Christine Boy

Sichelland


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Mondor lächelte, als sich die Hauptpforte von innen öffnete und ein kräftiger Mann mittleren Alters seinen Herrn mit einer tiefen Verbeugung begrüßte.

      „Dies ist Aban, er kümmert sich normalerweise um meinen Haushalt. Wäre es zu viel verlangt, wenn ihr, Racyl und Mo, diese Aufgaben übernehmen würdet, solange ihr hier zu Gast seid?“

      „Natürlich nicht!“ sagten die beiden fast gleichzeitig. Und Racyl fügte hinzu: „Das tun wird doch gern.“

      „Ich freue mich. Aban, solange die Gäste in meinem Hause weilen, benötige ich deine Dienste nicht. Geh zum Tempel und nimm dort eine Unterkunft an, bis ich dich wieder rufen lasse.“

      „Wie ihr wünscht, Herr.“

      „Jetzt zeige aber Mo und Racyl zuerst ihre Zimmer. Danach kommst du in mein Arbeitszimmer und berichtest mir alles Wissenswerte. Ich war zu lange fort, als dass es keine Neuigkeiten geben könnte.“

      Sie betraten den kühlen Eingangsraum des Hauses, doch Wandan blieb auf der Türschwelle stehen.

      „Entschuldige mich bitte, Mondor. Auch mich zieht es in mein Heim. Sehen wir uns heute abend?“

      „Natürlich, Wandan. Bitte sei dann mein Gast, Aban kann uns vor seinem vorläufigen Abschied noch ein Abendessen zubereiten.“

      „Ich komme gern. Racyl, Mo, ich hoffe, ihr fühlt euch trotz der Umstände wohl hier. Bis später dann!“

      Mondor lebte nicht gerade bescheiden, aber auch nicht über die Maßen verschwenderisch. Er hatte sich in seinem hohen Alter zahlreiche Annehmlichkeiten gegönnt, viele Polster und Kissen, teure Wandbehänge und vor allen Dingen Unmengen an Büchern und Schriften, die sich nicht ganz ordentlich in den Regalen stapelten. Die beiden Gästezimmer, in die sein Diener Aban Mo und Racyl führte, waren einfach, aber nicht karg eingerichtet und boten durch die überraschend großen Fenster einen herrlichen Blick zur Rückseite des Gebäudes hinaus, wo sich der Bach nach einer Schleife in einen kleinen Wasserfall ergoss, neben dem Mondor eine hübsche Laube hatte errichten lassen.

      Obgleich sie immer noch die feindseligen Blicke der Batí spürte, fühlte Racyl sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig wohl. Es machte ihr nichts aus, dieses Haus nicht verlassen zu dürfen, auch wenn sie nach einigen Tagen vielleicht anders denken mochte. Aber jetzt fühlte sie auch die Müdigkeit und die Sehnsucht nach einigen Stunden Schlaf. Der Weg hierher war lang und beschwerlich gewesen, sie hatten sich keine Pausen gegönnt und waren zwei Tage lang durchgewandert. Und das niedrige Bett vor ihr mit seinen weichen Decken und seidenen Kissen sah nur allzu verlockend aus.

      „Dway hat einen Jungen zur Welt gebracht, der alte Hosmer wurde endlich von seinen Leiden erlöst und die Schäden, die die Herbstunwetter mit sich gebracht haben, sind allesamt beseitigt. Yto Te Vel scheint mich nicht vermisst zu haben.“

      Mondor lachte bei seinen eigenen Worten und prostete Wandan mit einem Becher Rum zu. Der Krieger jedoch sah nicht ganz so zufrieden drein.

      „Bist du denn gar nicht beunruhigt über das Verschwinden von Yachemon?“

      „Beunruhigt? Warum sollte ich? Ich weiß doch, wo er ist.“

      „Ach? Ich nehme an, du willst dieses Wissen nicht mit mir teilen?“

      „Warum sollte ich es dir verheimlichen? Mit ein bisschen Nachdenken könntest du allerdings auch selbst dahinter kommen.“

      „Ich bin nicht in der Stimmung für Ratespiele, Mondor. Das Alter macht sich bei mir bemerkbar. Am liebsten hätte ich es so gemacht wie Racyl und Mo – mich ins Bett gelegt und gründlich ausgeschlafen. Es ist übrigens bedauerlich, dass sie dieses Abendessen verpassen.“

      „Der kalte Braten wird ihnen auch morgen früh noch schmecken. Warum hätte ich sie wecken sollen? Aber gut, ich werde dir deine Frage beantworten. Yachemon ist natürlich bei Imra.“

      „Wie kommst du darauf?“

      „Imra ist ein kluger Kopf. Er weiß längst, dass wir nach Yto Te Vel zurückgegangen sind. Und er möchte gern herausbekommen, was wir hier tun, zumal wir in Begleitung zweier Menschen sind, die hier eigentlich nichts verloren haben. Und natürlich handelt Imra im Auftrag von Lennys, die über unsere Suche auf dem Laufenden bleiben möchte. Er weiß genau, dass es schwierig wird, etwas herauszufinden, es sei denn, er hätte einen Informanten, der sich hier frei bewegen kann.“

      „Und das soll Yachemon sein?“ Wandan wirkte skeptisch. „Glaubst du wirklich, ein hoher Tempelpriester lässt sich als Spitzel einsetzen?“

      „Gerade ein hoher Tempeldiener ist sich seiner Pflicht besonders bewusst. Wenn Imra ihn davon überzeugen kann, dass es Lennys' Wille ist, uns auszukundschaften, dann wird er das auch tun. Ich kenne ihn. Er will niemanden verraten. Aber wenn es denn sein muss, dann gilt seine Treue der Shaj, mehr noch als mir. Eigentlich ist das auch gut so, wenn man darüber hinwegsieht, dass es unsere Arbeit natürlich erschwert. Du wirst sehen, in ein paar Tagen ist er zurück, vielleicht auch schon morgen. Er wird sich häufig in unserer Nähe aufhalten, uns vielleicht sogar seine Hilfe anbieten und ausgesprochen freundlich sein, sogar zu Racyl und Mo. Yachemon mag ein guter Priester sein, aber es liegt ihm nicht, sich zu verstellen. Er ist nur allzu leicht durchschaubar und somit keine ernste Gefahr für uns.“

      „Wie willst du überhaupt weiter vorgehen?“ Wandan nahm sich eine weitere Handvoll getrockneter Beeren aus einer Schale, die er im Laufe der letzten Stunde schon fast zur Hälfte geleert hatte. „Niemand kennt die Tempelschriften besser als du, glaubst du wirklich, du findest dort noch etwas Neues heraus?“

      „Nein. Jedenfalls nicht auf dem direkten Weg. Es hat keinen Sinn, die Legenden zu durchstöbern, wir müssen uns an die Tatsachen halten. Yto Te Vel ist dafür wie geschaffen. Hier leben die ältesten Batí-Familien des Landes, viele von ihnen haben diesen Ort seit Generationen nicht verlassen. Sie haben das alte Wissen bewahrt und im Laufe der Jahre umfassende Chroniken angelegt. Da müssen wir ansetzen.“

      „Aber wenn es da etwas gäbe, was uns weiterbringt, hätte es dann nicht schon jemand gefunden?“

      „Es hat wohl nie jemand danach gesucht. Noch nicht einmal ich. Ich kenne die Geschichte der meisten Linien Cycalas' und auch die der einzelnen Stämme. Und ich kann mit Sicherheit sagen, dass der letzte bekannte Blutsträger keinerlei Spuren auf Nachkommen hinterlassen hat. Ich bin nicht der einzige, der davon überzeugt ist. Aber irgendetwas sagt mir, dass das plötzliche unsichtbare Ende dieser Linie nicht unser Ansatzpunkt sein darf. Wir müssen weiter zurückgehen und dort nach Informationen suchen.“

      „Denkst du wirklich, wir können ihn finden? Den Erben? Falls es noch einen gibt, meine ich.“

      „Wenn es noch einen gibt, dann werden wir ihn finden, Wandan. Wir müssen alles auf den Kopf stellen, müssen jede überlieferte Zeile prüfen. Und Mo und Racyl werden uns dabei helfen. Gerade, weil sie keine Batí sind, in Racyls Fall zumindest keine reine, können sie das Ganze aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Von wie vielen angeblichen Tatsachen sind Menschen wie wir überzeugt, nur weil wir von Geburt an mit ihnen als Wahrheit aufgewachsen sind? Mo und Racyl können sich kritischer annähern und werden Fragen stellen, auf die wir beide gar nicht kommen würden.“

      „Laaaaand!“

      Yos sprang außer sich vor Freude hin und her, so dass die Barke heftig schwankte. „Wir haben's geschafft!!! Ich glaub's nich'! Endlich!!!“ Ohne lange zu überlegen, fiel er Sara um den Hals.

      Die Heilerin konnte seinen Gefühlsausbruch zuerst gar nicht nachvollziehen, der dunkle Streifen am Horizont konnte ebenso gut eine Gewitterfront sein. Aber sie vertraute auf die scharfen Augen des Sichelländers und ließ sich bald von seiner Freude anstecken. Eigentlich hätten sie die Küste schon längst erreichen müssen, aber bei einer solchen Entfernung, so Yos, könne man sich auch einmal verschätzen.

      „Dann haben wir schon fast die Hälfte der Strecke geschafft, nicht wahr?“

      „Na, nich' ganz, aber … Mensch, mit so nem Boot den Sichelbogen übers Meer zu befahren, und das im Winter!!! Wenn das mein Onkel hört!“