Christine Boy

Sichelland


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Fährers.

      „Was ist?“ fragte sie und versuchte zu erkennen, was an dem Bild in der Ferne Yos plötzlich so ernst werden ließ. Für sie sah der Landstreifen noch genauso aus wie einige Momente zuvor und auch der jetzt orange gefärbte Abendhimmel schien nach wie vor friedlich und ohne böse Überraschungen zu sein.

      Yos kletterte nach vorn an den Bug der Barke, als könne er durch diese paar Schritte noch mehr Details erkennen.

      „Deshalb also....“ flüsterte er dann erschüttert.

      „Was ist los? Yos? Was stimmt nicht?“

      Niedergeschlagen ließ sich der junge Mann auf ein paar Decken sinken.

      „Wir sind zu weit nach Osten abgetrieben. Der Wind. Ich hab mit'm Meer nich' so viel Erfahrung. Dachte nich', dass es so viel ausmacht. Deshalb hat es so lang gedauert.“

      „Was willst du damit sagen?“ Sara fasste ihn hart an der Schulter. „Was meinst du damit, zu weit nach Osten? Wo sind wir?“

      „Das da....“ Er streckte seinen Arm aus und deutete auf die dunklen Umrisse, die nun immer deutlicher wurden. Irgendwie sah es so aus, als wären sie nicht zusammenhängend. „Das da is' nich' das Sichelland. Also nich' die Küste am Sichelbogen, mein ich.“

      „Nicht die Küste? Was ist es dann? Yos!!! Antworte endlich!“

      „Das sind die Drei Wachen von Shanguin.“

      „Drei Wachen? Shanguin? Du meinst, wir sind schon am Shanguin-Gürtel? Aber du sagtest doch, wir würden etwa an der Grenze das Land erreichen. Wenn wir jetzt schon weiter sind, ist das doch gut!“

      „Gut? Das da nennst du gut? Die Drei Wachen, das sind drei riesige Felseninseln. Ringsherum gibt es Strömungen und Strudel, man wird richtig angezogen und zerschellt dann an den Klippen! Das ist unser Ende!“

      Entsetzt starrte Sara wieder nach Süden.

      „Aber … warum sitzt du dann hier herum? Los, steh auf, wir versuchen nach Osten abzudrehen, dann müssten wir doch wieder in sichere Gewässer kommen!“

      „Das schaffen wir nich'. Der Wind is' viel zu stark, da kannste rudern, wie du willst! Sogar bei Windstille bräuchten wir ewig, um von hier aus die Küste zu erreichen. In der Zeit hat uns die Strömung längst auf die Wachen getrieben!“

      „Du kannst doch nicht einfach nur zusehen, wie wir ...du kannst doch nicht einfach sterben wollen, Yos! Steh auf, wir versuchen, sie zu umfahren! Notfalls müssen wir noch weiter nach Westen aufs Meer!“

      „Noch weiter? Spinnst du? Es wird bald dunkel! Da kannste auch gleich ins Wasser springen und losschwimmen!“

      „Warum hast du nicht aufgepasst? Du hättest merken müssen, dass wir zu weit nach Westenkommen!“

      „Du wolltest unbedingt übers Meer! Ich wollt' ja an der Küste bleiben, aber dir konnt's ja nich' schnell genug gehen! Hab dir gesagt, is 'n Risiko!“

      Schon jetzt spürte Sara, wie die Strömung stärker wurde.

      „Lass uns nicht mehr streiten, Yos, wir müssen etwas tun!“

      „Und was? Nach Westen isses zu weit! Nach Osten – ne, noch weiter fahr ich nich' aufs Meer 'raus, das kannste vergessen!“

      „Können wir nicht... Es sind doch drei Inseln! Können wir nicht zwischen zweien hindurchfahren?“

      „Nee, da is' alles voller Felsen! Da laufen wir sofort auf Grund oder zerschellen!“

      „Wir müssen es wenigstens versuchen! Oder hast du eine bessere Idee?“

      Yos sah nach Westen. Kein Land in Sicht. Nach Osten. Nur das weite, hoffnungslose Meer. Nach Süden. Die drei Felsinseln. Seine Gedanken rasten.

      „Zwischen.... zwischen der mittleren und der westlichsten Wache... da is' ein Durchgang, hab' ich mal gehört. Aber... aber das is' fast nich' zu schaffen. Man muss genau wissen, wo die Riffe sind.“

      „Ist es unsere einzige Chance?“

      Er nickte. Seine Augen waren angsterfüllt.

      „Worauf warten wir dann noch? Wie weit müssen wir nach Westen? Ist das dort die westlichste Wache?“

      „Ich glaub schon. Eins....“ Er kniff die Augen zusammen um die Umrisse der einzelnen Inseln besser erkennen zu können.“Z... zwei... und drei. Ja, das muss sie sein. Aber... bei Ash-Zaharr, siehst du, wie eng das ist? Wenn wir zu weit 'rüber getrieben werden, dann...“

      Er musste nicht weiter reden. Inzwischen waren sie so schnell geworden, dass selbst Sara schon genau erkennen konnte, was sie bei einem einzigen Fehler erwartete. Spitz wie Nadeln, aber so dick wie Türme ragten die Felsen schon weit vor den Inseln aus dem Meer. Die Sicht wurde verschwommen von dem Gischt und den Wellen, die sich an den Klippen brachen. Niemand konnte das überleben.

      „Hol das Segel ein!“ schrie Yos. „Der Wind ist zu stark, wir brauchen Zeit! Und dann rudern wir. So schnell wir können! Nach Westen rüber, bis wir auf Höhe des Durchlasses sind. Auf keinen Fall weiter, sonst zieht uns die Strömung direkt auf die äußerste Insel zu!“

      Noch schneller als Sara befürchtet hatte, wurden die steinernen Wächter immer größer. Zugleich versank die Sonne am westlichen Horizont und das wenige Licht, dass sie noch verstrahlte, ließ das Meer so schmutzig-grau erscheinen, dass es sich kaum noch von dem Himmel darüber unterschied.

      Ihre Arme brannten, so schnell ruderte sie gegen die Strömung an, es war fast unmöglich, mit Yos, der viel kräftiger war, in einem Rhythmus zu bleiben. Ihr Rücken schmerzte und der Schweiß rann ihr von der Stirn in die Augen, so dass die Umgebung immer mehr verschwamm.

      Plötzlich wirbelte ein donnernder Schlag das Boot zur Seite. Ein hässliches, fast schmerzendes Kratzen ertönte, so laut, als würde der gesamte Boden der Barke aufgerissen.

      „Nach Osten!“ befahl Yos. „Wir kommen zu weit ab, wir laufen auf Grund! Los, schneller!“

      Noch war das Boot nicht ernsthaft beschädigt, aber es kostet sie alle erdenkliche Kraft, von den unsichtbaren, unter der Wasseroberfläche liegenden Felsen los- und in freiere Gewässer zu kommen.

      Die Inseln rasten ihnen entgegen.

      Dann ein neuerlicher Schlag, diesmal direkt von vorn. Die Wucht des Aufpralls schleuderte Sara kopfüber in Richtung Bug. Ohne den Schmerz in ihrer rechten Schulter richtig wahrzunehmen, rappelte sie sich wieder auf und tastete nach ihrem verlorengegangen Ruder, als sich plötzlich eine eisige Welle über sie ergoss. Hinter ihr prustete auch Yos, schrie irgendwelche unverständlichen Kommandos und deutete immer wieder in die südöstliche Richtung, die er scheinbar momentan für die sicherste hielt.

      Nach Luft ringend und nicht mehr imstande, den Unterschied zwischen Wasser und Fels zu erkennen, rammte Sara das Ruder ins Meer, kämpfte blind gegen die Gewalten an und versuchte so, dem ständigen Schlagen, Fauchen und Krachen zu entkommen, das das Boot immer mehr in Mitleidenschaft zog.

      Es wurde immer dunkler, jedoch nicht, weil der Horizont die Sonne verschluckte, sondern weil die Wachen sich nun direkt um sie herum drohend bis weit in den Himmel erhoben. Es gab weder ein Vor noch ein Zurück, kein Gedanke mehr an sicherere Wege und Durchgänge. Ein Überlebenskampf begann, in dem nur der Moment zählte. Diesen einen noch schaffen. Dann noch einen.

      Sie wusste nicht, ob die Inseln vor oder neben ihnen lagen. Wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Ob es ihr eigener Atem oder eisiges Wasser, das in ihren Lungen brannte, ob Wogen oder Felsen sie in der Barke herumschleuderten. Sie wusste nicht, ob Yos noch da war. Alles um sie herum war ein einziges Tosen und Brüllen, ein wuchtiger Schlag nach dem anderen, sie wurde zu Boden geschleudert und dann wieder fast über Bord gespült.

      Es war wie ein endloses Ringen mit dem Dämon selbst.

      Der letzte klare Gedanke, den Sara hatte, war der, dass Lennys wohl niemals erfahren würde, was mit ihr geschehen war.

      Sie liebte dieses Bild. Der aufgehende Mond,