Christine Boy

Sichelland


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es nicht darauf an, erst recht nicht, solange der König Manatars und vor allen Dingen Iandal noch am Leben waren, Diese beiden Männer hatten absoluten Vorrang und ihr Tod würde den Krieg deutlicher entscheiden als jede noch so große Schlacht.

      Nicht zuletzt deshalb galt es auch, möglichst lange nicht allzu offensichtlich in Erscheinung zu treten. Sie hätten einen direkteren, schnelleren Weg nach Süden wählen können, über den Ben-Apu und durch die Mittelebenen vielleicht. Doch je länger sie verborgen im Wald blieben, desto besser. Selbst der Fluss, dem sie danach zu folgen gedachten, bot zahlreiche Möglichkeiten sich zu verbergen, dank steiler Uferhänge, dichter Schilfwände und kleinerer Forste, die sich an ihn drängten.

      Trotz der berauschenden Wirkung des Bluts von Iandals Soldaten konnten sie es sich jetzt aber nicht erlauben, zu lange auf dieser von Leichen bedeckten Waldlichtung zu bleiben. Sie mussten weiter.

      Mit betäubten Sinnen ergriff Lennys die Zügel des Mondhengstes, der wie immer geduldig auf die Befehle seiner Herrin wartete. Wie verschwommen nahm sie die Cas wahr, die sich nun ebenfalls wieder auf das Weiterkommen besannen und die Pferde bestiegen. Keiner machte sich die Mühe, die Toten zu verstecken. Vielleicht würde es nur wenige Stunden dauern, bis man sie fand, vielleicht auch ein oder zwei Tage. Was spielte es schon für eine Rolle? Jeder Gefallene trug die Handschrift der Cycala auf seinem Körper. Aber bis die Nachricht, dass die Gebieter der Nacht das Mittelland mit ihrer Rache überzogen, die Runde gemacht hatten, war ein großer Teil des Heeres schon längst in diese Gegend eingezogen. Zu spät für eine Flucht. Lennys war zufrieden.

      Kapitel 5

      Yto Te Vel war der geheimnisvollste Ort, den Racyl je besucht hatte. Er war mit nichts vergleichbar und es kam ihr fast so vor, als begegne sie einer Legende, von der sie zwar schon seit ihrer Kindheit immer wieder gehört, an die sie aber insgeheim nie geglaubt hatte.

      Was hatte man ihr damals erzählt? Keine Stadt, eher eine Art Lager. Eine Heimat der Vergessenen, ein Hort der Magie und die Ruhestätte der Vergangenheit. Düster und abweisend für all jene, in deren Adern nicht das reine Blut der Batí floss. Angehörige der anderen Stämme wurden hier genauso misstrauisch behandelt wie Fremdländer und wenn kein Fürsprecher der Batí sie begleitete, so wurde ihnen der Zutritt ganz und gar verwehrt.

      Die erste Begegnung mit Yto Te Vels Wächtern hatten sie schon einige Stunden zuvor gehabt. Der Nordwald war so dicht und finster, dass selbst Rahors Schwester die schwarzen Späher erst bemerkt hatte, als sie ihnen in den Weg traten. Sie verneigten sich knapp vor Mondor und Wandan, würdigten weder Racyl noch Mo eines Blickes und sagten in cycalanischer Sprache:

      „Wir begrüßen unseren hohen Herrn Mondor und den großen Krieger Wandan. Bürgt ihr für Jene, die obgleich sie unreinen Blutes sind, unsere Stadt zu betreten gedenken?“

      Mondor zuckte mit keiner Wimper.

      „Dies ist Racyl Req-Nuur, Tochter des Kriegers Celdros und einer Mutter aus dem Stamme der Mituan. Sie ist die Halbschwester des hohen Cas Rahor Req-Nuur. Und bei mir ist auch Mo-Lahan Qin vom Stamm der Enca, Erster Diener im Hause des Cas Balman. Ich bürge für sie und wiederhole ihr Ehrenwort, unsere Gesetze zu achten.“

      Wieder verneigten sich die Batí-Wachen.

      „So teilet euren Gästen mit, dass ihnen gestattet ist, die Heimat der Vergessenen zu schauen, jedoch dürfen sie nicht allein auf ihren Wegen gehen und sollen die ihnen zugedachte Unterkunft nur verlassen, wenn dies unabdingbar ist.“

      Die Wachen machten den Weg, den sie versperrt hatten, wieder frei. Kaum, dass sie außer Hörweite der beiden Späher waren, machte Mo seinem Erstaunen Luft. „Ich dachte immer, du wärst der Oberste Batí von Yto Te Vel, Mondor? Das klang gerade nicht sehr respektvoll.“

      „Mein lieber Freund, da irrst du dich. Unsere Regeln hier sind streng und gelten für mich ebenso wie für jeden anderen. Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn man mir eine Vorzugsbehandlung gewährt hätte. Im übrigen ist die Wortwahl der Batí, wenn sie auf andersstämmige Besucher treffen, sonst weit weniger freundlich. Wandan kann dies sicher bestätigen.“

      Der alte Cas nickte.

      „Ja, sie haben sich schon sehr am Riemen gerissen. Wir sollten ihnen zeigen, dass wir ihre Worte und unsere Gesetze dennoch ernst nehmen. Geht nicht aus dem Haus, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Und wenn ihr es tun müsst, so nur in Mondors oder meiner Begleitung. Alles andere wäre eine Beleidigung der hier lebenden Batí.“

      Racyl und Mo versprachen, sich an die Anweisungen zu halten, auch wenn beiden immer noch ein wenig unwohl bei dem Gedanken war, gleich einen Ort zu betreten, an dem sie so wenig willkommen waren.

      Bald darauf schimmerte Licht durch die dunklen Kiefern und Fichten hindurch. Wachtürme wurden sichtbar, nicht sehr hoch, aber dadurch nicht weniger bedrohlich. Sie waren aus schwarzem Stein gebaut und ungeübten Augen wurden sie erst offenbar, wenn man direkt davor stand. Man konnte nicht sehen, wie viele Batí sich wirklich darin befanden, aber aus schmalen Scharten deuteten silberne Pfeilspitzen geradewegs auf den Weg, der an ihnen vorbeiführte.

      Und dann sah Racyl zum ersten Mal in ihrem Leben den sagenumwobenen Ort, von dem sie schon so viel gehört, vom Gehörten aber so wenig geglaubt hatte.

      Er war größer als erwartet. Von einem kleinen, unauffälligen Lager konnte keine Rede sein, auch wenn er sich nicht mit einer Stadt wie Semon-Sey messen konnte. Solide Gebäude aus dem so verbreiteten schwarzen Stein waren schon fast ein Teil des Waldes geworden, oftmals überwuchert von Ranken und eingebettet zwischen moosbewachsenen Felsen, dichten Büschen und üppigen Stauden. Es gab keine Straßen, keine gepflasterten Plätze oder auch nur steinerne Wege. Zwischen den Häusern ragten weiterhin mächtige Nadelbäume empor, ein schillernder Bach schlängelte sich mitten durch sie hindurch und teilte dieses Dorf in zwei Hälften, die sich aber durch nichts voneinander unterschieden. Hier lebten offenkundig Menschen, die zwar die Annehmlichkeiten steinerner Behausungen zu schätzen wussten, dem Wald aber nicht mehr abtrotzen wollten, als es unbedingt nötig war. Über den Bach führten in einigem Abstand zwei Brücken und etwas abseits der meisten Gebäude hatten die Batí eine Art Versammlungsplatz angelegt, in dessen Mitte ein prächtiger Altar aufgestellt worden war. Um ihn herum deuteten große Fackeln, die in den Erdboden gerammt worden waren, darauf hin, dass zumindest ein Teil der Zusammenkünfte, bei denen die Batí wohl direkt auf der Erde Platz nahmen, bei Dunkelheit stattfanden.

      Obwohl die meisten Häuser nicht besonders groß waren, wirkten sie dennoch nicht ärmlich. Silberbeschläge an Fenstern und Türen aus teurem Holz zeigten, dass man selbst hier oben in der Einsamkeit nicht auf ein gewisses Maß an Luxus verzichtete.

      Völlig frei und ohne jegliche Leinen oder auch nur einen Aufpasser, graste eine Mondstute am Bachufer.

      Racyl erinnerte sich daran, dass diese Tiere hier im Nordwald lebten und von den Batí gezähmt und zugeritten wurden. Doch alles, was sie sah, erweckte den Anschein, dass das Leben hier einträchtig und zwanglos vonstatten ging, wenn man von einigen Regelungen, die die Menschen sich selbst auferlegt hatten, einmal absah. Sie lebten in einer ganz eigenen Welt.

      Und nun beobachteten sie, wie Fremde in diese Welt eindrangen.

      Wortlos, mit verschlossenen Mienen hielten sie inne, als die kleine Gruppe ihren heiligen Ort betrat. Sie blieben einfach stehen, unterbrachen sich in ihren Handlungen und starrten die Besucher abweisend und stumm an. Es war eine gespenstische Atmosphäre, die herrschte. Die, an denen sie vorübergingen, verneigten sich vor Mondor und grüßten Wandan mit einem höflichen Kopfnicken. All das geschah ohne ein Wort.

      Sie gingen vorbei an mehreren Wohnhäusern, passierten eine Wassermühle und eine Schmiede und gelangten schließlich zu einem etwas abgelegenerem Gebäude, vor dem sich der Bachlauf zu einer Art Teich verbreiterte.

      Es war größer als die anderen Bauten, sogar größer als Rahors Domizil im Generalsviertel von Semon-Sey, und es besaß zudem noch einen eigenen kleinen Turm, dessen Dach kuppelförmig war und silbrig glänzte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Häusern Yto Te Vels verfügte es über zwei Stockwerke, von denen das obere sich aber nicht über die gesamte Fläche erstreckte,