D. Bess Unger

Der Engel mit den blutigen Händen


Скачать книгу

zwei unabhängigen Kreisläufen zu den Bremsen geführt. Ein Kreis versorgt das rechte Vorderrad und das linke Hinterrad beziehungsweise umgekehrt. Wenn aus einem Kreis Bremsflüssigkeit ausläuft, hat man immer noch 50% Bremswirkung. Mit diesem Manko kann das Auto immer noch zum Stehen kommen. Ich muss zusätzlich die Bremsleitungen für beide Kreise anbohren ...«

      »Es muss wie ein Unfall aussehen«, unterbrach Athina seinen Redeschwall. »Auf dich darf kein Verdacht fallen!« Sie fürchtete, dass in diesem Fall auch ihre Person in Verdacht geraten könnte, war doch Marios’ Leidenschaft für sie nicht unbekannt geblieben.

      »Ich lasse es wie Marderbisse aussehen, solche Schläuche sind mir oft genug unter die Finger geraten«, beruhigte Marios und fuhr unbeirrt im Vortrag fort: »Bei jedem Tritt auf die Bremse wird etwas von der Flüssigkeit herausspritzen und der Druck im Bremssystem wird immer geringer. Bei einer Berg- und Talfahrt ist ruckzuck Schluss mit der Bremswirkung. Blöd nur, dass eine Kontrollleuchte anzeigt, dass mit den Bremsen irgendwas nicht stimmt. Die werde ich auch noch deaktivieren müssen, doch die Elektronik zu überlisten, ist nicht ohne.«

      »Das wirst du hinbekommen«, sagte Athina befriedigt. »Ich sehe, du verstehst dein Handwerk. Du weißt, was du morgenfrüh zu tun hast. Frisch ans Werk!« Sie warf einige Geldscheine auf den Tisch, grußlos stand sie auf, überquerte die Straße und schlenderte über die Uferpromenade davon.

      Bewundernd und beduselt vor Seligkeit blickte Marios ihr hinterher. »Sie ist ein wahrhaftiger Engel. Sie wird mich in das Paradies führen.«

       20. August, Dienstag, Volos

      Eleni seufzte. »Heute müssen wir Tante Lena in Zagora besuchen, Atridi. Kannst du auf Filippos aufpassen?«

      »Nein, das geht nicht, Mama«, bedauerte sie. »Ich muss für die Aufnahmeprüfung an der Uni lernen.«

      »Na schön, wir nehmen ihn mit. Nicht ausgeschlossen, dass Tante Lena ihn heute zum letzten Mal sieht. Ihre Gesundheit macht mir Sorgen.«

      »Schnallt den Kleinen bitte auf dem Kindersitz an«, bat Atridi. Sie wusste, dass ihre Eltern von dieser Erfindung nicht viel hielten. »Ach, ich erledige das besser persönlich.« Sie zwängte den sich sträubenden Bruder in den Sitz auf die Rückbank und zog die Gurte stramm. Er begann zu weinen, sehnsüchtig streckte er ihr die Ärmchen entgegen.

      »Atridi, Atridi« bat er flehend und griff in ihre Haarmähne.

      »Ja, ich weiß, mein Kuschelbär, du würdest eher bei mir bleiben. Deine Schwester muss heute viel lernen, sonst wird aus ihr nichts Gescheites!« Sie küsste ihn, schloss die Autotür und winkte dem abfahrenden Wagen nach.

      »Vasilis, der Wetterbericht hat für heute im Gebirge Gewitter gemeldet! Ist das nicht fahrlässig, was wir da tun?«

      »Eleni«, beruhigte ihr Mann, »schau dir den Himmel an! Keine Wolke weit und breit!«.

      Als sie im Piliongebirge den Chani-Pass überfuhren, änderte sich jählings das Wetter. Vor der Passhöhe war der Himmel noch dunkelblau gewesen, so tiefblau, wie er nur an Sommertagen sein kann. Jetzt lag eine Wolkenbank vor ihnen, es wurde spürbar kühler. Sie fuhren in die Wolke hinein, vereinzelte Tropfen fielen, der Regen wurde stärker, im Nu war die Straße in einen reißenden Bach verwandelt. Die Scheibenwischer ächzten und schabten, sie hatten Mühe den Wassermassen Herr zu werden.

      »Vasilis, runter vom Gas!«, schrie Eleni. »Bremsen, rechts ran und anhalten!« Mit ihrer linken Hand fühlte sie nach hinten, um ihrem Sohn Schutz und Trost zu geben.

      »Ich kann nicht! Die Bremsen greifen nicht! Keine Reaktion!«, brüllte Vasilis. »Heiliger Spyrídon hilf ...«

      Der Wagen schlitterte, drehte sich, durchbrach die morsche Leitplanke und stürzte mit dem Heck voran in die Tiefe. Er blieb an einem Felsvorsprung hängen, drehte sich nach vorne und schlug mit einem hässlichen Krachen mit dem Dach auf. Vasilis und Eleni wurden durch die Frontscheibe geschleudert, sie waren sofort tot.

       23. August, Freitag, Volos

      Drei Tage später war die Beerdigung. Im Friedhof Agios Dimitrios in Ano Volos war eine stattliche Menschenmenge versammelt, die Papalukas waren eine der angesehensten Familien in der Stadt.

      »Ein Wunder, dass Filippos den Unfall überlebt hat!«

      »Und dass der Tank nicht explodiert ist!«

      »Ein Glück, dass man das Unglück beobachtet hatte!«

      »Ja, der Kleine wäre sonst auch tot!«

      »Was wird jetzt aus ihm werden? Ohne Mutter und Vater?«

      »Ein Kinderheim, das wäre das Beste!«

      Getuschel und vermeintlich rechtschaffen gemeinte Vorschläge umschwirrten die in tränenaufgelöste Atridi. Sie hielt ihren vierjährigen Bruder an der Hand, wütend starrte sie in die Gesichter der Umherstehenden.

      »Keine Sorge, ich werde Filippos bei mir behalten!«, sagte sie und versuchte trotz Verzweiflung und Tränen ihrer Stimme einen entschlossenen Ausdruck zu geben.

      Ihr Bruder Christos schüttelte den Kopf vor so viel Naivität. »Nein, wir geben ihn weg! Ein dreijähriges Kind! Ich muss mich jetzt um das Geschäft kümmern und du mit deinen achtzehn Jahren schaffst das auch nicht! Im Herbst willst du mit dem Studium angefangen! Mit diesem Klotz am Bein kannst du das vergessen!«

      »Mit der Zeit werden die Männer glauben, dass das dein Kind ist«, gab eine entfernte Verwandte zu Bedenken. »Sie werden dich meiden wie die Pest! Wer wird schon eine Frau mit Kind heiraten wollen!«

      Zornbebend funkelte Atridi ihre Verwandte an. »Ich weiß, was meine Eltern gewollt hätten und ich weiß, was mein Wildfang will«, sagte sie. »Das Kind bleibt bei mir! Meine Kinderfrau Stavroula wird mir helfen. Basta!«

      Zur gleichen Zeit fand noch eine Beerdigung statt. Hinter einem Sarg schritt eine verhärmte Frau.

      Die Trauergemeinde der Papalukas schielte hinüber.

      »Grässliche Sache, sehr tragisch.«

      »Die arme Mutter! Wer soll sich jetzt um sie kümmern?«

      »Was genau ist passiert?«

      »Haben Sie nicht davon gehört?«

      »Nein.«

      »Ein Lehrling, achtzehn Jahre alt.«

      »War er erkrankt?«

      »Nein, Selbstmord, er hat sich aufgehängt. Auf dem Dachboden.«

      »Wie furchtbar? Warum?«

      »Schulden, Liebeskummer? Wer weiß.«

      »Er hieß Marios«, wusste jemand. »Arbeitete in einer Autowerkstatt.«

      Als der Sarg des Jungen vorbeigetragen wurde, senkte eine blond gelockte Frau in einem schwarzen Kleid den Kopf. »Marios, du Schwächling«, flüsterte sie. »Hab Dank für diesen letzten Dienst an mir.«

       18. Oktober, Freitag, Piliongebirge

      Gelangweilt saß Athina am Küchentisch und starrte nach draußen in den trüben Herbstmorgen. Ein Mann in einer lilafarbenen Weste eilte vorbei. War das nicht Biglia? Ihr Herz begann zu klopfen. Aufgeregt lief sie in den Flur. Es klingelte, sie riss die Haustür auf, Biglia, ihr heiß geliebter Zauberer, stand vor ihr!

      Athina stieß Freudenschreie aus, Biglia strahlte sie an. Begierig fanden sich ihre Lippen zu einem sinnlichen Kuss. Er schob sie zurück in den Flur, mit dem Fuß warf er die Tür ins Schloss. Ihrer beide Hände waren überall, Gesicht, Brust, Rücken, Po, vergewisserten sich der zurückliegenden Vertrautheit ihrer Körper.

      Sie unterbrach den Kuss. »Mein Zauberer, endlich, endlich bist du bei mir.« Ihre Stimme zitterte, prüfend fixierte sie seinen Stern, hoffte an der Intensität zu erkennen, ob Biglia ihr die Treue bewahrt hatte. ›Eifersüchtiges