Christine Boy

Sichelland


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glaube, das habe ich noch nie getan. Ich spreche jetzt aber zu dir als meiner Herrscherin. Ich sehe, wie du dich immer weiter von uns entfernst. Auch von deinem Land. Ich möchte dich daran erinnern, zurückzukommen.“

      „Ich bin doch hier...“

      „Dein Körper ist mitten unter uns, Shaj der Nacht. Aber dein Geist ist es mit jedem Tag weniger. Das Blut unserer Feinde schärft unser Bewusstsein, aber deines wird davon genommen. Mit jedem Kelch ein wenig mehr.“

      „Vielleicht will ich es so...“

      „Vielleicht weißt du gar nicht mehr, was du noch willst.“

      Es folgte ein langes Schweigen.

      Fast glaubte der Jemand, sie sei eingeschlafen, aber dann sagte sie leise:

      „Warum bist du hergekommen, Rahor? Warum lässt du mir nicht diesen Moment, in dem ich endlich einmal frei von allem bin?“

      „Weil du dir selbst etwas vormachst. Viele Menschen haben Angst vor dir, Lenyca Ac-Sarr. Aber ich habe Angst um dich. Du bist nicht wie dein Vater. Das, was in ihm war, ist auch in dir. Aber in dir ist es stärker. Und es macht dich stärker, aber zugleich raubt es dir auch deine Kraft.“

      „Warum sprichst du von ihm? Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?“

      „Das kann ich nicht. Ich habe geschworen, mein Leben für deines zu geben, wenn es notwendig sein sollte. Ich möchte wissen, wie viel Leben wirklich noch in dir ist.“

      „Du unterschätzt mich. Ich kann euch alle besiegen. Iandal... Log... ich werde sie alle ins Verderben schicken. So etwas kann kein Toter.“

      „Kannst du es wirklich? Wie viel braucht es noch, um dich ins Verderben zu schicken? Du bist der Hölle vielleicht näher als wir alle....“

      „Ich bin die Hölle, Rahor. Ich bin das, was ihr am meisten fürchtet...“

      „Im Augenblick bist du vor allen Dingen berauscht von viel zu viel Blut. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht in Momenten wie diesen mit deinem wahren Ich spreche.“

      Sie lachte leise. Rahor fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Dieses Lachen, das so selten zu hören war, ließ ihn erschauern.

      „Was ist mein wahres Ich, großer Krieger? Wenn ich es nicht kenne, wie könntest du es dann?“

      „Bist du ein Mensch, Lennys? Bist du wirklich ein Mensch?“

      „Was sollte ich wohl sonst sein?“

      „Warum ist in dir dann so wenig, was einen Menschen ausmacht?“

      „Ich vermisse nichts.“

      „Ich glaube schon. Es gibt viele Dinge, die wichtig sind. Freude und Trauer... und... auch etwas viel Tieferes. Gefühle, Lennys. Hast du die noch?“

      Sie lachte wieder.

      „Du redest Unsinn, Rahor.“

      „Wirklich? Du hattest sie doch einmal, nicht wahr? Warst du nicht traurig, als dein Vater starb?“

      Sie sagte nichts, sondern versuchte, über seine Worte nachzudenken. Versuchte, sich an damals zu erinnern. Es gelang ihr kaum.

      „Ich war wütend...“

      „Das ist etwas anderes.“

      Sie hob den Kopf und sah wieder hinaus auf den See. Es fiel ihr schwer, ihn überhaupt noch zu erkennen.

      „Frag mich nicht solche Dinge, Rahor. Frag mich... gar nichts.“

      Lange kam Rahor dieser Bitte nach und schwieg. Er massierte ihr weiter die Schultern und stellte fest, dass er es genoss, ihr so nahe zu sein.

      „Sara... hat das manchmal gemacht.“ sagte sie plötzlich. „Sie konnte das.“

      Rahor biss sich auf die Lippen. Die Frage, die ihm jetzt auf der Zunge lag, wagte er nicht zu stellen. Aber wenn nicht jetzt, wann dann?

      Als könne sie seine Gedanken lesen, kam Lennys ihm zuvor.

      „Du möchtest wissen, ob ich manchmal an sie denke... oder… ob... sie mir fehlt. Nicht wahr?“

      „Ja und nein. Ich habe ein bisschen Angst vor deiner Antwort.“

      „Weshalb?“

      „Ich glaube, wenn du nein sagst... könnte ich das nicht verstehen. Und wenn du ja sagst,... wärst du mir fremd.“

      „Manchmal denke ich daran. Aber nicht mehr.“ Sie hielt inne, schien für einen winzigen Moment wieder klarer zu werden und sagte dann laut: „Vergiss das.“

      Jetzt lächelte Rahor. „Wie du willst.“

      Als er sich später hinlegte und den wärmenden Umhang enger um seine Schultern zog, saß Lennys immer noch auf dem Steg. Aber dann stand sie auf, warf noch einen letzten Blick auf das Spiegelbild des Mondes und ging zurück zur Gruppe. Erst als auch sie sich auf dem Lager, das er vorbereitet hatte, ausgestreckt hatte, schloss der oberste Cas die Augen und schlief sofort ein.

      Wie höhnisch konnte das Schicksal sein, einen solch klaren Sternenhimmel zu schicken? Weißes, unschuldiges Glitzern auf einem samtigen Blauschwarz, so sanft und still, als müsse darunter alles zur Ruhe kommen.

      Es war derselbe Sternenhimmel, unter dem sie dem Tod ins Auge geblickt hatten.

      Sara wagte nicht, sich aufzurichten. Sie lag auf dem Rücken in dem kalten Wasser, das sich in der Barke gesammelt hatte. Der Boden war hart. Aber er war noch da. Sie sah hinauf in den Nachthimmel und wünschte sich, nie mehr etwas anderes ansehen zu müssen.

      „Ich lebe noch.“ dachte sie.

      Dann holte die Erinnerung sie wieder ein und sie fuhr hoch.

      „Yos?“

      Er lag am anderen Ende des Bootes, hinten am Heck. Seine Haut war weiß wie das Mondlicht und seine Augen starrten ins Leere.

      „Yos!!!“ schrie sie und die Angst, die sie plötzlich ausfüllte, verursachte schon fast körperliche Schmerzen. Sie stolperte über ein Seil, stürzte, rappelte sich auf und warf sich über den reglosen jungen Mann.

      „Yos!!! Verdammt nochmal, sag etwas!“ Sie rüttelte an seiner Schulter.

      „Yos, das kannst du nicht mit mir machen!!!“

      Seine Mundwinkel zuckten.

      „Ich sollte dir eigentlich eine runterhauen, Mädel.“

      Jetzt zeigten auch seine Augen wieder Leben. Er zwinkerte sie an, was aber nicht darüber hinwegtäuschte, dass der Schock ihm noch tief in den Gliedern steckte.

      „War 'ne Schnapsidee, hier lang zu fahren.“

      Ihre Erleichterung trieben ihr fast die Tränen in die Augen.

      „Es tut mir leid.“

      Die Drei Wachen von Shanguin lagen hinter ihnen. Obwohl sie sich schon ein ganzes Stück von ihnen entfernt hatten, war noch immer gut zu erkennen, in welcher Gefahr sie geschwebt hatten.

      Sara wusste nicht mehr, wie sie hindurch gekommen waren. Sie war durch Gischt und Wellen so gut wie blind gewesen, das Tosen und Heulen hatte Yos' Rufe übertönt und irgendwann war ihr einfach schwarz vor Augen geworden. Das nächste, was sie gesehen hatte, waren die Sterne gewesen. Schmerzen in der Schulter, in den Knien und am Kopf hatten ihr gesagt, dass sie noch lebte. Und das sanfte Schaukeln des Bootes, dass sie auch noch weiter leben würde.

      Allein, sich dessen bewusst zu werden, hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert.

      Sie reichte Yos ihre Hand, um ihm zu helfen, sich aufzurichten. Er musterte sie besorgt.

      „Du blutest.“

      Dabei berührte er ihre Stirn und zeigte ihr seine blutverschmierten Finger.

      „Ach das. Halb so schlimm. Und du? Bist du verletzt?“

      „'N