Christine Boy

Sichelland


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allmählich geheilt waren, ihr Geist aber immer mehr zu verenden schien. Immer häufiger und länger waren die Stunden geworden, in denen sie gar nichts mehr dachte, sondern nur noch wie willenlos Schritt für Schritt weitergegangen war. Diese Sümpfe hatten sie gelehrt, zu vergessen.

      Und doch empfand sie dafür keine Dankbarkeit. Denn diesen Ort selbst hatte sie nicht vergessen können. Ihm jetzt wieder zu begegnen, war wie die Rückkehr zu dem alten Ich, das sie hier abgelegt hatte. Das alte Ich, das kurz zuvor schon den Tod gefunden hatte und das sie hier ebenso begraben hatte, wie es die alten Mittelländer mit ihren Ahnen getan hatten.

      „Wir reiten die Nacht durch.“ sagte sie wie von selbst. Sie wollte keinen Augenblick länger als nötig hierbleiben.

      Erleichtert trieben die Cas ihre Pferde an.

      Yos brach in schallendes Gelächter aus. „Ne, is' nich' wahr, oder? Nee nee. Sie hat's dir nich' gesagt?“

      „Warum hätte sie das auch tun sollen? Ich war die Dienerin einer Botschafterin, das schien ihr zu genügen.“

      „Na, am Anfang. Aber soviel Humor hätt ich ihr nich' zugetraut. Schleift dich wochenlang mit, durch halb Sacua und sagt dir nich' mal, mit wem du es zu tun hast. Wann hast es denn erfahren?“

      „Als wir Vas-Zarac erreichten. Ich hatte vorher schon ein seltsames Gefühl. Schon bei unserer Ankunft in Askaryan.“

      „Wieso 'n das?“

      „Die Tore gingen auf, wie von selbst und die Menschen auf den Straßen haben sich verneigt. Und dann... Wir waren bei Talmir und ich habe mich gewundert, dass sie so einfach zu einem Herrscher durchgelassen wurde und… ihm nicht gerade besondere Ehrerbietung entgegenbrachte.“

      „Na, das hat sie ja wohl nich' nötig, ne? Ja, so isse. Hier dachten alle, sie wär' verschwunden oder noch schlimmer. Da ham doch wirklich Leute erzählt, sie wär' vielleicht sogar tot. Und zur selben Zeit macht sie sich nen Spaß und verheimlicht dir, dass sie die Shaj der Krieger is'.“ Noch immer grinste Yos. Er machte keinen Hehl daraus, dass er Lennys die Bewahrung dieses Geheimnisses über einen so langen Zeitraum hoch anrechnete.

      Seit Stunden schon verlief seine und Saras Fahrt entlang der cycalanischen Westküste ereignislos. Der Wind füllte ihr Segel, der Himmel war klar und wolkenlos und die steilen Felsklippen, an denen sie sich gut orientieren konnten, vermittelten die Illusion eines unüberwindbaren Schutzwalls, der Feinde und neugierige Beobachter fernhielt. Yos ließ Sara immer wieder das Steuer übernehmen, so dass sie recht schnell an Übung gewann, auch wenn ihr das Segeln nicht so leicht von der Hand ging, wie der Umgang mit dem Säbel. Von diesem konnte Yos allerdings seinen Blick nicht mehr abwenden, kaum, dass er ihn unter ihrem Umhang hatte hervorblitzen sehen und schließlich hatte er seine Neugier nicht mehr bezähmen können und fragte, woher sie denn eine so herrliche Waffe habe. Und wie sie überhaupt ins Sichelland gekommen war.

      Sara war froh, dass Yos ein wenig Interesse zeigte. Nicht, weil sie gern von sich erzählte, sondern weil sie das Gefühl hatte, wenn sie sich nur ein wenig besser kennenlernten, würde der Fährjunge auch bald nicht mehr so verbissen darauf beharren, diese Reise sei eine einzige Dummheit, die er zutiefst bereue.

      „Manchmal...“ gab Sara zu, „... Also ich hatte einmal den Eindruck, dass sie glaubte, den richtigen Zeitpunkt verpasst zu haben, es mir zu sagen. Nein, das ist nicht ganz richtig. Aber als wir damals vor Vas-Zaracs Toren standen und sie mir sagte, wer sie wirklich ist, … Ah, ich kann es nicht erklären. Es kam mir einfach so vor, als hätte sie in diesem Moment bedauert, es nicht früher gesagt zu haben.“

      Entgegen ihrer Erwartung lachte Yos nicht. Sein Mund wurde schmal.

      „Weißte, es heißt immer, wir einfachen Leute würden nichts mitkriegen. Die sagen immer, wir wüssten nichts von der Burg und so, ne? Nee, wir sind ja nich blind. Hast ganz schön für Aufsehen gesorgt.“

      „Ich?“

      „Na klar. Bist ja die erste Fremdländerin da oben. Ich mein' jetz', die da auch wohnt. Nich' nur 'n Gast wie der Heiler. Gehörst ja schon fast dazu. Die Leute reden halt. Fragen sich alle, warum sie dich so an sich 'ran lässt. Weil du ja auch 'ne Heilerin bist. Denken halt viele, sie wär' krank oder so. Und wenn du das jetzt so sagst, dass es ihr vielleicht leid getan hat... Weißte, das passt nich' zu ihr. So jemand isse nich'. Vielleicht isse ja doch krank, ne? Aber das wirste mir kaum sagen...“

      Sara seufzte.

      „Sie ist nicht krank. Oder wahnsinnig oder verrückt oder was die Leute sonst so sagen. Wenn du das meinst.“

      „Naja, so ungefähr schon. Stimmt ja auch, haste ja schon selber mitgekriegt, richtige Heiler ham wir hier nich'. Is' ja kein Wunder, dass man da sowas denkt. Wenn du da plötzlich auftauchst. Und wenn ich jetz' seh, wie du ihr nachrennst. Aber naja, das ham schon andere gemacht.“

      „Andere?“

      „Naja, gab früher ab und zu mal so Mädchen, die dachten, sie wären was Besonderes und so. Die ham gedacht,… na, is' ja auch egal. Aber du bist n bisschen anders. Hast mehr Biss als die. Die sind reihenweise rausgeflogen bei ihr. Ham sich danach die Augen aus'm Kopf geheult. Aber in den Süden wär' keine von denen gegangen, neee.“

      „Diese anderen...“ meinte Sara zögernd. „Kennst du sie? Ich meine,…“

      „Nee, kenn ich nich. Also eine war da mal, da schien's 'n bisschen ernster zu sein. Irgendwie 'ne Schwester von 'nem Cas oder so, ne? Aber ging auch vorbei. Die hat dann keiner mehr gesehen, is' wohl weggegangen. Nee, die Shaj, die lässt keine an sich ran. Nich' so, wie sie es gern hätten. Weißte, vielleicht kannste froh sein, dass du nur 'ne Dienerin von ihr bist. Vielleicht biste nur deshalb noch da. Da sind ständig Mädchen in der Burg und nach einer Nacht kommen se zurück und denken, sie wären jetz' 'ne riesen Nummer. Aber von denen will se dann nichts mehr wissen. Is' scheinbar nich' gut. Wenn man ihr zu nah kommt, is' man danach weit weg.“

      Unwillkürlich dachte Sara an die Nacht in Balmans Haus. Danach hatte sich wirklich vieles geändert. Und sie waren einander nah gekommen. Sehr nah. Vielleicht wirklich zu nah. Nicht aus ihrer Sicht, das hatte sie sich längst eingestehen müssen. Aber aus Lennys' Sicht – da war sie sich inzwischen sicher.

      „Ich glaube, du bist ein guter Schauspieler, Yos.“ sagte sie dann freundlich.

      „'N Schauspieler? Willste mich beleidigen?“

      „Gar nicht. Im Gegenteil. Ich glaube, dass du sehr viel klüger bist, als du zeigst. Ich habe dich wohl unterschätzt. Zuerst dachte ich, du wärst ein Wichtigtuer. Bis ich gemerkt habe, wie viel dir an deinem Onkel liegt. Dann dachte ich, du wärst ein Feigling. Bis mir klar wurde, dass du nur vorsichtig bist. Das ist etwas anderes. Und ich dachte auch, dass du dich nur für dich interessierst und gar nicht versuchst, andere zu verstehen. Aber jetzt höre ich, wie du dir Gedanken gemacht hast. Wahrscheinlich hast du auch recht damit. Und all das hat auch sehr viel mit Klugheit zu tun.“

      „Willst mich auf'n Arm nehmen, ne?“ Aber er konnte nicht verbergen, wie sehr ihn Saras Worte freuten. „Willst mich aber nich' 'rumkriegen, oder?“

      Nun war es an Sara, lauthals zu lachen.

      „Nein, wirklich nicht, Yos. Keine Sorge, du musst dich nicht gegen eine aufsässige Fremdländerin wehren. Ich sage nur ehrlich, was ich denke. Das würde ich auch tun, wenn es unangenehm wäre.“

      „Na dann.“ Er schien erleichtert. „Wär' wohl auch nich' so gut gewesen. Weißte, in der Burg, da schaut man schon, wer sich mit wem einlässt. Und falls du jemals wieder da hin kommst, … Na, die wären nich' begeistert, wenn du da 'nen Fährmann an der Angel hättest, ne?“ Sein Grinsen kehrte zurück. „Vor allem der eine da, der fänd' das nich' lustig.“

      „Wen meinst du?“

      „Na den Rahor, den Obersten Cas. Ich glaub, das war sogar seine Schwester damals, die da was mit der Shaj hatte. Aber dich, dich mag der schon, kannste mir sagen, was du willst.“

      „Wir sind Freunde, mehr nicht.“

      „Nee, aber deswegen kann er doch