Christine Boy

Sichelland


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war vielleicht der einzige Ort im Mittelland, den sie wirklich mochte. Er erinnerte sie an Zuhause. Gedankenverloren hob sie den Kelch an ihre Lippen. Er war genauso warm wie das Blut, das er enthielt. Die zweite Belohnung dieses Tages, diesmal noch viel köstlicher als einige Stunden zuvor. Es war in den Adern eines Mannes geflossen, der ihr nicht zum ersten Mal begegnet war. Sie kannte seinen Namen nicht, doch nie würde sie sein Gesicht vergessen. Er gehörte zu den wenigen, die ihr jemals ernsthafte Schmerzen zugefügt hatten. Ein gewöhnlicher Mittelländer, wie viele dachten. Sie wusste es besser.

      Er war ganz allein gewesen. War an dem kleinen Steg gesessen, der über den See hinausragte, in der Hand eine einfache Angel. Als hätte er auf sie gewartet.

      Nein, das hatte er nicht. Wäre er weggelaufen, hätten sie sich vielleicht keine Mühe gemacht und ihn entkommen lassen.

      Aber er war nicht geflohen. War nur dort gesessen. Und dann hatte er sie erkannt. Und sie ihn. In diesem Moment wusste er, dass sein Leben gelebt war. Keine Gnade. Kein schneller Tod.

      Die Cas ahnten nicht, welchen Genuss ihr das Spiel wirklich bereitete. Ihm erst die Sehnen zu durchtrennen, so dass er wehrlos am Boden liegenbleiben musste. Sein Blut zu trinken während er – nach wie vor klar bei Verstand – dabei zusah. Grauenerfüllt. Welch eine Genugtuung.

      Und dann die Krönung. Ihn mit ihrem eigenen Dolch zu zeichnen. Gleiches mit gleichem zu vergelten. Die Schlange würde sein Sterben begleiten. Wieder hatte sie den Kelch gefüllt. Und noch immer musste er ihr zu sehen.

      Sie hatte ihm angeboten, ihn von dem Anblick zu erlösen. Aber das hatte er nicht gewollt. Vielleicht hätte er besser zustimmen sollen. In wenigen Momenten hätte der Dolch ihm das Augenlicht genommen, doch er klammerte sich daran fest, als könne er damit alles andere verhindern.

      Wie du willst, hatte sie gesagt. Dann wirst du mir weiterzusehen.

      Sein Winseln störte sie. Ein kurzer Schnitt genügte, um daraus ein kraftloses Röcheln werden zu lassen. Seine Stimmbänder brauchte er ohnehin nicht mehr.

      Nur sein Herz und sein Gehirn würde sie noch eine Weile schonen, bis sie von selbst aufgaben.

      Ob er wüsste, wie schön Gedärme im Mondlicht glänzten, hatte sie gefragt. Aber er konnte ja nicht mehr antworten. Die Todesangst in seinen Augen berührte sie nicht.

      Also zeige ich es dir, wenn du es nicht weißt.

      Warmes Blut strömte über ihre Hände, als sie ihm die Bauchdecke aufschnitt.

      Sie hätte ihm gerne noch vieles gezeigt, was er in seinem Leben noch nicht gesehen hatte. Und er wollte doch sehen, nicht wahr?

      Wieder tänzelte die Klinge vor seinen Augen.

      Sie konnte gar nicht genug von seiner Angst bekommen. Du wirst für deine Schuld bezahlen. Aber das hier reicht noch nicht.

      Das Blut eines Sterbenden ist etwas Besonderes. Ob er das nicht wüsste. Und seines sei viel süßer als das der Hantua. Ob er nicht verstehen könne, dass sie mehr davon wollte.

      Seine Augenlider flatterten.

      Nein, hatte sie gesagt. Ich bestimme, wann die Zeit deines Todes gekommen ist. Nicht du. Und du sollst ihm bei vollem Bewusstsein begegnen.

      Kurz bevor seine Besinnung ihn verließ, jagte sie ihm die Sichel in den Hals. Ein langes, qualvolles Ende für ihn. Ein viel zu kurzes Spiel für sie.

      Die letzte Erinnerung an dieses Spiel leuchtete nun rot auf dem Grund des Kelches. Sie war allein auf dem Steg. Saß an der gleichen Stelle, an der er gesessen hatte. Und betrachtete den Mond.

      Beinah wie Zuhause.

      Sie hörte ihr eigenes Blut rauschen. So laut, dass sie nichts anderes wahrnahm. Es war wie Musik. Musik und ein strahlender Mond. Eine Last war von ihr abgefallen. Im Grunde nur ein Symbol, dass sie verborgen immer bei sich trug. Verborgen, weil es ein Zeichen ihrer eigenen Niederlage gewesen war.

      Nun war derjenige, der sie ihr beigebracht hatte, tot.

      Jetzt tat es nicht mehr weh, an damals zurückzudenken, als er gesiegt hatte. Er war nicht besser gewesen als sie. Nicht stärker, nicht schneller. Er hatte nur einen einzigen Vorteil gehabt. Hatte vermutlich selbst nicht einmal gewusst, dass es einer war. Hatte bis heute wohl nicht einmal geahnt, was er damals wirklich getan hatte.

      Eine Niederlage, von der nur sie selbst wusste und nicht der, der dafür verantwortlich war und auch nicht der, der ihm dabei zur Seite gestanden war und jetzt tot am Ufer des Mondsees lag.

      Jetzt war es keine Niederlage mehr.

      Wie seltsam, ihn gerade hier zu treffen. Es ist wie Zuhause, dachte sie. Mein Platz. Mein Revier. So wie ich damals in seinem war.

      Vor den Stadtmauern Goriols. Wo man die Verräter hängte und wo das Gesindel ausgepeitscht wurde. Da hatte er auf sie gewartet. Auf sie und auf die anderen. Er hatte den General aus Orio begleitet, doch damals hatte sie noch nicht gewusst, dass sich unter dessen Kapuze Iandal verbarg. Iandal, der noch mehr Anteil an ihrem Schmerz gehabt hatte, doch dieser Mann hier hatte ihm dabei geholfen. Hatte sie festgehalten, obgleich sie schon in Ketten gelegen hatte. Hatte das Eisen in die Glut gehalten.

      Er war ihr im schwächsten Moment ihres Lebens begegnet und hatte sie noch schwächer gemacht. Im Dienste einer Fürstin, die damals nicht geahnt hatte, welchen Gefallen er ihr dadurch tat.

      Sie roch noch das Feuer. Das verbrannte Fleisch. Niemals würde sie diesen Geruch vergessen. Als sie von den Wachen auf den Platz geschleift worden war, war es dieser Geruch gewesen, der ihr gezeigt hatte, was sie erwartete.

      Feuer ist der größte Feind der Sichelländer.

      Das wussten sogar die Mittelländer. Und sie machten es sich zunutze. So wie dieser hier.

      Jetzt war er tot.

      Und mit ihm das Gefühl, unterlegen gewesen zu sein.

      Jemand war da.

      Hinter ihr.

      Sie fühlte es, aber sie drehte sich nicht um. Sie wollte nicht gestört werden. Diese Erinnerung zum ersten Mal ohne Bitterkeit zu durchleben, war ein Genuss. Ein letztes Mal noch hob sie den Kelch und ließ die letzten Blutstropfen die Kehle hinabrinnen.

      Der Jemand hinter ihr nahm ihr das Gefäß aus der Hand. Es ist genug, hörte sie ihn sagen. Er sprach ganz leise. So weit weg. Durch das Rauschen kaum zu verstehen. Aber sie widersprach nicht.

      Der Mond flimmerte vor ihren Augen, als das Wasser durch einen Reiher aufgewühlt wurde. Doch auch als es sich wieder beruhigte, hörte das Flimmern nicht auf. Da war jetzt nicht mehr die silberhelle Scheibe, sondern tausende von Sternen, die über den See tanzten.

      Der Jemand hinter ihr legte die Hände auf ihre Schultern. Sie waren das einzige, was fest blieb. Der Steg auf dem sie saß, schien in die Tiefe zu fallen. Die Hände zogen sie nach hinten, bis sie sich gegen einen Körper lehnte. Jemand kniete da. Begann ihre Schultern zu massieren.

      „Wir sollten bis morgen früh hierbleiben.“ sagte eine angenehm tiefe, sehr vertraute Stimme. „Es ist schön hier am See.“

      Sie schloss die Augen und sah immer noch die Sterne, die umherwirbelten.

      „Wer war das?“ fragte die Stimme jetzt. „Er war etwas Besonderes, nicht wahr? Du hast dir viel Zeit mit ihm gelassen. Und… hast viel von ihm genommen.“

      Als sie antwortete, spürte sie, wie schwer ihre Zunge war und ihre eigene Stimme hörte sich fremd und weit entfernt an.

      „Er war ein Nichts. Aber er hat etwas getan, wofür er bezahlen musste. Vielleicht... erzähle ich es dir... irgendwann...“

      „Du solltest schlafen gehen.“

      „Ich wäre jetzt gern im Sichelland...“ Sie gab jegliche Körperspannung auf und ließ es zu, dass sie jetzt nur noch von dem, der hinter ihr kniete, gestützt wurde. Seine Hände lockerten weiter ihre Muskeln und sie versank in einen barmherzigen Zustand der Gleichgültigkeit.

      „Du