Christine Boy

Sichelland


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Haus war sie nach vielen Jahren zurückgekehrt. Sie liebte es und auch wenn sie hier schwere Zeiten erlebt hatte, so fiel es ihr doch ungemein schwer, ihm Lebewohl zu sagen.

      Die anderen drängten nicht. Es galt zwar, zu Tagesanbruch Semon-Sey so weit wie möglich hinter sich gelassen zu haben, doch auf diesen einen Moment kam es nicht an.

      Dann endlich atmete das Mädchen tief durch, nickte kurz und kehrte ihrem Heim den Rücken. Ohne sich noch einmal umzudrehen oder auch nur ein Wort zu sagen, ging sie an Mo, Wandan und Mondor vorbei und trat auf die Straße hinaus, die zum Osttor führte.

      Eine ganze Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Es war Mondor, der zuerst wieder Worte fand.

      „Wir haben einige Schwierigkeiten vor uns. Yto Te Vel ist kein Ort für alle Cycala. Die Batí dort werden es nicht gern sehen, wenn fremde Stämme dorthin kommen.“ Es war klar, dass er von Mo und Racyl sprach, ohne dass er es besonders betonte.

      „Werden wir in Yto Te Vel überhaupt finden, wonach wir suchen?“ fragte Mo.

      „Das weiß niemand. Wir suchen nach dem Erben des Himmels und den Legenden zufolge kann er kein Batí gewesen sein. Ash-Zaharr übertrug sein Blut und nur der Erbe der Nacht gab das seinige weiter und begründete so den elften Stamm. Allerdings besitzen die Batí die ältesten Schriften Cycalas. Sie verwahren viele Geheimnisse, nicht nur ihre eigenen. Wenn wir dort nicht fündig werden, glaube ich kaum, dass es sonst noch irgendwo einen schriftlichen Hinweis gibt.“

      „Was ist mit Zarcas? Ist dort nicht die größte Bibliothek des Landes?“ wollte Wandan wissen.

      „Groß ist sie, das ist wahr. Aber doch vergleichsweise oberflächlich. Abgesehen davon wäre es ungleich schwerer, dort an alte Dokumente zu kommen. Mein Grad reicht dafür nicht aus und gerade in Zarcas sind die Priester uns gegenüber sehr misstrauisch. Sie stehen voll und ganz unter Talmirs Befehl.“

      „Gibt es.... denn nur die Schriften?“ fragte Racyl zaghaft. „Haben wir keine andere Möglichkeit, es herauszufinden?“

      Mondor schien nachdenklich. „Andere Möglichkeiten gibt es sicher. Aber um zu wissen, welche das sind, müssen wir erst einmal dort anfangen, wo die Wahrscheinlichkeit am größten ist. Und das ist nun einmal Yto Te Vel. Ich will euch nicht verhehlen, dass man über eure Anwesenheit nicht begeistert sein wird. Aber Wandan und ich... Nun, unser Ansehen dort ist nicht das schlechteste. Wenn wir uns für euch verbürgen – und ich hoffe doch, dass ihr diese Wertschätzung nicht enttäuscht – wird man euch zumindest dulden. Mehr können wir nicht erwarten. Ihr werdet in meinem Hause dort zu Gast sein. Es schadet auch nicht, wenn wir uns eine Weile dort aufhalten, bis sich zumindest die Lage in Semon-Sey beruhigt hat. Talmir und Imra müssen versuchen, das Land in diesen Zeiten weiter am Leben zu erhalten und es wird einige Zeit dauern, bis sie sich zumindest in diesem Punkt einigen.“

      Eine zeitlang dachten alle über diese Worte nach und erst der Anblick der Stadtmauer riss sie wieder aus ihren Gedanken.

      „Nun denn, schönes Semon-Sey...“ Übertrieben theatralisch verneigte sich Mondor noch einmal in Richtung der Stadt. „Du warst mir ein wundervolles Zuhause. Ich hoffe, du bist es auch noch, wenn ich irgendwann zurückkehre.“

      „Wie düster und still dieser Ort doch ist, jetzt wo alle fort sind. Wenn man aus dem Fenster schaut, so gibt es nichts, weswegen sich ein solcher Blick lohnt.“ Melancholisch wandte sich Imra von dem leeren Burghof ab. „Die Krieger sind gegangen, nur wenige sind geblieben, um dieses heilige Land zu schützen. Und auch alle anderen scheinen uns den Rücken zu kehren. All jene, die ich meine Freunde nenne.“

      „Das Leben eines Shaj ist einsam, Herr.“ sagte Afnan ernst. „Ganz besonders in Kriegszeiten.“

      „Ich glaube nicht, dass man Talmir als besonders einsam beschreiben kann.“

      „Herr, mit Verlaub, aber die Menschen, mit denen Talmir sich umgibt, würde ich auch nicht unbedingt seine Freunde nennen. Es sind Günstlinge, Kriecher und gierige alte Männer, die nicht auf ihr bequemes Leben verzichten wollen und die glauben, nur Talmirs Wohlwollen könne es ihnen erhalten.“

      „Du bist wieder einmal unangenehm ehrlich, Afnan. Was glaubst du, wie viele der Menschen, die ich meine Freunde nenne, sind es wirklich?“

      Er ging zu seinem Arbeitstisch und nahm dahinter in einem Sessel Platz. Der Hauptkämmerer stand noch immer an der Tür, in seinen Händen ein Tablett mit einer Weinkaraffe und einem schlichten Kelch.

      „Setz dich zu mir. Und nimm dir einen Becher vom Tisch dort. Lass uns zusammen Wein trinken und erzähle mir, was du wirklich denkst.“

      Natürlich war es für Afnan eine große Ehre, vom Shaj der Erde zu einem Becher Wein eingeladen zu werden, doch er fühlte sich auch ein wenig unbehaglich. Nichts lag ihm ferner, als Imra zu belügen, doch ebensowenig wollte er ihn verletzen.

      „Du zögerst? Mach dir keine Sorgen. Ich möchte deine Meinung hören, weiter nichts. Es muss ja nicht die meine sein.“ Der Shaj lächelte schwach. Er sah zu, wie Afnan sich gehorsam einen Becher vom Gasttisch nahm, dann beide Trinkgefäße mit Wein füllte und den Kelch mit einer leichten Verbeugung zu ihm hinüberreichte. Schließlich nahm er auf der Kante eines Hockers Platz.

      „Wie geht es deinem Sohn?“ fragte Imra plötzlich.

      „Meinem Sohn?“ Afnan war erstaunt. „Oh, dem geht es gut. Er ist wieder vollkommen gesund. Ohne die hohe Heilerin... Wer weiß, ob ich ihn dann noch bei mir hätte.“

      „Ich verstehe. Du magst Sara sehr, nicht wahr? Nein, du musst darauf nicht antworten. Ich habe nicht geglaubt, dass du gerade ihr misstraust.“

      „Gewiss nicht, Herr.“

      „Nun, ich freue mich. Und natürlich freue ich mich auch, dass ihre Heilkunst deinem Sohn helfen konnte. Kinder sind etwas Wunderbares. Ich hatte einst eine Tochter, doch sie starb und ich durfte sie nicht aufwachsen sehen. Mir scheint, nur wenigen, die einen Teil ihres Lebens hier in dieser Festung verbringen, wird dieses Glück zuteil.“

      Darauf wusste Afnan nichts zu sagen. Wenn er so darüber nachdachte, hatte Imra sicher recht, aber es war ihm noch nie aufgefallen. Die Cas waren allesamt die Söhne bedeutender Krieger, doch sie selbst schienen ihre eigene Linie nicht fortführen zu wollen, abgesehen von Karuu, dessen kleine Söhne schon jetzt dem Vater nacheiferten.

      „Weißt du, man muss nicht selbst Kinder haben, um Freude über sie zu empfinden. Denk nur an Menrir. Er war Saras Lehrmeister und für ihn war es eine besonders glückliche Aufgabe, die jungen Novizen zu unterrichten. Wusstest du das? Er nahm immer wieder einen weiten Weg auf sich. Von Elmenfall bis zum Nebeltempel. Ein weiter Marsch für einen Mann in Menrirs Alter. Und doch tat er es, aus reiner Freude am Lehren.“

      „Ich habe davon gehört, Herr. Aber Novizen... sind keine Kinder mehr.“

      „Nein...“ lachte Imra. „Das sind sie nicht. Und doch leben Kinder im Nebeltempel. Sie wachsen dort auf und wenn die Zeit und ihr Geist reif sind, dann beginnen sie dort ihre Ausbildung. Natürlich sind es nicht viele. Aber auch Sara war eine von ihnen. Es ist die Jugend, die Menrir in den Tempel zog. Sag mir, Afnan, kann jemand, der eine solche Freude an der Jugend empfindet, …kann so jemand die Alten hintergehen?“

      „Ihr zweifelt an Menrir, Herr?“

      „Ich frage, ob du an ihm zweifelst.“

      „Er verbringt viel Zeit mit Akosh, Herr. Doch ich glaube, dass Sara ihrem alten Lehrer noch immer vertraut. Und dann tue ich es auch.“

      „Aber wenn ich es recht verstehe, genießt Akosh dieses Vertrauen wiederum nicht. Weder das deine, noch das Saras.“

      Afnan sagte nichts.

      „Akosh.“ Imra hielt seinen Kelch ins Licht. Der Wein glitzerte. „Ascoro Min Lyva. Ein grandioser Kämpfer und eine faszinierende Geschichte. Ich habe viele wunderbare Erinnerungen an ihn. Wie oft habe ich mein Haupt vor ihm geneigt. Er war ein so hochgestellter Krieger, selbst als er kein Cas mehr war. Und ich war nur ein einfacher Weber.“

      „Ein