Christine Boy

Sichelland


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zur Hoffnung. Zu recht, wie sich bald herausstellte. Die Verehrung, derer Saton sich rühmen konnte, war auch Lennys zuteil geworden, auch wenn sie ihrem Vater längst nicht in allen Bereichen ähnelte. Aber das tat ihrer Beliebtheit und dem Respekt, den man ihr gegenüber empfand, nicht den geringsten Abbruch. Vielleicht strahlte sie sogar noch ein wenig heller.

      Wie lange noch? Und vor allem: Was kam dann? Fast jeder verschloss sich diesem Gedanken. Die Wahrheit war bitter und nicht zu leugnen. Lennys hatte keine Kinder. Und allein die Vorstellung, sie könne je einen Nachkommen zur Welt bringen, war absurd. Mit ihr würde eine Linie sterben, die das Sichelland beherrscht hatte wie keine andere. Nicht wenige Cycala waren der Meinung, dass Lenyca Ac-Sarrs Tod – wann auch immer er kommen würde – nicht nur das Ende einer uralten Dynastie war, sondern dass er ein neues Zeitalter bedingen würde. Ein Zeitalter, dass sich wiederum niemand vorstellen mochte.

      Was viele nur fürchteten, war für Rahor zur Gewissheit geworden. Das Geheimnis, das Lennys umgab, das Geheimnis der Ac-Sarrs, würde verloren gehen. Es gab kaum etwas, was ihm Angst machte, doch dieser Gedanke erfüllte ihn mit grenzenlosem Schrecken. Dazu kam die Aussichtslosigkeit, es zu verhindern. Menschen starben. Der Tod war ein Teil des Lebens, für jeden unausweichlich. Wie lächerlich erschien doch in Anbetracht dieser Aussichten ein Krieg wie dieser, in dem es nur darum ging, sich an einem unwürdigen Volk zu rächen. Oder war es doch mehr? Hatte nicht die Tatsache, dass ein Verräter ihres eigenen Landes den großen Saton getötet hatte, diese Aussichtslosigkeit erst ausgelöst?

      Wäre Saton noch am Leben, wäre vielleicht auch die große Veränderung ausgeblieben, die in Lennys stattgefunden hatte. Und vielleicht hätte sie dann doch die Linie weitergeführt. Vielleicht.

      Rahor wischte den Gedanken weg. Er war nicht der Mann, der sich über Dinge den Kopf zerbrach, die nicht zu ändern waren. Schon früh hatte er gelernt, sie hinzunehmen und immer wieder war er darin bestätigt worden, dass es besser war, seine Energien dort aufzuwenden, wo sie Sinn machten und sie nicht zu verschwenden in aussichtslosen Träumereien.

      Er kehrte zurück ins Hier und Jetzt. Das Bild seines Landes, an das er so voll Sehnsucht gedacht hatte, verschwand und die nebelverhangenen Sümpfe traten wieder in den Vordergrund. Hin und wieder glaubte er, dass die Hufe seines Pferdes nun etwas härter aufschlugen, als würde sich der Untergrund langsam wandeln und der Morast mehr und mehr schwinden, doch möglicherweise spielten ihm seine Sinne einen Streich, gerade weil er es sich so wünschte. Auch die anderen Cas ließen sich nicht anmerken, ob sie ähnlich empfanden. Ein kurzer Blick nach Osten verriet, dass der Morgen noch auf sich warten ließ, auch wenn sich der Himmel dort schon leicht aufhellte. Bis zum eigentlichen Sonnenaufgang war es noch lange hin.

      Müde blinzelte Yos zur Steilküste hinüber. Seine Augen tränten im Wind, aber das störte ihn nicht. Es war wichtiger, rasch voranzukommen und ebendieser Wind war derzeit ihr stärkster Verbündeter.

      Am Heck der Barke hatte sich Sara unter einigen Decken zusammengerollt und schlief. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie erst ab dem Morgengrauen das Steuer übernehmen sollte, so dass er dann ein wenig ruhen konnte. Es war besser, wenn er als der weitaus erfahrenere Steuermann und zudem noch dunkelheiterprobtere Sichelländer in diesen tückischen Stunden die Arbeit übernahm. Außerdem hatte er schnell gemerkt, dass Sara wohl in den letzten Tagen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gekommen war. Anscheinend hatte sie sich nicht ausreichend Schlaf gegönnt, von dem sie ja doch mehr benötigte als die Cycala.

      Inzwischen empfand Yos mehr Respekt vor der Heilerin, als er anfangs für möglich gehalten hatte. Obwohl Sara ausgesprochen bescheiden von ihren Erlebnissen der letzten Wochen und Monate berichtet hatte, war ihm doch nicht entgangen, dass sie durchaus nicht zu unterschätzen war. Er nahm an, dass diejenigen, die engeren Kontakt zu ihr hatten, wie zum Beispiel der hohe Cas Rahor, aber auch der Heiler Menrir oder nicht zuletzt Imra, der neue Shaj der Erde, nicht ohne Grund ihren schnellen Aufstieg in der strengen Hierarchie Vas-Zaracs unterstützten. Immerhin war sie nicht nur die Leibdienerin Lennys', sondern als oberste Heilerin der Burg inzwischen durchaus eine Person hohen Ranges, selbst wenn ihr dies gar nicht klar war. Wäre sie eine Sichelländerin, so hätten viele Cycala auf der Straße das Haupt vor ihr geneigt.

      Nach allem, was er inzwischen herausgefunden hatte, war ihre Abstammung tatsächlich Saras größtes Problem. Sie war mutig, klug, talentiert und überdies sogar eine recht brauchbare Säbelkämpferin, Dies hatte sie ihm natürlich nicht selbst berichtet, aber Gerüchte über ihr Geschick mit der Waffe hatten bereits kurz nach ihrer Ankunft in Semon-Sey die Runde gemacht.

      Yos war nicht dumm. Manchmal hatte er Schwierigkeiten, seine Gedanken in richtige Worte zu fassen, die aber, wenn es ihm doch gelang, nicht besonders weise klangen. Aber er hatte ein Gespür für die Gefühle der Menschen und häufig erwiesen sich seine Vorahnungen als richtig. Schon bevor er Sara kennengelernt hatte, war ihm einiges zu Ohren gekommen, dass ihn zu der Annahme verleitete, dass die Mittelländerin nicht ohne weiteres mit den bisherigen Dienerinnen der Shaj zu vergleichen war. Und dieser Eindruck hatte sich seit gestern noch verstärkt. Es änderte nichts daran, dass er dieser Reise hier kritisch gegenüber stand, ja mehr noch, dass er sie schon fast verfluchte und ihr baldiges und hoffentlich gutes Ende herbeisehnte. Aber er fing an, sich seinem Schicksal zu fügen und sogar ein wenig dankbar dafür zu sein, dass es ihm Sara an die Seite gestellt hatte und nicht irgendein naives Mädchen, dass schon beim Gedanken an die Seefahrt Albträume bekam. Nein, da hätte es ihn schlimmer treffen können.

      Er stand auf, nahm sich eine Decke vom Stapel und hing sie sich über die Schultern. Der Fahrtwind war eisig, hielt ihn aber wach und erinnerte ihn daran, dass der Winter sich dem Ende neigte. Yos hatte schon schlimmere, härtere Winter erlebt als diesen. Die meisten waren im Grunde härter gewesen. Wochenlange Schneestürme und ein zugefrorener Fluss hatten ihn und seinen Onkel nicht nur gesundheitlich an ihre Grenzen gebracht, sondern auch noch dafür gesorgt, dass sie über einen langen Zeitraum so gut wie kein Silber verdient hatten.

      Vielleicht war es in diesem Jahr ein gutes Omen. Überhaupt war es eine ungewöhnliche Zeit. Nicht nur der milde Winter, seine unerwartete Fahrt in den Süden und die Hoffnung auf Heilung für seinen Onkel Rumpamar gaben seinem Leben eine plötzliche Wendung, sondern auch die Ereignisse, die das ganze Land in Atem hielten. Erzählte man sich nicht, ein früherer Cas hätte Cycalas an den Feind verraten? Und dann diese seltsamen Geschichten aus dem Südreich. Der fortwährende Krieg mit Zrundir, der nun zu Ende gebracht werden sollte. Der plötzliche Tod des guten Makk-Uras und die Nachfolge eines zwar sympathischen, jedoch nicht wirklich bekannten Webers auf den Thron des Shajs. Und all die Geschichten um die Herrscherin Lennys. Ganz allmählich brach rings um das alltägliche Leben in scheinbares Chaos aus und jetzt hatte es sogar ihn, Yos, Neffe eines bescheidenen Fährmanns, erreicht. Was wartete noch auf ihn?

      Das Meer wurde unruhiger. Die Wogen schlugen höher, als dass nur der Wind sie verursachen konnte. Zuerst glaubte Yos, er täusche sich, aber der Eindruck verstärkte sich zusehends und ein Blick zur den nahen Klippen verriet ihm schnell den Grund. Sie türmten sich nun immer höher auf, wurden noch schroffer und verliefen nach unten hin bald so zerklüftet, dass er die Barke weiter auf den Ozean hinaus steuern musste, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, auf einen Felsen dicht unter der Wasseroberfläche aufzulaufen.

      Er kannte diese Gegend, auch wenn er nicht oft hier gewesen war. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, sie so früh zu erreichen. Das Glück war auf der Seite der Heilerin, denn ursprünglich hatte Yos geglaubt, frühestens zum Sonnenaufgang diese Stelle zu passieren.

      „Sara!“ rief er laut genug, um den Wind und die Wellen zu übertönen. Jetzt wagte er es besser nicht, den Steuerplatz zu verlassen und sie durch ein Rütteln zu wecken.

      „Sara, wach auf!“

      Als hätte sie nur auf den Weckruf gewartet, schnellte die Heilerin hoch.

      „Ist etwas passiert?“ fragte sie verwirrt und sah sich um.

      „Nein, nichts ist passiert. Aber siehst du das da?“ Er deutete in Richtung Land. „Die Silberberge! Cycalas' größter Schatz!“

      „Ehrlich gesagt, ich erkenne nicht viel!“ Auch Sara musste sich anstrengen, gegen die Elemente anzuschreien. „Ich habe nicht deine Augen, es ist einfach