Thomas Hoffmann

Gorloin


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denn von der Hand eines Feindes. Wenn wir Sehnsucht verspüren nach unserer Heimat, ziehen wir hinauf in die Berge, zum Heiligen See meines Volkes. Kein Sterblicher und niemand, der dieser Welt noch verhaftet ist, kann die Berge um den Heiligen See lebend beschreiten, sie sind den Göttern geweiht. Dort oben erwartet ein Nachen die Söhne und Töchter unseres Volkes, deren Sehnsucht übermächtig geworden ist. Darin fahren sie über den See in die Heimat.“

      ***

      Am Nachmittag ging Kat nach Fedurin sehen. Das Tier brauche ein bisschen Bewegung, meinte sie. Da sie ihn nicht zu den Ponys in die Koppel bringen mochte, weil sie fürchtete, die Ponys würden den Esel nicht akzeptieren, wollte sie Fedurin eine Stunde spazieren führen. Außerdem behauptete Kat, der Esel brauche die Gewissheit, dass sich jemand um ihn kümmere. Sven hatte zwischen den Hütten den Klang eines Schmiedehammers gehört und ging, um sich die Eisenverarbeitung bei den Waldelben näher anzusehen.

      Ich hätte mir gern eine ruhige Stelle gesucht, um mich mit der Elementarmagie der Blitze zu beschäftigen, in die Ligeia mich eingeführt hatte, aber ich traute mich nicht. Lohan schlich in der Nähe herum und ich hatte den Eindruck, er beobachtete mich. So streunte ich eine Weile allein durch die Siedlung und ging schließlich zu unserer Wohnstatt zurück, um eine Pfeife zu rauchen.

      Schon seit Tagen überfiel mich eine zunehmende Rastlosigkeit, sobald mich nichts mehr ablenkte. Es waren nur noch wenige Tage bis Vollmond. Mein Körper verlangte nach dem Opferblut. Ich hatte die Opfergeräte dabei. Ligeia hatte sie mir mitgegeben, aber ich durfte sie bei Todesstrafe nicht verwenden. Seit Ligeia mich vor zwei Monaten initiiert hatte, hatte ich den Eindruck, meine Sinne würden schärfer und meine Empfindungen deutlicher, als erlebte ich mein Leben intensiver und wacher denn je. Aber auch mein Verlangen nach Leben war stärker geworden, nach der Quelle aller Lebenskraft - nach lebendigem Blut. Jetzt, mit dem nahenden Vollmond, wurde das Verlangen nahezu unwiderstehlich. Doch so sehr ich auch grübelte, ich wusste mir keinen Rat.

      ***

      Unter den Jägern, die am Abend ihre Jagdbeute brachten, waren auch Aeolin und Lyana. Sie hatten eine Hirschkuh erlegt. Wie die anderen Krieger berichtete Aeolin weitschweifig über ihre Jagd. Am Feuer saßen die beiden eng beieinander zwischen den anderen Kriegern. Mehrmals blickten Lyana und ich uns an. Sie lächelte jedes Mal.

      „Unzertrennlich, die beiden,“ meinte Kat mit einem Blick zu Lyana und Aeolin. „Wie ein Pärchen in den Flitterwochen. Ich glaube, in der nächsten Zeit werden wir Lyana nicht viel zu Gesicht bekommen.“

      Kat saß zwischen Sven und mir - wie immer. Auch wir saßen nahe beieinander.

      Auf einer der Bänke saß Lohan für sich allein. Die junge Frau, die ich schon am ersten Abend bei ihm gesehen hatte, bediente ihn. Er sah nicht zu mir herüber, blickte aber auch zu niemandem sonst in der Runde. Schweigend aß er sein Wildbret ohne aufzuschauen.

      Ich sprach den Krieger an, der neben mir saß. „Die Frau, die sich um Lohan kümmert, wer ist das?“

      „Manlaina ist seine leibliche Schwester,“ antwortete der Elb. „Sie hat seine Wunde gepflegt, nachdem Tamelund, unser Vater, ihn in jener von den Göttern verfluchten Vollmondnacht halbtot ins Dorf zurückbrachte. Die Wunde am Hals meines Bruders Lohan ist vernarbt, aber die Wunde seiner Seele vermag Manlaina nicht zu heilen.“

      Als die Pfeifen der Elben und unsere eigenen - die Krieger schienen Gefallen an unserem Tabak gefunden zu haben - die Runde machten, spielte Lyana ihre Flöte. Ab und zu erhob sich eine Frauenstimme aus dem Nachtdunkel und antwortete auf Lyanas Musik mit eigenen Weisen. Die Melodien umspielten sich, fanden zueinander, schwingend von unbändiger, heiterer Lebensfreude.

      ***

      „Unser Tabakvorrat wird nicht lange vorhalten bei dem Zuspruch in der Abendrunde,“ meinte Kat, als wir drei spät in der Nacht zu unserem Wohnraum hinübergingen.

      Helles Mondlicht beleuchtete unseren Weg über den Platz.

      Das Innere unseres Schlafraums lag warm im Dämmerlicht frisch aufgeschichteter, rotglühender Holzkohlen. Während Kat den Vorhang am Eingang befestigte, standen Sven und ich vor dem Lager aus Bastmatten, Filz- und Wolldecken und sahen uns unsicher an.

      „Lyana wird die Nacht nicht hier verbringen,“ erklärte Kat. „Soviel steht mal fest.“

      Sie zog ihre Lederjacke und das dünne Wams darunter aus. Mit einem Mal fühlte ich mich entsetzlich verlegen. Ich mochte Sven nicht ansehen, aber ich wusste, dass es ihm genauso ging. Kats Stiefel flogen in eine Ecke, gefolgt von den Socken.

      „Sie und Aeolin!“ meinte sie, während sie ihre Lederhosen abstreifte. „Ich gönn's ihr, ehrlich.“

      Sven räusperte sich. Kat sah von mir zu ihm. Sie trug nur noch ihr kurzes Leinenhemd.

      „Ach Jungs!“ rief sie mit zärtlichem Vorwurf.

      „Ich... also, ich könnt' noch'n Spaziergang machen,“ stotterte Sven heiser.

      „Jetzt hört aber mal auf mit der Rumzickerei!“ rief Kat. „Alle beide!“

      Sie zog ihr Hemd aus. Splitternackt stand sie vor uns. Ihre Nasenflügel bebten.

      „Nun stellt euch nicht an wie die ersten Menschen! Kommt schon, Jungs, zieht euch aus!“

      Verlegen nestelte ich an meinen Sachen. Ich kam mir furchtbar ungeschickt vor...

      Es ging tatsächlich. Kat berührte und küsste Sven und mich ohne Scheu, so dass ich bald meine Verlegenheit verlor und mich dem atemlosen Spiel hingab, das sie mit uns beiden zugleich spielte.

      Als wir alle drei erschöpft von einander abließen, drehte sich mir der Kopf, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich spürte Kat schweißnass an meiner Haut und ich spürte Svens schweren Arm, der beim Umarmen von Kat auch mich mit erwischt hatte, aber Kat weinte fast vor Glück, und ich wollte nichts lieber, als ihre Stimme hören, sie spüren und wissen, dass wir drei zusammen waren und nichts, nichts in der Welt uns würde trennen können.

      Irgendwo hinten in meinem Kopf tauchte der Gedanke auf: In meinem Heimatdorf wären wir dafür totgeschlagen worden. Aber ich verjagte ihn sofort wieder.

      ***

      Spät am Morgen verließen wir unser Nachtlager, um zur Feuerstelle hinüberzugehen. Die Krieger waren bereits zur Jagd aufgebrochen. Lyana und Aeolin waren die einzigen, die noch am Feuer saßen. Sie hielten ihre Waidmesser in den Händen und demonstrierten einander verschiedene Kampftechniken. Als wir auf den Platz hinauskamen, blickte Lyana auf. Sie steckte ihr Messer in den Gürtel und kam uns entgegen. Wir machten wohl einen etwas abwesenden Eindruck, denn sie schaute ein bisschen verwundert von einem zum anderen.

      „Morgen, Lyana,“ murmelte Kat fahrig.

      Lyana wechselte einen Blick mit mir und lächelte. „Guten Morgen, ihr drei!“

      Nachdem wir gefrühstückt hatten, ging Kat Fedurin versorgen.

      „Das Tier lässt niemanden anders an sich heran,“ behauptete sie.

      Sven wollte zu der Stelle gehen, an der die Elben das Schmiedefeuer unterhielten und sich zeigen lassen, wie in der Siedlung Pfeilspitzen geschmiedet wurden.

      Während Aeolin ihre und Lyanas Jagdwaffen holte, blieben Lyana und ich am Feuer sitzen. Ich versuchte nicht, meine Gedanken in Worten auszudrücken. Sie wusste ja doch alles.

      Lyana rückte nahe zu mir heran. „Schön, dass es dir gut geht, Bruderherz.“

      Ich schaute sie an. „Du siehst auch glücklich aus.“

      Ein Leuchten trat in ihre Augen.

      Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Weißt du, ich kann es noch kaum fassen. In Wirklichkeit habe ich nie daran geglaubt. Der Spruch der alten Wahrsagerin war die Planke im Meer, an die ich mich geklammert hab, um nicht unterzugehen auf meinen Irrwanderungen aus dem Süden herauf. Ach Leif,“ seufzend lehnte sie den Kopf an meine Schulter. „Leif, ich bin so glücklich!“