Hans-Günter Wagner

I. Die Bio-Ökonomie - Die nachhaltige Nischenstrategie des Menschen


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alle Elemente der Realität in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit aufnehmen, sondern muss auswählen. Aber schon der Modus des Auswählens präformiert den Gegenstand in unserer Vorstellungswelt auf spezifische Weise und legt in gewisser Weise bereits den Regelkanon parat, von dem dann zwangsläufig detailliertere Betrachtungen ausgehen. Max Weber hat den Idealtypus als Spezialfall einer Form der Begriffsbildung eingeführt.[99] Der Idealtypus liefert kein geschlossenes System von Begriffen im Sinne einer endgültigen Gliederung der Wirklichkeit, sondern ist vielmehr eine Methode der Darstellung unter dem Gesichtspunkt des Verstehens und sinnhafter Klarheit. Der Bezug zu den empirischen Tatsachen liegt darin, dass der Idealtypus vermutete oder festgestellte Zusammenhänge verständlich machen kann. Sein Wert liegt also vor allem in der Veranschaulichung, die durch die Reduktion von Komplexität einer mannigfaltigen Wirklichkeit erreicht wird. Wir wollen hier nicht allen Implikationen des Weberschen Idealtypus nachsteigen, da für unsere Zwecke nur die eigentliche Kernidee von Bedeutung ist. So glaubte Weber im Gegensatz zu Marx, der Einsicht in die Wirklichkeit der Dinge für prinzipiell möglich hielt, dass alle erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis nur Partialerkenntnis sein kann. Indem Weber die Gegenstandswelt als wertfreie und unendlich komplexe Tatsächlichkeit behandelt, bestimmt er die Objektivität der Erkenntnis allerdings nur von der angewandten Methode her.[100] Wenn sich die Erkenntnis somit ihr eigenes Objekt schafft, dann muss die herkömmliche Rede von objektiver Erkenntnis in die Irre führen. Erkenntnisgewinnung wird damit zu einem dialogischen Prozess zwischen Erkennendem und Erkannten - eine Ansicht die Max Weber so wohl nicht ausgesprochen hätte, die sich aber dennoch aus den Grundlehren seines Erkenntnismodells ableiten lässt. Was das bioökonomische Erkenntnisparadigma mit Max Weber und auch mit Karl Marx vereint, ist der Versuch, die Problematik der modernen Menschenwelt im Ganzen eines Prinzips transparent zu machen, aufgrund dessen sie dann im einzelnen erforschbar wird.

      Weil die ökonomische und historische Totalität anders nicht darstellbar ist, muss versucht werden, über die Nachhaltigkeits-Metapher Aspekte dieses Ganzen unter dem Gesichtspunkt sinnhafter Klarheit, Konsequenz und Durchsichtigkeit zu rekonstruieren. Im Bild der Nachhaltigkeit ist die Wirtschaft das Gebilde eines geschichtlichen Vorgangs, der sich auf der Basis umgreifender ökologischer Prozesse abspielt. Mit Hilfe dieses Bildes werden die typischen Funktionen und Mechanismen sichtbar, durch die sich das wirtschaftliche Geschehen als abgegrenztes Gebiet mit entsprechenden Eigengesetzlichkeiten etabliert. Indem wir erkennen, auf welche Weise die Eigendynamik des Wirtschaftslebens in Widerspruch zu den ökologischen Lebensvoraussetzungen tritt, wird Nachhaltigkeit gleichzeitig zum Leitidee und Paradigma der Zukunftsentwicklung; zeigt es doch, wie die Bewegungsgesetze von Ökonomie und Ökologie wieder aufeinander abgestimmt werden können. Christiane Buch-Lüty[101] sieht im Leitbild der Nachhaltigkeit die Abkehr von einem ökonomischen Weltbild, das noch immer vom mechanischen Denken geprägt ist und Leben als ganzheitliche Kategorie nicht wahrnehmen will.

      Die Nachhaltigkeits-Metapher stammt ursprünglich aus der Forstwirtschaft, in der das Nachhaltigkeitsprinzip bereits auf eine über dreihundertjährige Tradition zurückblicken kann. Nachhaltigkeit steht für erhaltende Nutzung, aber nicht statisch, im Sinne von bloßer Substanzerhaltung, sondern dynamisch im Sinne der Sicherung der Reproduktionskraft und Evolutionsfähigkeit der Naturpotentiale. Seit dem von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung 1987 herausgegebenen Bericht Unsere gemeinsame Zukunft, (nach der Kommissionsvorsitzenden, der norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, auch als Brundtland-Bericht bekannt)[102], in dem die Notwendigkeit einer weltweiten Strategie dauerhafter Entwicklung im Mittelpunkt der Überlegungen steht, hat sich der Begriff der Nachhaltigkeit weltweit verbreitet. Nachhaltige Entwicklung steht für die Perspektive einer dauerhaft existenzfähigen Gesellschaft, die auf Ausgleich und Stabilität mit den ökologischen Systemen hin orientiert ist, ohne deren Produktivität keine langfristig tragfähige und damit zukunftsfähige Entwicklung möglich ist. Stofflich geht es dabei um die Errichtung und den Unterhalt energiearmer Kreislaufstrukturen, energetisch um eine Begrenzung der Entropiesteigerung. Das Soziosystem soll also so organisiert werden, dass im Zusammenspiel mit Biosphäre, Atmosphäre, Lithosphäre und Hydrosphäre das thermische Gleichgewicht innerhalb des Energiebudges der Sonne eingehalten wird.[103] Eine Gesellschaft kann dann als nachhaltig angesehen werden, „ …wenn sie so strukturiert ist und sich so verhält, dass sie über alle Generationen existenzfähig bleibt. Mit anderen Worten: Sie ist so weitsichtig, so wandlungsfähig und so weise, dass sie ihre eigenen materiellen und sozialen Existenzgrundlagen nicht unterminiert.”[104] Die Ausweitung und Generalisierung des Nachhaltigkeitsprinzips über die Forstwirtschaft hinaus zum Leitbild einer dauerhaft naturgerechten Wirtschaftsentwicklung ist keinesfalls, wogegen Busch-Lüty sich wendet, ein naturalistischer Fehlschluss. Vorwürfe dieser Art, so Busch-Lüty, übersehen, dass auch in der Fortwirtschaft Nachhaltigkeit zugleich als sozialethische Grundlage und Vorsorge im Hinblick auf die kommenden Generationen verstanden wurde. Nachhaltige Entwicklung setzt die Stabilität aller beteiligten Teilsysteme von Natur, Gesellschaft und Wirtschaft voraus. Nur aufgrund solcher Stabilität können interne und externe Veränderungen selbstregulierend ausgeglichen werden: „'Ökonomische', 'sozio-kulturelle' und 'ökologische' Reproduktion bedingen sich als Determinanten im vernetzten System von Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft wechselseitig; sie bilden insofern nur integrativ die konstituierenden Elemente einer derart als ganzheitliches Lebensprinzip zu verstehenden Nachhaltigkeit.”[105]

      Der klassischen Ökonomie ist der Begriff der Nachhaltigkeit fremd. Allerdings findet sich auch hier die Idee, dass am Ende des Wachstumspfades ein stationärer Zustand liegt. Mit Ausnahme von John Stuart Mill haben die Klassiker der Nationalökonomie jedoch diesen Zustand als trostlos, armselig und nicht wünschenswert aufgefasst. Auch die neoklassische Theorie hat ein gewisses Interesse an stationären Zuständen entwickelt, die jedoch mit dem soeben skizzierten Bild der Nachhaltigkeit kaum etwas zu tun haben. Neoklassische Ökonomen verwenden den stationären Zustand nicht zur Beschreibung einer wirklich existierenden Gesellschaft, sondern lediglich als analytisches Hilfsmittel. Über die Annahme dieses Zustandes soll ein einfaches, heuristisch brauchbares Bild wirtschaftlicher Prozesse gezeichnet werden. Das Bild der idealen, in der Wirklichkeit nie existierenden stationären Volkswirtschaft ist in der neoklassischen Denktradition durch endlose wirtschaftliche Kreislaufbewegungen und das Vorhandensein einer konstanten Bevölkerungszahl, bei Abwesenheit von Neu-Investitionen, technischen Neuerungen und Vermögenskonzentrationen geprägt.[106] Auch der Hauptopponent der klassischen Ökonomie, Karl Marx, hat in der Analyse des Kapitals die Annahme stationärer Zustände als analytisches Hilfsmittel eingesetzt, um die Bedingungen einfacher Reproduktion darzustellen. Um die logischen Entfaltungsstrukturen der kapitalistischen Produktionsweise durch Akkumulation und erweiterte Reproduktion aufzuzeigen, wählte er das Schema der einfachen Reproduktion, in der die Bedingungen der Produktion zugleich Bedingungen der Reproduktion sind, als die ideale Darstellungsebene eines in der Realität kaum anzutreffenden Zustandes.[107]

      Die heutige Nachhaltigkeitsdiskussion hat allerdings wenig gemein mit dem Begriff des stationären Zustandes, wie er in der herkömmlichen Wirtschaftslehre und auch bei Marx gebraucht wird. Als stationär werden feste und beständige, nahezu unveränderliche Zustände bezeichnet; Nachhaltigkeit hingegen steht für dauerhafte, dynamische und selbststeuernde Gleichgewichtszustände. Mit dem Idealtypus der Nachhaltigkeit haben wir ein Hilfsmittel an der Hand, nicht nur um reale Ökonomien zu beschreiben, sondern auch das handlungsleitende Konzept einer nachindustriellen, nicht auf Wachstum beruhenden Wirtschaftsweise zu entwickeln, deren zentrale Funktionen an die Regelungsmechanismen der ihr zugrundeliegenden ökologischen Systeme rückgekoppelt sind. Darüber hinaus können mit diesem Idealtypus auch vorindustrielle Wirtschaftsformen hypothetisch gehaltvoll beschrieben werden. Im nächsten Kapital werden wir daher, ausgehend vom Nachhaltigkeitsmodell - verschiedenen Wirtschaftsweisen im Prozess ihrer historischen Herausbildung folgen und dabei sehen, auf welche Weise frühere Wirtschaftsformen in die sie umgebenden natürlichen Systeme eingebettet waren und dabei mehr oder weniger nachhaltige Nischenstrategien verfolgten.

      Die gegenwärtige Nachhaltigkeitsdiskussion hat im angelsächsischen Raum ihren Anfang genommen. Dort dominieren vor allem zwei Stränge: Da ist zum einen die Diskussion um Sustainable Development und Ecodevelopment (Nachhaltige bzw. Ökoentwicklung) und zum anderen der tiefenökologische Strang der Permaculture. Der erstgenannte konzeptuelle Rahmen zielt auf einen alternativen