Christine Boy

Sichelland


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gereizt. Schlechte Laune hatte sie so häufig, dass es kaum noch auffiel. Wutausbrüche gehörten zu ihrem Tagesablauf wie bei anderen das Essen und Trinken. Und natürlich gab es auch Tage, an denen man am besten von Haus aus einen großen Bogen um sie machte, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, wegen eines falschen Wortes im Kerker zu landen.

      Der heutige Tag gehörte aus Horems Sicht mit Abstand zu ihren schlechtesten. Schon als sie bei Sonnenaufgang aufstand, war ihm das klar, zumal sie von allen am längsten geschlafen hatte. Ihre erste Handlung bestand dann darin, Garuel und Sham-Yu vor versammelter Mannschaft in Grund und Boden zu schreien, weil die beiden, die für den Proviant zuständig waren, sich noch nicht darum gekümmert hatten, ihre Wasservorräte aufzufüllen. Dabei interessierte es die Shaj nicht im Geringsten, dass beide Cas nur wenige Momente vor ihr die Augen aufgeschlagen hatten. Der nächste, der in den fragwürdigen Genuss ihres Zorns kam, war ausgerechnet Rahor, der es sonst wie kein Zweiter verstand, sich friedvoll aus solchen Konflikten herauszuwinden. Den genauen Grund dafür, dass sie den Obersten Cas lautstark dazu degradierte, am heutigen Tage die Nachhut zu bilden und ihr bis auf Weiteres aus den Augen zu gehen, kannte Horem nicht und er nahm an, dass es vielleicht auch gar keinen bestimmten Auslöser gab. Haz-Gor nahm die völlig unbegründete Zurechtweisung über sein Erscheinungsbild schon fast ergeben hin und versuchte gar nicht erst, zu erklären, dass er die Schrammen in seinem Gesicht nun einmal nicht wegzaubern könne und Karuu, dem seine Sichel aus der Hand glitt, so dass sie mit einem lauten Scheppern auf dem Boden landete, entging nur knapp seinem Rauswurf aus der Gruppe, in die er laut Lennys bei solcher Tölpelhaftigkeit gar nicht erst hätte aufgenommen werden dürfen.

      Kurzum - jeder beneidete Horem darum, den Großteil des Tages in sicherer Entfernung verbringen zu dürfen.

      Jetzt nahte aber wieder der Moment, in dem er seiner Herrin in die Augen sehen musste.

      Zwei Wege. Zwei Möglichkeiten. Ihm war jetzt schon klar, dass er für seine Zweifel ebenfalls eine Standpauke zu erwarten hatte. Ihre Richtung stand ja eigentlich fest. Aber in Anbetracht von Lennys' Laune war es durchaus möglich, dass sie sich spontan umentschied und wenn er dann bereits den ursprünglich beabsichtigten Weg einschlug, ohne auf sie zu warten, konnte er genauso gut gleich als Entehrter ins Sichelland zurückkehren.

      Während er also an der Kreuzung ausharrte, betete er innerlich zu Ash-Zaharr, der große Dämon möge doch bitte heute niemanden des Weges schicken, der in der Shaj das Verlangen nach mehreren Kelchen Blut weckte. Denn das gestrige Übermaß, da war sich Horem sicher, war der Hauptgrund dafür, dass sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit wie ein Vulkan explodierte. Sehr wahrscheinlich hatte sie Kopfschmerzen, möglicherweise war ihr auch übel und besonders gut geschlafen hatte sie überdies sicher auch nicht. Zu viel Blut hatte dieselbe Wirkung wie zu viel Alkohol, nur, dass man längst nicht soviel davon trinken musste.

      Dann tauchte der erste Cas hinter einer Biegung auf. Es war Sham-Yu, der sich ebenfalls ein wenig von den anderen abgesetzt hatte.

      „Bist du allein?“ fragte Horem und reckte den Hals, um nach dem Rest der Gruppe zu sehen.

      „Die anderen kommen gleich.“ Dann senkte Sham die Stimme. „Also, wenn ich ehrlich sein soll... Sie ist heute unausstehlich. Und ich bin ja wirklich einiges von ihr gewohnt.“

      „Sei vorsichtig. Sie hat Ohren wie ein Luchs.“

      „Wird noch etwas dauern, bis sie da sind. Sie hat mich vorgeschickt um nachzusehen, ob du wartest oder ob du schon in Richtung Thau unterwegs bist.“

      „Also bleibt es dabei? Wir reiten direkt zum Ben-Apu hinüber?“

      „Sieht so aus. Wir sollen aber trotzdem noch nicht weiter, sondern an der Kreuzung bleiben.“

      Horem stöhnte.

      „Wäre ja auch zu schön gewesen. Bin ihr wohl bis jetzt zu gut weggekommen.“

      Sham zuckte die Achseln.

      „Na, sonst hat sie nichts gesagt. Außerdem hat sie ja 'nen anderen Sündenbock.“

      „Was meinst du?“

      „Rahor. Der kriegt's ständig ab. Mal reitet er zu dicht auf, dann ist der Abstand wieder zu groß, dann unterhält er sich zu laut mit uns oder sie hackt auf anderen Kleinigkeiten herum. Kann einem echt leid tun, der Arme.“

      „Was hat er denn angestellt? Sie hat es doch sonst nicht so auf ihn abgesehen...“

      „Da fragst du den falschen. Gestern haben sie sich ja noch richtig gut verstanden, ich war ganz überrascht.“

      „Das war's wohl.“ spekulierte Horem. „Mensch, der müsste doch wissen, dass er sich nicht so an sie 'ranmachen darf. Sowas rächt sich immer sofort.“

      „Er hat sich doch nicht an sie 'rangemacht!“ verteidigte Sham-Yu seinen besten Freund. „Sie haben sich nur unterhalten. Mensch, Horem, die kennen sich seit Jahren, Rahor weiß schon, wie weit er bei ihr gehen darf. Na, hoffentlich beruhigt sie sich bald wieder. Wenn sie nicht grade Rahor 'runtermacht, gibt sie sowieso keinen Ton von sich. Ich überlege schon die ganze Zeit, ob ich ihr Blaubuschblätter anbieten soll, die sollen ja gegen Kopfschmerzen helfen. Hab noch ein paar übrig.“

      „Mach das lieber nicht. Sonst wirst du sie auch nie mehr brauchen, weil sie dir dann deinen Kopf gleich ganz abreißt.“

      Sham-Yu grinste.

      „Auch wieder wahr. Warum hat sie gestern auch so übertrieben? Muss ja ein ganz besonderer Leckerbissen gewesen sein, dieser Typ, den sie aufgeschlitzt hat. Sie hat ja immer Spaß an sowas, aber der gestern... meine Güte, ich dachte schon, es wäre Iandal oder so. Nee, war's natürlich nicht, aber so, wie sie losgelegt hat, glaub ich nicht, dass man das noch überbieten kann.“

      „Keine Ahnung, wer das war. Wohl ein 'alter Bekannter', wenn man so will. Vielleicht war er damals bei Saton dabei. Ich geb' dir nur den Rat, sie nicht danach zu fragen.“

      „Bin ich lebensmüde?“ prustete Sham. „Weißt du, eigentlich mag ich es ja, wenn sie so flucht. Solange ich nicht der Leidtragende bin. Ist mir lieber, als so ein Langweiler wie Talmir. Aber so wie jetzt - Na, das ist dann doch zuviel des Guten.“

      „Kannst du laut sagen. Oder besser nicht. Gibt’s denn nichts, was ihre Stimmung ein bisschen hebt?“

      „Ne Horde Hantua vielleicht. Aber nein, dann haben wir morgen wieder das gleiche Problem. Ich fürchte, das müssen wir durch. Ist ja nicht das erste Mal.“

      „Und sicher auch nicht das letzte. Wenn ich dran denke, was wir noch vor uns haben... Wenn sie sich jedes Mal so auf das Blut stürzt und danach so 'ne Laune hat, soll sie mir lieber gleich den Kopf abhacken. Dann hab ich's hinter mir.“

      „Nimm's mit Humor, Horem. Schlimmer kann's ja kaum noch werden.“

      Als Lennys und die bei ihr verbliebenen Cas die Kreuzung erreichten, erwarteten Sham-Yu und Horem, dass sie die Anweisung, weiter nach Thau zu reiten, noch einmal wiederholen würde. Stattdessen aber fuhr die Shaj sie ohne Vorwarnung an:

      „Was steht ihr da rum? Wollt ihr einen Mittagsschlaf abhalten? Hast du etwa die Orientierung verloren, Horem? Worauf wartet ihr?“

      „Auf dich....“ sagte Sham leise und hätte sich im selben Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. „Ich meine... du sagtest doch wir sollen hier...“

      „Auf mich?“ fauchte sie zornig und ihre Augen funkelten. „Sind wir euch zu langsam? Passt euch unser Tempo nicht? Na schön, wenn du gern schneller sein willst, versuch es doch!“

      Und noch bevor irgendjemand etwas erwidern konnte, schlug sie ihrem Hengst die Fersen in die Flanken und stob in Richtung Südwesten davon. Keines der anderen Pferde, das wussten sie, würde mit ihr mithalten können. Ausgerechnet der recht mitgenommen wirkende Rahor, der noch immer den Abschluss bildete, fand als Erster die Sprache wieder.

      „Ist sie jetzt völlig durchgedreht?“ Ohne auf die anderen zu achten, setzte er seiner Herrin nach und den restlichen Kriegern blieb nichts anderes übrig, als jetzt auch ihre Pferde anzutreiben und die Verfolgung aufzunehmen.

      Der