf vorbereitet. Der Älteste machte sich keine Illusionen, er erlebte es Jahr für Jahr aufs Neue. Nur wenige erhielten die richtige Vorbereitung auf dieses Erlebnis und noch weniger konnten diese dann auch so in sich aufnehmen, dass sie mit dem, was sie erwartete, auch würden umgehen können.

      „Bevor wir in dieses Mysterium eindringen, welches zweifellos eines der geheimnisvollsten und düstersten ist, denen ihr je begegnen werdet, möchte ich euch noch etwas sagen. Fürwahr, großartige Lehrer begleiten euch auf eurem Weg des Himmels, sie lehren und sie bilden aus, sie sind euch Freund und Hilfesteller und zugleich auch eure Kritiker und Aufseher. Keinem von diesen Lehrern möchte ich etwas vorwerfen und doch hat jeder seine Vorzüge und seine Schwächen. Den Erkenntnissen, denen wir heute begegnen, stehen sie mit Ehrfurcht gegenüber und ich muss zugeben, dass selbst die Cycala Angst vor sich selbst empfinden können. Mit anderen Worten – es gibt unter euren Mentoren nur sehr wenige, die euch bereits auf den Weg geschickt haben, den ihr heute zu Ende bringen sollt. Ich fürchte, die meisten von euch werden einmal mit Schrecken an diese Nacht zurückdenken.“

      „W... was meint ihr damit, hoher Ry? Dass unsere Lehrmeister nicht gut genug sind?“ fragte ein besonders junger Mann, der einen ganzen Kopf kleiner war als der Älteste.

      „Oh nein, mein Lieber. Sieh, jeder eurer Lehrer hat euch in dem besonders geschult, was ihm selbst am meisten liegt. Beschwörungen und Zeremonien, Anrufungen und Gebete, Schriften und Überlieferungen. Doch das, was heute auf euch wartet, wird nur von sehr wenigen Priestern in diesem Lande so ausgelebt, wie ihr es lernen solltet. Es gehört zu unserem Reich und zu unserer Religion, ganz gleich was manche sagen. Ihr habt euch für den Weg des Himmels entschieden und ihr wisst, dass er nicht geradlinig ist. Es gibt Abzweigungen und eine davon werdet und müsst ihr heute beschreiten. Stellt euch einen Kreuzung aus elf Wegen vor. Sie ist das Ziel, aber