Hans-Günter Wagner

I. Die Bio-Ökonomie - Die nachhaltige Nischenstrategie des Menschen


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Wie das chinesische Denken von Yin und Yang, so deutet auch die Smaragdene Tafel den Weltprozess als Spannungsverhältnis zwischen diametralen Polen, deren gegenseitige Kraftflüsse Kreation und Entwicklung aller Dinge ermöglichen. Das Ökologische der hermetischen Lehre liegt vor allem in der Formulierung von Prinzipien, die ganz offensichtlich aufgrund einer sehr eingehenden und tiefen Beobachtung des Naturgeschehens gewonnen wurden. So wird festgestellt, dass alles im Kosmos zyklisch und in festen Rhythmen abläuft sowie dem Gesetz der Balance und Ausgewogenheit untersteht. Auf aktive Bewegung folge eine ihr gemäße Ruhephase. Ausdehnung und Zusammenziehung, Einatmung und Ausatmung - alles geschehe in einer bestimmten Harmonie, damit es überhaupt funktioniert.[32] Begünstigt durch die mittelalterliche Scholastik und den späteren Siegeszug des cartesianischen Dualismus von Geist und Materie über die ganzheitlichen und esoterischen Lehren der Antike und Alt-Ägyptens gerieten die hermetischen Lehren in weitgehende Vergessenheit. Erst mit der Entstehung der wissenschaftlichen Ökologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt es in gewisser Hinsicht zu einer Revitalisierung dieses alten Gedankengutes. Plötzlich erfahren elementare esoterische Lehren eine unerwartete Bestätigung durch erfahrungswissenschaftlich überprüfbare Beobachtungen. Damit wird gleichzeitig offensichtlich, dass die aus der Beobachtung abgegrenzter Natursysteme erkannten Entwicklungsgesetze nicht nur für die Entwicklung dieser Systeme Bedeutung haben, sondern dass sich aus den allgemeinen Prinzipien ökologischer Entwicklung auch Regeln für die Abläufe in nicht-biologischen Systemen wie Wirtschaft und Gesellschaft ableiten lassen.

      Im Bezug auf das wirtschaftliche Handeln kann die Ökologie wesentliche Teile eines begrifflichen Bezugsrahmens liefern, um Wirtschaft und Natur als jeweilige Teile eines umgreifenden Zusammenhangs in ihrer wechselseitigen Verknüpfung zu analysieren. Auf dieser Grundlage kann die Bildung der Eigengesetzlichkeiten menschlichen Wirtschaftshandelns mit den Steuerungsprinzipien in Natursystemen kontrastiert werden. Daraus ergibt sich die Frage, welche zentralen Begriffe der Ökologie als Dimensionen des Vergleichs herangezogen werden können. Grundsätzlich stellt sich bei diesem Ansatz das Problem, dass die Aussagen der Ökologie als Wissenschaft sich ursprünglich auf ein mehr oder weniger klar abgegrenztes Fachgebiet, also auf bestimmte, abgrenzbare Bereiche der Wirklichkeit beziehen. Erst im Verlauf eines längeren Prozesses werden ökologische Methoden und Denkweisen dann nach und nach auch auf andere Bereiche der Wirklichkeit angewandt. Um diese schrittweise Erweiterung des Gegenstandes der Ökologie später genauer nachzeichnen zu können, werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf den Ausgangspunkt und die Entstehungsgeschichte der Ökologie.

      Der Begriff Ökologie wurde 1866 von Ernst Haeckel geschaffen und bezog sich ursprünglich auf die Umweltbeziehungen von Einzelwesen. In der englischen Sprache erscheint das Wort zum erstenmal 1873.[33] Ausgangspunkt der Ökologie ist die Analyse von Ökosystemen: „Ein Ökosystem ist ein Wirkungsgefüge von Lebewesen und deren anorganischer Umwelt, das zwar offen, aber bis zu einem gewissen Grade zur Selbstregulation befähigt ist.”[34] Ökosysteme sind also Wirkungsgefüge biologischer Organismen in einem gegebenen Gebiet, die vielschichtige Beziehungen zur umgebenden Umwelt unterhalten. Mit ihrer Umgebung tauschen sie Stoffe und Energien aus. Die meiste Zeit befinden sie sich in einem Gleichgewichtszustand, der allerdings nicht als ein statisches Ruhen zu sehen ist, sondern auf einem ständigen Austauschprozess basiert. Neben abgegrenzten Systemen wie einem Wald, einem See oder Gebirge wird auch die gesamte Biosphäre als riesiges, umfassendes Ökosystem betrachtet: „Die Ökosysteme der Welt sind durch energetische, chemische und die Austauschbewegungen der Organismen in einem globalen Ökosystem miteinander verbunden, das oft auch als Bio- oder Ökosphäre bezeichnet wird.”[35] Mittels von außen aufgenommener Energie entwickeln und unterhalten ökologische Systeme vielfältige Stoffkreisläufe mit komplexen Rückkopplungsmechanismen und bieten zahlreichen Arten Existenzmöglichkeiten. Solche Räume, in denen sich das Lebendige in großer Formenvielfalt und in unendlich vielen Konfigurationen immer wieder neu entfaltet, können auch treffend als Nischen bezeichnet werden. Die Entwicklung solcher ökologischer Lebensräume ist jedoch immer von der Verfügbarkeit zumindest einer äußeren Energiequelle abhängig. Anders als der stoffliche Austauschprozess, in dem alles Entstehen und Vergehen der Formen in endlosen Kreislaufbewegungen geschieht, in denen sich Lebensformen, Arten und Gattungen immer wieder neu bilden und zu Gemeinschaften gruppieren, nachdem sie - wie die indische Mythologie lehrt - Shivas kosmischer Tanz am Ende jedes Mal der Vernichtung preisgibt, verläuft die Bewegung der Energie in nach außen geschlossenen Systemen immer in eine Richtung und kann innerhalb desselben Systems von sich aus keinen zweiten Kreislauf von Zerstörung und Schöpfung in Gang setzen. Letztlich wird nämlich alle aufgenommene Energie in Wärme verwandelt, die nicht mehr durch das System genutzt werden kann und sich schließlich im Raum zerstreut.

      Vergleichbar der Entwicklung biologischer Organismen, verläuft auch die Entwicklung von Ökosystemen in verschiedenen Phasen, sog. Sukzessionsstadien, mit denen die Abfolge unterschiedlicher Entfaltungsstrategien beschrieben wird. Solche Abfolgen in der Entwicklung von Ökosystemen verlaufen als geordneter Prozess. Sie sind gerichtet und vorhersagbar. Die Ausbildung solcher Stadien ist Resultat von Veränderungen der dort lebenden Arten und Lebensgemeinschaften innerhalb ihrer vorgefundenen Umweltstrukturen. Diese Entwicklung erreicht regelmäßig ihren Höhepunkt in der Schaffung eines stabilen Ökosystems, in dem eine maximale Biomasse und symbiotische Beziehungen zwischen den Organismen auf der Basis eines möglichst geringen Energieumsatzes aufrechterhalten werden.[36] Die Sukzessionsstrategie von Ökosystemen ist im Kern die gleiche, wie die der evolutionären Entwicklung insgesamt: die Etablierung von Mechanismen stabiler Selbststeuerung, die zur Bildung relativer Gleichgewichte führt und dadurch wachsende Kontrolle über die Umwelt und maximalen Schutz vor störenden Umweltwelteinflüssen ermöglicht. So wie in der menschlichen Reifung eines jeden Individuum die archaischen Kräfte der inneren Realität, die Libido, die Instinkte und das ich-brauche, ich-will mit der Welt der äußeren Realität, den Kräften des Über-Ich, des Du sollst der Religion, des Du musst der Eltern und Lehrer und des Du darfst nicht der Nation und Zivilisation im Prozess der Persönlichkeitsbildung in Einklang zu bringen sind[37], so verläuft auch die Entfaltung ökologischer Systeme im komplexen Spannungsfeld widerstrebender innerer und äußerer Energiepolaritäten.

      Die allgemeinen Entwicklungsstrukturen ökologischer Reifungsprozesse lassen sich sowohl in Miniatursystemen unter Laborbedingungen als auch in komplexen Großsystemen, wie Wäldern, Seen oder Gebirgen, in sehr ähnlicher Weise beobachten. Die Grundregel der Sukzession besagt, dass am Beginn der Entwicklung eines Ökosystems immer die Produktion maximaler Biomasse, also quantitatives Wachstum im Vordergrund steht. Auf einen frisch aufgeschütteten Erdhügel siedeln sich zunächst sehr robuste und schnellwüchsige Pflanzen wie Löwenzahn oder Hirtentäschel an, die mit ihren langen Pfahlwurzeln große Nährstoffmengen absorbieren und schnell das ganze Erdreich bedecken. Später gerät diese Entwicklungsstrategie mit dem Ziel der Stabilisierung in Widerspruch. Qualitativ rasch expandierende Systeme tendieren zur Instabilität und zum Zusammenbruch. Um dem Zusammenbruch zu entgehen, bilden sich in der Reifephase nunmehr Mechanismen zur Wachstumskontrolle heraus, die dem System eine höhere Stabilität gegen äußere Einflüsse verschaffen. Qualität rangiert jetzt vor Quantität, geschlossene Stoffkreisläufe vor offenen und die optimale Ausnutzung verfügbarer Energie vor maßloser Energievergeudung. Nun siedeln sich auch andere Pflanzenpopulationen auf dem Erdhügel an und bringen die anfangs dominierenden Starkzehrer bisweilen in die Minderzahl. Schon nach kurzer Zeit bildet sich eine differenzierte Artenflora, die bald auch den verschiedensten Tierpopulationen gute Entwicklungsmöglichkeiten bietet, von denen in der Folge neue Beiträge zur Stabilität des Gesamtsystems ausgehen. Im Verlauf der Sukzession entwickeln sich im Ökosystem zwischen pflanzenfressenden und fleischfressenden Organismen Rückkopplungsmechanismen, die das System befähigen, jene umfassenden und verzweigten organischen Strukturen zu bilden und zu unterhalten, die notwendig sind, um störende Umwelteinflüsse in ihren Folgen abzumildern. Während dieser Entwicklungsprozesse vergrößert sich im Allgemeinen die Vielfalt der Arten bei gleichzeitig zurückgehender Dominanz nur einer einzigen oder kleinen Gruppe von Spezies. Das Zusammenleben der Populationen eines Ökosystems resultiert in den fortgeschrittenen Stadien in symbiotischen Beziehungen, verbesserter Versorgung mit Nährstoffen, geringerer Energienutzung und Zuwächsen an Information. Das umfassende Ziel ist die Erreichung größtmöglicher, ausgedehnter und vielfältiger organischer Strukturen innerhalb der Grenzen, die durch die