D. Bess Unger

Der Engel mit den blutigen Händen


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und steckte den Ring in ihre Handtasche.

      »Warum wurde keine Vermisstenanzeige aufgegeben?«, wunderte sich der Polizist. »Ihr Onkel muss doch schon vor mindestens drei Jahren verschwunden sein. Hat sich die Familie keine Sorgen gemacht?«

      »Ach, Onkel Sotiris und die Familie«, lächelte Athina gequält. »Er war ein Sonderling, im Alter geistig verwirrt, hauste einsam in einem verlassenen Bergdorf, schoss mit einem vorsintflutlichen Gewehr auf uns, wenn wir ihn in seiner verfallenen Hütte besuchen wollten. Zu guter Letzt haben wir den Kontakt aufgegeben.« Athina senkte den Kopf, eine Träne fiel auf das Formular. »Wo haben Sie meinen armen Onkel gefunden? Wo ist er beerdigt?«

      »Traurige Geschichte«, sagte der Polizist. »Mein Beileid.« Ihr die Hand zu geben, traute er sich nicht, zum einen fühlte er sich zu minderwertig, zum anderen trug sie kurioserweise Handschuhe. Er ging zum Computer, nach einigen Minuten kam er mit zwei Ausdrucken zurück. »Auf dieser Karte habe ich die Höhle im Gebirge angekreuzt, in der die Übereste Ihres Onkels gefunden wurden. Hier auf der Friedhofskarte von Agios Dimitrios in Ano Volos habe ich vermerkt, wo er beigesetzt wurde.«

      Mit tränenumflorten Blick dankte Athina und nahm die Blätter entgegen.

      Der Polizist starrte der blonden Frau hinterher. Den liebenlangen Tag konnte er nur an eines denken: »Eine Nacht mit diesem Engel zu verbringen, das wäre wie ein Blick ins Paradies.«

      Einen Kilometer hinter dem Bergdorf Drakia parkte Athina den Wagen. Sie folgte einem Hirtenpfad, erreichte eine Gruppe von Felsblöcken, linker Hand stieg das Gebirge steil an, ein verwittertes Hirtenzeichen wies auf den Höhleneingang. Sie musste sich bücken und auf den Knien hineinrutschen. Drinnen war es düster, sie beglückwünschte sich, eine Taschenlampe mitgenommen zu haben. Der Lichtschein fiel auf die achtlos beiseitegetretenen Gebeine von Kali. Athina hatte damit gerechnet und eine Plastiktüte mitgebracht. Sorgfältig sammelte sie Schädel, Schulter- und Beckenknochen der Wölfin ein, mit gespreizten Fingern durchkämmte sie den trockenen Sandboden, selbst die winzigsten Knöchelchen erfühlte sie.

      Im Licht der Lampe suchte die Magierin die Felswand nach geheimen eingeritzten Zeichen ab. Sie wurde fündig, konnte den Hinweisen folgen und begann in der hinteren Ecke der Höhle mit ihren behandschuhten Händen den losen Sand des Höhlenbodens beiseite zu räumen. Sie stieß auf Biglias Anhänger und seine Kralle, die schreckliche Waffe, tödlich wie ein Messer.

      Schon wollte Athina sich mit dem Fund begnügen, als ihre Hand in der ausgehobenen Grube noch einen Gegenstand erfühlte. Es war eine silberne Dose. Sie kroch aus der Höhle heraus, draußen im Sonnenlicht öffnete sie den Verschluss. Ihr Atem beschleunigte sich, sie konnte nicht fassen, was sie da sah.

      Es war der Fruchtbarkeitsstein! Ein wunderbar geschliffener, seltsam geformter Rosenquarz. Er glich einer hochschwangeren Frau, war durchscheinend und hatte im Inneren rosafarbene Einschlüsse in Form eines Fötus. Eine zunehmende, Leben bringende Mondsichel, die sich schützend über einen zweiten Mond schob, ein fünfstrahliger Stern und eine Schlange, das Symbol für Weiblichkeit, waren auf der Oberfläche eingraviert.

      Sie wusste – Biglia hatte es ihr oft genug erzählt – dieser Stein war an der Küste von Zypern in einer einsamen Bucht, die den Roma heilig ist, gefunden worden. Die uralten Symbole bewirkten einen Zauber, der für Nachkommen der Roma sorgte. »Wenn der Stein unserem Stamm verloren geht«, hatte er verkündet, »ist er ohne jede Zukunft.«

      Athina ahnte, was geschehen war: Biglia war sterbenskrank gewesen, hatte es trotz seiner Magie nicht mehr geschafft, zu ihr zu kommen. Da hatte er erst Kali mit der Kralle getötet, sich die Adern aufgeschlitzt, den Anhänger, die Adlerkralle und den Fruchtbarkeitsstein im Sand verborgen, sodass nur Eingeweihte sie fänden.

      Nachts bei Vollmond ging Athina zu Biglias Grab. Im schäbigsten Teil des Friedhofs, umgeben von Gräbern, auf denen vergilbte Plastikblumen lagen, hatten die Behörden seine Knochen verscharrt. Mit bloßen Händen grub Athina ein Loch, legte die Gebeine von Kali hinein, strich die Erde glatt und steckte magische Plättchen in den trockenen Sand. »Lebe wohl, mein einziger Geliebter«, flüsterte sie. »Lebe wohl Kali, du treue Begleiterin.« Sie legte Biglias Talisman um ihren Hals und ging, ohne sich umzusehen, davon.

      Die Magierin Athina besuchte das Grab nie wieder.

      20. Mai, Sonntag, drei Jahre später

      Vasilios Manoli wurde am Morgen vom Meltemi, der heftig an den klapprigen Holzläden rüttelte, geweckt. Schon als Kind hatte er in den Sommermonaten immer dann heftige Migräne bekommen, wenn dieser Schönwetterwind von Norden kommend über das Ägäische Meer herfiel.

      Beim Aufstehen erinnerte sich Vasilios an die Ereignisse des letzten Sommers. »Los Vasilios, komm mit!«, forderten ihn zwei Studienfreunde auf. »Wir segeln nach Santorin, das Wetter ist prächtig.«

      Morgens hatte er aus Südwest Blumenkohlwolken am Himmel aufziehen sehen, die sich zu vorgerückter Stunde mit hohen Schäfchenwolken abwechselten. Als der Hirte Akylas ihm vom Wetterleuchten am nördlichen Nachthimmel erzählte, wusste Vasilios, dass der Wind, der ihm Kopfweh brachte, aus dem nördlichen Balkan heranzog.

      »Nein, segelt ohne mich los, ich muss für mein Physikum büffeln«, hatte er gelogen und die Beiden waren ohne ihn zu dem Segeltörn aufgebrochen. Am Abend hörte er in den Nachrichten, dass ein Boot in der Meerenge zwischen Euböa und Andros von einer gigantischen Fallbö erfasst und zum Kentern gebracht worden war. Nur einen der beiden Segler hatte man retten können, der andere war vom Meer verschlungen worden.

      Dass der Meltemi ihm schon im Monat Mai Ärger machte, kam nicht in jedem Jahr vor. Vasilios wusste, oben in den Bergen des Piliongebirges würden die Auswirkungen des Windes für ihn erträglicher sein. Er packte Brot, Käse, eine Zwiebel und eine Handvoll Oliven in den Rucksack und holte einen Krummstab, der hinter der Haustür stets bereitstand, hervor.

      »Ich gehe Akylas besuchen«, rief er vom Flur her seiner Mutter zu, die in der Küche herumwerkelte. »Warte nicht auf mich, ich übernachte in den Bergen.« Hastig zog Vasilios die Tür ins Schloss, er war nicht in Stimmung, sich auf ihre Bedenken einzulassen.

      Er trat auf die Straße hinaus und hoffte auf keine Nachbarn zu treffen, die ihn in ein Gespräch verwickeln konnten. Eine Windböe wirbelte Sand auf, er spürte die aufprallenden Körner wie Nadelstiche auf der Haut. Schützend hielt er eine Hand vor die Augen.

      »Pass auf, wo du hinläufst, du Trampel!«, fuhr ihn eine wütende Stimme an.

      Erschrocken blieb er stehen, rieb sich die Augen und blickte auf. Vor ihm standen zwei Frauen, die eine schob einen Kinderwagen. ›Wer hat mich derart unbeherrscht angefahren?‹, fragte er sich. Beide Frauen boten einen ausnehmend erfreulichen Anblick, schienen knapp über dreißig Jahre, waren schick gekleidet, blonde und schwarze Locken umrahmten perfekt geschminkte Gesichter. ›Bestimmt nicht die Blondine mit dem engelsgleichen unschuldigen Gesicht, eher die Schwarzhaarige‹, unterstellte er.

      Die blonde Schöne machte mit der linken Hand eine seltsam fließende Bewegung in Vasilios’ Richtung. Im Unterbewusstsein nahm er wahr, dass ihre Handflächen mit roten Punkten übersät waren. ›Hat sie in Dornen gegriffen?‹, wunderte er sich. Schlagartig erweiterte sich der bisher halbseitige Schmerz auf beide Gehirnhälften, im Bereich von Stirn, Schläfe und Auge pulsierend. Die Farbe wich ihm aus dem Gesicht, er begann leicht zu schwanken.

      »Ist Ihnen nicht wohl?«, hörte er eine dröhnende Stimme in seinem Kopf. »Wollen Sie sich setzen? Da drüben steht eine Bank.« Er fühlte eine Hand, die sich ihm stützend unter den Arm legte. »Athina, übernimm den Kinderwagen, ich glaube, ich kenne den Mann.«

      Urplötzlich ließ der heftige Schmerz in der Stirn nach. »Danke, es geht schon, der Meltemi macht mit zu schaffen«, murmelte er. Erstaunt starrte er auf die Hände der blonden Schönheit. ›Nanu, sie trägt ja mit einem Mal Handschuhe, habe ich mir die Verletzungen ihrer Hände nur eingebildet?‹ Es waren Kurzfingerhandschuhe aus feinem roten Leder mit aufgenähten Applikationen aus edlen Steinen. ›Wozu