Hans-Günter Wagner

I. Die Bio-Ökonomie - Die nachhaltige Nischenstrategie des Menschen


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Theoriebildung, wobei er die Stärke der auf diese Weise gewonnenen induktiven Schlussfolgerungen in Beziehung zum jeweils zugrundeliegenden Generalisierungsbereich setzte. In seinem frühen Werk A Treatise on Probability behauptet Keynes sogar, dass jede induktive Beweisführung ohne vorherige Analogiebildung vollkommen nutzlos sei.[57]

      Wir wollen daher auch hier die voranalytische Vision transparent machen, die dem nachhaltigen und vorsorgenden Wirtschaftskonzept zugrunde liegt, und von der entsprechende Abstraktionen ihren Ausgangspunkt nehmen. Die Grundfesten eines solches Vorstellungsgebilde können wir auch als Paradigma bezeichnen, das als Muster und Problemlösungsmodell kategorienbildend und handlungsstrukturierend wirkt. Thomas Kuhn[58] hat den Begriff des Paradigma in dieser Form eingeführt, um das Gebäude metaphysischer Annahmen und Überzeugungen zu beschreiben, die von den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft geteilt werden und den jeweiligen Problemlösungsstrategien durchgängig zugrunde liegen. Anfangs hat Kuhn den Begriff des Paradigma in metaphysischer Breite gebraucht, ihn jedoch später auf die Elemente disziplinäres System und Musterbeispiele hin präziser definiert.[59] Wissenschaftlicher Fortschritt, so Kuhn, verläuft nicht - wie fälschlicherweise oft angenommen - über eine beständige und kumulative Vermehrung empirischen Wissens, sondern muss vielmehr als Prozess verstanden werden, in dem vorher geltende Erklärungsmuster verworfen und durch andere ersetzt werden. Die Tätigkeit der normalen Wissenschaft besteht darin, Rätsel im Rahmen des herrschenden Paradigma zu lösen. Im Zuge der Forschungsprozesse stößt dieses Rätsellösen jedoch auf Anomalien. Häufen sich diese Anomalien und können sie im Rahmen des herrschenden Paradigma nicht gelöst werden, so bleibt das entsprechende Problem entweder ungelöst oder es kommt zur Entwicklung eines neues Paradigma und zum Streit um seine Anerkennung: „Wenn der Übergang abgeschlossen ist, hat die Fachwissenschaft ihre Anschauungen über das Gebiet, ihre Methoden und ihre Ziele geändert.”[60]

      Der Wechsel von Paradigmen bildet also das Wesen wissenschaftlicher Revolutionen. Kuhn hat die Übertragbarkeit des Paradigma-Modells auf die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften offengelassen. Faktisch sind aber die zentralen Begriffe des Paradigma längst zu Kernkonzepten nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern ebenso im alltagsweltlichen Denken geworden. Ein zentraler Unterschied liegt jedoch darin, dass Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften stattfinden, ohne dass sich die zugrundeliegenden Erkenntnisobjekte selbst ändern, während Paradigmenwechsel in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften weniger auf Anomalien zurückzuführen sind, die im Zuge des Rätsellösens auftreten, sondern vielmehr durch politische und soziale Bewegungen ausgelöst werden, die vorherrschende wissenschaftliche Erklärungsmuster in Frage stellen.[61] So führen heute die kontraproduktiven Folgen industriellen Wirtschaftens, wie beispielsweise die bedrohliche Zerstörung unserer Mitwelt, die Erschöpfung der Naturgrundlagen unseres Lebens und die steigende gesellschaftliche Unzufriedenheit mit diesen Entwicklungen dazu, dass die herrschenden ökonomischen Paradigmen ins Wanken geraten.

      Die Ökonomie als von allen gesellschaftlichen Normen losgelöste monetäre Handlungswissenschaft wird immer öfter als bloße Profitlehre gesehen, die dem Interesse am Erhalt unserer Mitwelt aggressiv entgegensteht. In der Regel fragt die traditionelle Ökonomie weder nach den physikalischen Merkmalen der Dinge, mit denen sie sich befasst, noch zeigt sie größeres Interesse an den sozialen und psychischen Prozessen bei den beteiligten Subjekten. Zutiefst ahistorisch, reduziert sie alle menschlichen Interaktionen auf am Markt erscheinende Preis- und Mengenbewegungen. Soziale Phänomene werden dabei oft durch eine naturwissenschaftlich verbrämte Metaphorik ersetzt. Konsequenz der Orientierung am naturwissenschaftlichen Exaktheitsideal, die hier eine sehr enge Porträtierung des Handlungsrahmens der am Wirtschaftsprozess beteiligten Menschen zur Konsequenz hat. Indem alle diesbezüglichen Beschränkungen an sozialwissenschaftliche Nachbardisziplinen delegiert werden, etabliert sich eine reine Ökonomie jenseits des alltäglichen Erfahrungswissens. Anstelle der damit anvisierten strikten Trennung von beschreibenden und normativen Aussagen, kommt es dabei faktisch zur Bildung einer Grauzone, in der Aussagen beide Eigenschaften zugleich aufweisen.[62] Die zahlreichen Wachstumsmodelle im Rahmen des traditionellen Paradigma zeigen diese Defizite sehr ausgeprägt. Sie fußen auf Voraussetzungen und Annahmen, die in einer zunehmenden Zahl von Fällen einer empirischen Überprüfung nicht standhalten. Der tiefen Kluft zwischen Modell und Realität versuchen moderne Wachstumstheorien schon dadurch Rechnung zu tragen, dass sie im Unterschied zu klassischen Analysen gar nicht mehr den wirklichen Wachstumsprozess analysieren, sondern sich darauf beschränken nach den Voraussetzungen zu fragen, die gegeben sein müssen, damit wirtschaftliches Wachstum ungestört fortschreiten kann. Faktisch konzedieren sie damit jedoch, dass die tatsächliche Entwicklung ganz anders verläuft.

      Wir können die historische Wirtschaftsentwicklung als Prozess interpretieren, in dessen Verlauf mehr oder weniger stationäre Zustände durch Wachstumsdynamiken aufgebrochen werden, die nach langen Entfaltungsperioden schließlich wieder erschlaffen und dann in qualitativ neuartige Gleichgewichtszustände übergehen. Um solche extrem langen Entwicklungsverläufe zu analysieren, hat die herrschende ökonomische Theorie kaum brauchbare Instrumente entwickelt. Diese Theorie selbst ist ja erst im Rahmengefüge industrieller Marktwirtschaften entstanden, in denen die Ökonomie als Sphäre mit eigener Gesetzlichkeit erscheint. So haben der Industrialismus und die Marktorganisation ganz zwangsläufig den Inhalt und die Methoden der ökonomischen Theorie geprägt. Mit der ökologischen Krise tritt der defizitäre Charakter dieser Form ökonomischer Theoriebildung heute recht offen zu Tage. Die Krise der menschlichen Herrschaft über die Natur manifestiert sich somit auch als Krise tradierter ökonomischer Lehrmeinungen, deren Erklärungskraft dahinschwindend gleich einem Ballon, dem eben der letzte Rest an Luft entzischt. Schon seit einigen Jahren haben die einst so heiß diskutierten ökonomischen Modelle und Handlungskonzepte der beiden konträren Schulen von Neoklassik und Keynesianismus außerhalb universitärer Dispute merklich an Attraktivität und Interesse eingebüßt. Die öffentliche Diskussion um die ökonomische Entwicklungsrichtung der Gesellschaft greift heute immer seltener auf diese Modellierungen zurück, da die tatsächliche Entwicklung durch ganz andere Faktoren bestimmt wird. Dies gilt insbesondere für die Richtung der Neoklassik. Viele Grundelemente der neoklassischen Schule der Wirtschaftswissenschaft, wie invariable Konsumgewohnheiten und unveränderliche Technologie, stehen im offensichtlichen Widerspruch zur Wirklichkeit. Aber auch das konkurrierende Paradigma des englischen Ökonomen J.M. Keynes, das mehr an der Realität als an der Konstruktion lupenreiner Modelle orientiert ist und stärker die Rolle von Veränderungen, Geschmack und Technologie betont, ist in eine tiefe Krise geraten, ganz einfach weil seine Grundvoraussetzung - die Möglichkeit unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstums - heute auf unleugbare Grenzen stößt.[63]

      Die herrschende Wirtschaftslehre ist ganz in der Erbfolge des dualistischen Denkens von Descartes, dessen Weltbild durch zwei Pole definiert ist: Auf der einen Seite das omnipotente und einsam denkende Selbst, ausgerüstet mit der Macht der Vernunft und der wissenschaftlichen Methode und auf der anderen Seite eine mechanisch gestaltbare Wirklichkeit: die Welt der Natur und der menscherzeugten Objekte, die sich vollständig der Herrschaft des denkenden Selbst zu unterwerfen hat. Dieses Selbst ist im Kern zutiefst patriarchalisch. Sein Leitbild ist der Mann als Jäger und Eroberer, der die Welt verfügbarer Objekte seinem Willen dienstbar macht. In der Ökonomie wird das autonome Selbst schließlich zum Motor des gesellschaftlichen Fortschritts. Die Selbstbehauptung im Konkurrenzkampf, die Eroberung neuer Märkte und das strategische Modell des immer-besser-immer-weiter-immer-mehr ist das Paradigma einer reduktionistischen Ökonomie, in der die Abhängigkeit des Menschen von der natürlichen Welt ausgeblendet wird und wo nur die bezahlte Arbeit als wertschaffend gilt. Über die Kosten der individualistischen Konkurrenzökonomie wird zumeist geschwiegen. Sie müssen von denen getragen werden, die nichts anzubieten haben, was in Geld bezahlt werden könnte, und die dennoch äußerst produktiv sind: die in häuslicher Reproduktion tätigen Frauen, die Menschen in den armen Ländern des Südens und die natürliche Mitwelt. Das traditionelle wirtschaftswissenschaftliche Paradigma geht von einem patriarchischen und kolonialen Verständnis von Werterzeugung und Produktivität aus: nur das geldvermittelte strategische Modell des Marktes gilt als Quelle der Wohlstandserzeugung und -mehrung, während die Reproduktionsarbeit in der Familie als sekundär bewertet wird.

      Die Diskussion um eine paradigmatische Neuorientierung ökonomischen