untersuchte inzwischen das Boot.
„Das Segel ist zerrissen. Wir müssen eine der Decken als Ersatz nehmen. Oder unsere Umhänge. Und wir haben nur noch zwei Ruder. Eins ist zerbrochen, und das vierte fehlt ganz. Wurde wohl über Bord gespült.“
„Hauptsache, das Essen is' noch da.“ Yos rieb sich den Bauch. „Du wirst es nich' glauben, aber ich sterbe vor Hunger.“
„Ich auch.“ Sie untersuchte eines der Bündel, die unter den Sitzbänken verstaut lagen. „Es ist wohl ziemlich durchgeweicht. Das Brot können wir sicher wegwerfen. Aber vielleicht ist der Rest noch genießbar.“
Es stellte sich heraus, dass auch die Decken fast vollständig durchnässt waren. Nur zwei waren noch halbwegs zu gebrauchen. In sie eingekuschelt und sacht dahintreibend, aßen sie Fleisch und Obst, beides etwas salzig vom Meerwasser, aber dennoch köstlicher als sie es sich hatten vorstellen können. Vielleicht, weil sie gerade erst einen Moment erlebt hatten, in dem sie sich überhaupt keine Mahlzeit mehr hatten vorstellen können.
Sie fühlten sich tatsächlich wie neugeboren.
Nachdem sie sich gestärkt und noch einmal über dieses beinahe tödliche Abenteuer ausgetauscht hatten, machten sie sich daran, aus ihren Umhängen ein neues Segel zusammenzubinden. Es war längst nicht so gut wie das alte, von dem nur noch Fetzen übrig waren, aber es blähte sich im Wind und brachte die Barke wieder in Fahrt.
„Bei Nacht ist es leichter, die Richtung zu halten.“ erklärte Yos und deutete nach oben. „Siehst du diese beiden großen hellen Sterne da? Die, die ganz dicht zusammenstehen. An die müssen wir uns halten, denen müssen wir entgegenfahren. Dann sind wir bald am Festland. Und dann, das verprech' ich dir, gibt’s keine Experimente mehr. Dann bleiben wir an der Küste. Könnten sowieso kaum noch 'was abkürzen.“
Sara nickte nur. Sie sagte nicht, was sie wirklich dachte, nämlich, dass es eigentlich nicht ihr Fehler gewesen war, der sie fast das Leben gekostet hatte. Yos hätte besser aufpassen müssen, er hatte nicht gemerkt, dass sie zu weit nach Westen abgetrieben waren. Aber andererseits war sie diejenige gewesen, die dafür plädiert hatte, auf das offene Meer hinauszufahren. Also behielt sie ihre Meinung für sich. Sie machte Yos auch keinen Vorwurf, er war nun einmal kein erfahrener Seefahrer. Er trug keine wirkliche Schuld an der Katastrophe. Genauso wenig wie sie.
Die nächsten Stunden verliefen ruhig. Yos und Sara griffen abwechselnd zu den Rudern, jedoch nicht, weil der Wind zu schwach war, sondern um sich aufzuwärmen. Yos hatte vorgeschlagen, so schnell wie möglich an Land zu gehen, ganz gleich, wie unwirtlich die Gegend dort auch sein mochte. Sie wollten ein Feuer machen und ihre nassen Sachen trocknen und sich dann erst einmal gründlich ausschlafen. Diese Verzögerung mussten sie wohl oder übel in Kauf nehmen, das sah auch Sara ein. Insgeheim freute sie sich sogar darauf, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, selbst wenn es nur für kurze Zeit war.
Dann endlich schimmerte ein grüner Streifen im Morgengrauen am Horizont. Und diesmal wurde Yos Freudengeschrei nicht durch eine plötzliche Erkenntnis unterbrochen. Land. Richtiges Land. Keine Riffe, keine Felseninseln. Sondern braungrüne Hügel, die zum Meer hin in einen schlammigen Sandstrand übergingen. Es kostete sie mehrere Versuche, eine Stelle zu finden, an der sie mit dem Boot dicht heranfahren konnten, ohne auf Grund zu laufen, denn das Gewässer war hier seicht und schmutzig, so dass man kaum etwas sehen konnte. Aber dann fanden sie eine Bucht, an der sie anlegen und die Barke mit einem Seil an einem großen Stein am Ufer vertauen konnten.
Weitaus schwieriger gestaltete sich die Suche nach Feuerholz. Es hatte in dieser Gegend wohl tags zuvor geregnet und die wenigen Bäume, die es hier gab, boten nur nasses Astwerk. So mussten sie sich mit ihrem eigenen zerbrochenem Ruder, zähen Wurzeln und den stinkenden Algen zufriedengeben, die sie in einer trockenen Felsspalte gefunden hatten. Das Feuer verursachte mehr Qualm als Wärme, aber immerhin half es, die Feuchtigkeit aus ihrer Kleidung und den Decken zu vertreiben.
„Wo sind wir eigentlich?“ fragte Sara, während Yos den Boden um sie herum von den größeren Steinen zu befreien versuchte, damit sie ein halbwegs bequemes Lager errichten konnten.
„Immer noch in Shanguin. Da hinten muss Valahir sein. Ich denk' mal, an klareren Tagen könnte man die Berge seh'n. Wir müssten auf so 'ner Art Halbinsel sein. Hab da mal ne Karte gesehn. Um die müssen wir rum. Also um die Halbinsel. Und dann noch an den letzten Bergen vorbei. Das war's.“
„Wie lange wird das dauern?“
Yos rechnete angestrengt nach. „Ich denk' mal, so zwei Tage oder so. Vielleicht 'n bisschen mehr, vielleicht auch weniger. Hab mich 'n bisschen verschätzt. Unter vier Tagen is' die Strecke insgesamt nich' zu machen. Dachte, es könnt auch schneller geh'n. War'n wohl nur Hochstapler, die sowas erzählen.“
„Das ist doch nicht deine Schuld. Ich weiß, dass es nicht schneller geht. Wahrscheinlich brauchen die meisten viel länger, wenn sie den Sichelbogen entlangfahren. Ich glaube nicht, dass jemand ein so kleines Boot schneller zu den Ruinen bringen kann, als du es gerade tust.“
Sie meinte das ganz ernst und Yos spürte das. Er strahlte vor Stolz.
„Weißte, ich glaub' auch nich', dass ich 'ne bessere Hilfe haben könnt' als dich. Hast zwar keine Erfahrung, aber du packst mit an. Ich dacht', du wärst so 'n verwöhntes Ding, weil du ja in Vas-Zarac gewohnt hast. Aber nee, biste nich'.“
Da fiel Sara etwas ein.
„Yos... wie willst du eigentlich zurückkommen? Der Wind kommt doch immer von Norden. Du kannst doch nicht den ganzen Weg rudern? Allein schon gar nicht.“
Yos grinste.
„Lass' das mal meine Sorge sein. Erstens kommt der Wind nich' immer von Norden. Nur meistens. Muss man halt 'nen günstigen Zeitpunkt abwarten. Und zweitens hab ich's ja nich' so eilig. Ich mein', natürlich will ich nach Hause. Aber wenn's ein paar Tage länger dauert, isses auch nich' schlimm. Kann's ja nich' ändern. Hauptsache, ich komm' überhaupt vorwärts.“
„Du könntest auf dem Landweg zurückgehen. Das geht vielleicht schneller.“
„Und die Barke? Neee, Sara, sowas mach ich nich'. Ich lass' doch so ein gutes Stück nich' irgendwo im Mittelland liegen. Nee, die geb' ich zurück. Oder heb' sie auf, bis du auch wieder da bist.“
„Bis ich wieder da bin?“
„Na, du kommst doch wieder, oder nich'? Oder willste gar nich' mehr nach Cycalas?“
Sara schluckte.
„Doch... ich... würde gern zurückkommen. Wenn ich noch darf. Das ist nicht meine Entscheidung, Yos.“
„Ja, ich weiß schon. Aber wenn du mich fragst, die nimmt dich wieder mit, wenn du's willst. Und falls du heimlich kommst, kannste bei mir in der Hütte wohnen. Is' ein Versprechen.“
Die Heilerin spürte, dass Yos das nicht nur sagte, um sie aufzumuntern. Vielleicht hatte sie ihm durch diese merkwürdige Reise einen größeren Gefallen getan, als ihr selbst klar war und dies war seine Art, sich dafür zu bedanken. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, über die Bemerkung zu lachen.
„Noch ist es nicht so weit.“ sagte sie nur. „Lass uns jetzt die Decken holen, die noch brauchbar sind. Ich falle um vor Müdigkeit.“
Obwohl es hellichter Tag war, schliefen beide ein, kaum dass sie sich niedergelegt hatten. Der Himmel war trüb und grau, brachte aber keinen Regen, sondern nur ungemütlichen Wind, der über sie hinwegstrich.
Am späten Nachmittag erwachten Yos und Sara fast zeitgleich. Beinahe alles, was sie um das inzwischen erloschene Feuer herum ausgebreitet hatten, roch jetzt nach Rauch und Algen, war aber zumindest getrocknet. Hastig suchten sie ihre Habseligkeiten zusammen und kehrten zu der Barke zurück, die schon bald darauf an der Küste der Halbinsel entlang weiter nach Süden segelte.
Horem wartete an einer Weggabelung. Wie so oft war er den anderen Cas und der Shaj voraus geritten, doch an diesem Tag gab es nichts Auffälliges zu vermelden. Weder die Spuren von Hantua noch umherwandernde Mittelländer gaben ihm Anlass für Neuigkeiten.