D. Bess Unger

Der Engel mit den blutigen Händen


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geschmückt

      Mit lavendelfarbenen Winterkrokus.

      Bauschige Wolken, weiß und rosa,

      Der Mandelblüten

      Übersäen die Hügel.

       Die purpurblaue Iris leuchtet in der Morgensonne.

      Die köstlich duftende, gelbe Narzisse,

      Verschenkt in Massen den Nektar.

      Orchideen, kostbar wie geschliffene Edelsteine, leuchten.

      Die ersten Zikaden begrüßen den Sonnenglanz

      Des nahenden Sommers.

      Judasbäume verspritzen rot über das Land,

      Ginster verschenken an die Hügelhänge ihr Gelb,

      Goldene Ringelblumen decken die Felder.

       Thymian, Minze und Salbei blühen und duften,

      Zur Freude der Bienen.

      In der Luft hängt der schwüle Duft der Robinien,

      Delphinium strahlt in Violett.

      Gelben Königskerzen schmücken sich

      Mit bunten Schmetterlingen.

      Das Orchester der Zikaden

      Füllt den Nachmittag mit Schläfrigkeit.

       Herbstasphodele zeigt unverzweigte Ähren,

      Alraune ihre purpurne Kostbarkeit.

      Fliederfarbene Überflutung durch die Zyklamen,

      Herbstkrokus und weißer Safran auf Wiesen und Wäldern

      Beenden das Jahr.

      Der erste Schnee fällt.

      Vasilios war, als wandere er mit dem Kentauren über Wiesen und durch Wälder, folgte Bachläufen, kletterte über Berge, durcheilte Täler, ruhte unter Wasserfällen. Und alle Pflanzen, die er blühen sah, verrieten ihm, dass sie wunderbare Kräfte besaßen, den sehnsüchtigen Wunsch hatten, dass er, Vasilios, ihre Heilkräfte erkennen und nutzen werde.

      Der Kentaur und der Rabe blickten Vasilios an. »Ich bin ein Gestaltwandler aus einer dir nicht erfassbaren Welt. Was du Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft nennst, existiert nicht für mich. Für die Begegnung mit dir musste ich deine und meine Zeit angleichen. Meine wahre Gestalt würde kein Mensch erfassen, deshalb erscheine ich dir in zweifachen Spielart, Kentaur und Rabe.«

      Obwohl das Wesen nur zehn Meter von Vasilios entfernt stand, schien die Stimme von weither zu kommen. Oder hörte er sie nur in seinem Inneren?

      »Freud und Leid von Mensch und Tier berühren mich nicht. Die Dauer eures Menschenlebens ist für mich wie ein Wimpernschlag. Das Leben ein Erscheinen und Verschwinden im endlosen Wandel.«

      Die tiefschwarzen Körper von Kentaur und Rabe schienen von innen heraus zu leuchten. Die Konturen waren nicht scharf begrenzt, sie flimmerten wie Luft über heißem Asphalt im Sommer. Ihre Augen strahlten in einem derart leuchtenden Blau, dass Vasilios sich geblendet abwenden musste.

      »Warum hast du mir geholfen? Das hast du doch, oder?«

      Kentaur und Rabe nickte bejahend. »Hilft es dir, wenn ich sage, dass ein bisschen Schwarzer Sternenstaub dich gerettet hat? Nein, du bist nicht ausersehen, das zu begreifen!« Prüfend blickte er Vasilios an. »Nur ausnahmsweise werde ich auf Menschen aufmerksam. In deren Seele muss ein Muster eingeprägt sein, das sich mit einem der vielen Muster, die in meiner Seele eingraviert sind, verbindet. In diesen Menschen schlummern wertvolle Fähigkeiten und mein Bestreben ist es, ihnen ihre Möglichkeiten bewusst zu machen.«

      »Was siehst du in meiner Seele verborgen?«

      »Schaue und höre in dich hinein, mein Lied hat das Muster in dir entschlüsselt!« Kentaur und der Rabe wandten gleichzeitig ihre Blicke von ihm ab und schauten zu den Sternen empor. »Ich bin nicht an diesen Planeten gebunden. Ich kann die Sonnenaufgänge auf dem Mars genießen, auf dem Jupitermond Titan über die gefrorenen Ozeane schreiten, kann das Sonnensystem verlassen und auf Planeten fremder Sonnen wandern. Oft begnüge ich mich mit deinem Planeten, ja, meist mit diesem Gebirge hier. Glaube mir, obwohl die Menschen schon vieles zerstört haben, du müsstest dich Millionen von Lichtjahren von der Erde entfernen und würdest doch keinen Platz finden, der so schön und wertvoll ist wie dieser.«

      Der Kentaur hob beide Hände, der Rabe breitete seine Flügel aus, ließ ein heißeres Kraa, Kraa, Kraa hören, dem ein scharfes Rak, Rak, Rak folgte und sie waren verschwunden. Wie weggezaubert.

      Erstaunt blickte Vasilios zum Himmel. Im Osten zeigte sich die Morgenröte und in eben war doch noch Nacht gewesen. Der Mond war hinter den Bergen im Westen verschwunden, die ersten Vögel begannen ihr Morgenlied. Es schien, als wäre die Zeit zügiger vergangen, als wäre sie durch eine mystische Kraft beschleunigt worden.

      Er fühlte, dass seine eine Hand etwas umfasst hielt. Es waren drei Stängel mit Blüten in zartem Rosa und mit länglich ovalen Blättern. »Erithrea Centaurium«, flüsterte Vasilios erstaunt, »Wo kommt das denn her?« Der Strauß war mit einem dünnen Band zusammengebunden, es war tiefschwarz und schien wie von innen her zu leuchten. Augenblicklich stand das Traumbild des Kentauren erneut vor seinem Auge. In Gedanken versetzte er sich in die Zeit der griechischen Götter zurück. Hatte der verletzte Kentaur Cheíron mit diesem Heilkraut nicht seine Wunden geheilt? War er nicht der weiseste und gerechteste unter den Pferdemenschen gewesen, ein fundierter Kenner der Arzneikunde?

      Lächelnd wollte er die Traumbilder von Kentaur und Rabe abschütteln. Doch die Erinnerung an den gestrigen Nachmittag brach unvermittelt über ihn hereinbrach: ›Ich bin abgestürzt, habe mir das Bein und einige Rippen gebrochen, ich hatte am Kopf eine blutende Wunde. Wieso verspüre ich keine Schmerzen?‹ Er versuchte aufzustehen und konnte nicht fassen, wie leicht es gelang. Er tastete den Unterschenkel ab, alles war in Ordnung. Er fasste sich an die Brust, atmete tief ein und aus. Von Rippenbrüchen keine Spur. Er betastete den Kopf, alles fühlte sich gesund an. Er besah die Hände, sie waren unverletzt, zeigten nicht die geringste Schramme. War neben dem mysteriösen Gestaltwandler auch der Absturz in die Tiefe Bestandteil des Traums gewesen?

      Dessen ungeachtet hielt er das Tausendgüldenkraut in Händen, gebunden mit einem Band in einer Farbe, wie aus einer fremden Welt. Wer hatte das dem Schlafenden in die Hand gedrückt? Hier, in dieser Bergeinsamkeit? Ein Wanderer?

      Er hörte Hundegebell. »Iason! Hier bin ich!«, rief er. Seine Stimme kam ihm kräftiger vor.

      Der Hund lief auf ihn zu, aufgeregt begann er an ihm zu schnuppern. »Alles in Ordnung, Iason«, sagte er und streichelte ihn über den Kopf. »Schade, dass du mir nicht verraten kannst, wessen Duftspur du da erschnüffelst.«

      Mikis, ein Junge aus Zagora, kam eifrig winkend den Hang herunter. An schulfreien Tagen trieb er sich bei dem Hirten herum. »Hi, Vasilios«, schrie er schon von Weitem. »Akylas’ Ziegen ...«

      »Tot, ich weiß«, unterbrach ihn Vasilios. »Blöde Sache das.«

      »Nein, nein. Was redest du? Heute Morgen sind sie aufgetaucht. Putzmunter. Ist das nicht irre?«

      »Prima«, krächzte Vasilios. Zu mehr konnte er sich nicht aufraffen. Hatte er nicht mit eigenen Augen gesehen, dass die eine tot, die andere in den Abgrund gestürzt war? ›Am besten, ich erzähle keinem Menschen, was mir seit gestern Abend passiert ist.‹ Er stellte sich die Schlagzeile in einer Boulevardzeitung vor: Angehender Medizinstudent stürzt bei der Suche nach zwei Ziegen im Gebirge ab. Von einem Kentaur errettet! Tote Ziegen wieder wohlauf! Das Studium könnte er vergessen, stattdessen wäre ihm ein Aufenthalt in einer Klapsmühle sicher.

      Als Vasilios auf sein Elternhaus zuging, hupte es hinter ihm. Ärgerlich drehte er sich um.