Christine Boy

Sichelland


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paar Schritte entfernt war. Immer wieder mussten sie im letzten Moment die Richtung ändern, bevor der Boden allzu sumpfig und gefährlich wurde. Ein Pfad war kaum mehr zu erkennen.

      Das Heulen des Windes war stärker geworden. Laute, die weder Mensch noch Tier gehörten, aber dennoch wie die eines lebenden Wesens klangen, jagten den Cas Schauer über den Rücken, auch wenn sie keine Angst davor empfanden. Dennoch war es selbst nach so langer Zeit unmöglich, sich daran zu gewöhnen.

      Keiner wusste, wie weit die Waldgrenze noch genau entfernt war. Zwar gab es Karten, doch die wenigen markanten Punkte in dieser Gegend wie ein größerer See, ein besonders hoher Hügel oder eine halb verfallene Brücke, von der längst niemand mehr wusste, wer sie aus welchem Grund errichtet hatte, lagen weit von ihrem Weg entfernt und wären bei diesen Sichtverhältnissen ohnehin kaum auszumachen gewesen. Horem glaubte, dass sie gegen Morgen ein Gebiet erreichen konnten, das festeren Boden und somit eine höhere Reitgeschwindigkeit zuließ, so dass sie, sofern es keine besonderen Vorkommnisse gab, am Mittag endlich die letzten Ausläufer der Singenden Sümpfe hinter sich lassen konnten. Aber dies war nur eine vage Schätzung. Tatsächlich fühlte auch er, der beste Kundschafter und Fährtenleser der Gruppe, sich ein wenig verloren und sehnte sich sogar ins Felsland zurück, gegen das er nicht minder gewettert hatte.

      Nach mehreren weiteren ereignislosen Stunden sorgten zwei verirrte Hantua dann aber doch noch dafür, dass die Sichelländer den Trübsinn, den die Sümpfe verbreiteten, für kurze Zeit vergaßen. Wieder war es Horem, der zuerst auf die Feinde stieß. Ihre Spuren hatte er nicht gefunden, doch Zrundirs Soldaten machten viel unmissverständlicher auf sich aufmerksam.

      „So dumm können die doch nicht wirklich sein.“ Der ausschauhaltende Cas, der der Gruppe ein Stück vorausritt, zog hart an den Zügeln, so dass sein Pferd abrupt zum Stehen kam. Er verengte seine scharfen Augen zu Schlitzen und durchbohrte mit seinen Blicken förmlich den Nebel bis zu einer Stelle, von der ein schwaches Glimmen zu ihm durchbrach.

      Rahor und Lennys schlossen als erste zu Horem auf. Ohne zu fragen, folgten sie seinem Blick.

      „Ein Sonnenstein?“ Auch Rahor verbarg seinen Spott nicht. „Die scheinen tatsächlich um den Tod zu betteln.“

      „Viele sind es sicher nicht, sogar unter den Hantua gibt es genügend, die wissen, dass die Verwendung eines Sonnensteins uns förmlich anzieht.“ Horem konnte es immer noch kaum glauben.

      „Möglicherweise eine Falle.“ Rahor schien skeptisch. „Wer weiß, vielleicht ist genau dort ein Sumpfloch und wenn wir...“

      „Nein.“ Lennys stieg ab und landete lautlos auf dem weichen Boden, wobei sie darauf achtete, das verletzte Knie nicht unnötig zu belasten. Sie griff nach ihrer Sichel. „Kein Sumpfloch. Es sind tatsächlich Hantua und sie sind nur zu zweit.“ Sie deutete auf eine Stelle im Schlamm, die nur wenige Schritte entfernt war. Mit viel Mühe konnte man darin halb überschwemmte Fußspuren erkennen, die beim bloßen Vorbeireiten verborgen geblieben wären. „Außerdem fehlt es den Hantua an Verstand, eine solche Art von Plan auszuhecken. Sie hätten ja auch keine Ahnung, wie viele von uns sie damit anlocken würden.“

      Rahor sah über die Schulter zurück.

      „Die anderen sind auch gleich da.“

      „Du bleibst hier und sagst ihnen, dass sie warten sollen. Horem und ich kümmern uns um die Missgeburten.“

      Erstaunt hob Rahor die Brauen.

      „Ihr beide?“

      Doch Lennys antwortete nicht mehr und bahnte sich schon, gefolgt von ihrem Späher, den Weg durch die Schlammlöcher und Schilfstauden, die überall wucherten.

      Etwas ratlos blieb der Oberste Cas zurück und schilderte seinen Gefährten kurz darauf, was gerade vor sich ging. Tatsächlich mussten sie nicht lange warten, schon bald kehrten die Shaj und Horem zur Gruppe zurück. Während Lennys es gar nicht erst für nötig hielt, zu berichten, erklärte Horem:

      „Nicht der Rede wert. Waren wirklich nur zwei und einer von beiden hat sogar noch geschlafen. War gleich erledigt. Sieht nicht so aus, als wären noch mehr in der Gegend.“

      Über diese kurze Unterbrechung wurde auch nicht weiter gesprochen. Sowohl Lennys als auch Horem hatten, wenn auch nicht ohne Bedauern, darauf verzichtet, ihre Kelche zu füllen. Sie wollten keine weitere Zeit verschwenden und hätten nach einem Bluttrunk unweigerlich eine Pause einlegen müssen, die sie sich jetzt nicht leisten konnten und wollten.

      Schweigend ritten sie weiter gen Süden. Im Stillen fragte sich Rahor, wie es den cycalanischen Boten gelingen sollte, sie hier zu finden, falls es etwas Wichtiges zu berichten gäbe. Einige Säbelwächter, die die großen Heere anführten, konnten sich natürlich denken, wo in etwa sich die Cas und die Shaj aufhielten und würden, sollte es nötig sein, versuchen, ihre Berichte dorthin zu schicken. Hier in den Singenden Sümpfen war es jedoch aussichtslos, eine einzelne Person oder auch eine kleine Gruppe, wie sie es waren, auszumachen. Vor dem Erreichen des Drei-Morgen-Waldes war also eine Botschaft von den cycalanischen Truppen nicht zu erwarten. Er machte sich deshalb aber keine Sorgen. Seit jeher hatten sie so ihre Kriege geführt, die obersten Kämpfer immer abgespalten von den Heeren, jedoch genauso tödlich für den Feind. Sie mussten ihre Herrscher nicht an die Spitze einer Schlacht stellen, um den anderen Kriegern Mut einzuflößen. Sie mussten nicht ständig taktische Besprechungen abhalten, um die Angriffe zu koordinieren. Jeder, der es in den Rang eines Säbelwächters oder gar Sichelkriegers geschafft hatte, wusste, was zu tun war und wie er die ihm Unterstellten anzuführen hatte, selbst wenn er tagelang keine Befehle oder auch nur Lebenszeichen von den Cas oder der Shaj erhielt. Nicht zuletzt deshalb blieb die Kampfstärke Cycalas unerreicht und würde auch Logs angeblich so furchteinflößender Armee trotzen.

      Plötzlich fühlte Rahor einen ungeheuren Stolz in sich aufwallen. Zum ersten Mal seit langer Zeit wurde ihm wieder bewusst, dass er nach der Herrscherin der Nacht der oberste Kämpfer eines Volkes war, das nahezu unbesiegbar schien. Ganz Sacua erzitterte vor der Macht des Sichellandes, die legendären Cas galten seit dem Anbeginn der Zeit als die tödlichste Waffe des ganzen Kontinents. Und er stand an ihrer Spitze. Nicht, weil er besser war als seine acht Gefährten. Nicht, weil er ihnen Befehle erteilte. Sondern, weil er Derjenigen am nächsten stand, die diese Macht in sich verkörperte wie kein anderer. Es würde der Tag kommen, an dem dies ein Ende hatte. Einer von ihnen beiden würde diese Welt für immer verlassen und Rahor wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er der erste war. Er konnte sich ein Cycalas ohne Lenyca Ac-Sarr nicht vorstellen und er wollte es auch nicht. Seine Bestimmung war es, die Shaj mit seinem Leben zu schützen und dies war auch das, was er als sein stärkstes Begehren empfand. Er sehnte sich nicht nach dem Tod, aber er hoffte, dass der Tag, an dem er selbst sein Leben gab, auch einer war, an dem dieses Sterben mit Sinn erfüllt war. Und nichts würde seinem Tod mehr Sinn geben, als dadurch ihr Leben zu erhalten.

      Natürlich dachte nicht er allein so. Allen Kriegern und insbesondere den neun Cas war dieses höchste Bestreben gemein. In der Vergangenheit hatte es Generationen gegeben, in denen der Shaj nicht so wie heute aus seinen engsten Gefolgsleuten herausstach. Schwach war er nie gewesen, aber es hatte ihm an dem Glanz gefehlt, den die Ac-Sarr-Linie ausstrahlte. Saton war nicht der erste Nachkomme dieses uralten Geschlechts gewesen, der über die Nacht herrschte, aber die Zeit, da seine Ahnen an der Macht gewesen waren, lag lange zurück. Sie hatten sich zurückgezogen, hinauf nach Yto Te Vel und dort vielfach von sich reden gemacht, oft auch als Cas, zumindest aber als vielbeachtete Krieger. Nicht jedem von ihnen lag es, zu befehlen und viele widmeten ihr Leben eher den alten Kulten und Ritualen, die bis heute überlebt hatten. Mit Saton waren die Ac-Sarrs aber wieder auf den Thron zurückgekehrt. Damals war Rahor noch nicht geboren gewesen, aber wie oft hatte sein Vater von jenen Tagen erzählt, da der große Krieger aus dem Norden gekommen war und in Semon-Sey Einzug gehalten hatte. Wie schnell hatte er bewiesen, dass niemand ihm im Zweikampf das Wasser reichen konnte, wie deutlich war der Zuspruch gewesen, den er nicht nur von den Batí, sondern auch von allen anderen Sichelländern erhalten hatte. Und als dann die Wahl des neuen Shajs anstand, gab es schon im Vorfeld keinerlei Zweifel daran, dass er als der Erwählte daraus hervorgehen würde.

      Umso tiefer war aber auch der Abgrund gewesen, in den das Land bei seinem Tode