Rainer Zak

Der lange und der kurze Weg


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kraftvoll agieren, unverkennbar das Ekel, nach dem sie bei ihrem Treffen im Gartenlokal Ausschau gehalten hatte.

      Aber sein Spiel war heute doch ein wenig anders als in den Filmen, die sie von ihm kannte. Möglich, dass er die Chance nutzte, seinen Abschied von der alten Rolle in den Schlussszenen des Filmes zum Ausdruck zu bringen.

      Julius Hertram spielte sich frei. Und Ilona freute sich auf den neuen Julius.

      V.

      Nun stand sie in seiner Wohnung und glaubte, sie hätten sich in der Tür geirrt. Das konnte nicht das Domizil des gefragten Filmschauspielers Julius Hertram sein. Ihre Bude während des Studiums war kaum kleiner als dieses Ein-Zimmer-Appartement mit einem großen Fenster.

      Er deutete die Ratlosigkeit und die leichte Irritation in ihrem Blick richtig.

      „Wer Schulden abtragen muss, kann sich keine Villa leisten; und wer Filmverträge schießen lässt, kann sich auch in Zukunft keinen Bungalow von 200 qm zulegen.“

      Sie ließ die frugale Ausstattung der Kleinwohnung amüsiert auf sich wirken: ein Küchenblock, eine Dusche, ein Tisch, zwei schmale Schränke, ein Bett und ein Sessel.

      „Gäste haben bei dir die große Auswahl, ob sie auf dem Boden, auf dem Sessel oder auf deinen Knien Platz nehmen wollen, oder?“

      Ilona ließ das Bett links liegen und begutachtete den Sessel.

      „Immerhin doch ein breit gefächertes und teilweise auch reizvolles Angebot!“ sagte er. „Und hast du dich schon entschieden?“

      „Du hast vorhin behauptet, dass du die Frauen liebst, also überlässt du mir den Sessel!“

      Doch er schlenderte an ihr vorbei und nahm vor ihren Augen in diesem Sessel Platz.

      „Da ich als Schauspieler an Überheblichkeit und Größenwahn leide, kommen nur meine Knie als Liebesbeweis in Frage.“

      Sie schaute sich im Zimmer um und tat so, als hätte sie das Bett erst jetzt völlig überraschend entdeckt.

      „Bei deinem egoistischen Starrsinn zwingst du mich doch tatsächlich, die Notlösung zu wählen.“

      Ilona entledigte sich der Schuhe, schlüpfte aus ihrer Jacke und streckte sich auf dem Bett aus.

      „Jetzt gehst du aber doch ein wenig zu weit! Erst den gemütlichen Sitz auf meinen Knien verschmähen und dann mein einziges Bett besetzen! So gehst du mit meiner Gastfreundschaft um!“

      Während er die letzten Worte sprach, hatte Julius den kurzen Weg zum Bett zurückgelegt und die andere Hälfte seiner Schlafstätte in Beschlag genommen.

      „Sag mal, bist du der heilige Sankt Martin?“, fragte sie, während sie sich auf der Seite liegend an ihn lehnte.

      „Weiß nicht“, sagte er nahe an ihrem Ohr, „und wenn doch: so nahe bei dir werde ich nicht lange keusch und heilig bleiben können.“

      „Ich frag nur, weil Sankt Martin alles mit den Bedürftigen teilt, zum Beispiel Mäntel, Betten und so weiter.“

      Ilona stemmte sich hoch, rutschte zu ihm hinüber und robbte an ihm empor, bis ihr Kopf unter seinem Kinn ruhte.

      „Der hat schon Phantasie, dieser Sankt Martin“, flüsterte er, „aber mir fällt da auch einiges ein.“

      Dabei griff er in das Fleisch ihres Rückens, presste dann ihre Schenkel an sich.

      „Lass mich eine Weile so auf dir liegen, Julius!“ verlangte Ilona.

      „Und alles, was deine Hände mit mir machen, ist wunderschön; ich halte sie nicht mehr auf.“

      Da hatte Julius aber auch schon damit begonnen, den Bund ihres Slips über ihre Hüften hinabzuschieben. Ilona hob dafür ihr Becken an und sank dann zurück.

      „Julius“, murmelte sie, „deine Hände sind ja kalt. Komm ins Warme?“

      Spagat

      I.

      In dem Appartementhaus am Gansforth gab es ein ständiges Kommen und Gehen. Selten verging ein Monat, ohne dass nicht wenigstens an ein oder zwei Tagen der Aufzug des 10stöckigen Gebäudes für einige Zeit blockiert war. Umzugkartons und Kleinmöbel sammelten sich im Flur des Erdgeschosses und verschwanden dann nach und nach; ein Klingelschild wurde ausgewechselt.

      Gestern hatte Ute sich auf diese Weise in der dritten Etage niedergelassen und anschließend unternehmungslustig eine Erkundung in alle Nischen und Ecken des Gebäudes gestartet. Die Architektur ihrer Etage sah der darüber und der darunter zum Verwechseln ähnlich und nirgendwo zeigten sich nennenswerte Spuren von Leben. Im Keller gelang es ihr schließlich, erste Anzeichen menschlicher Zivilisation aufzuspüren; im Waschmaschinenraum gurgelten zwei Geräte vor sich her und in der Ecke hockten zwei kaugummikauende Barbiepuppen und tratschten. Ute sah ihre kommunikative Ader von zähen Ablagerungen der Einsamkeit bedroht.

      II.

      Als Ute nach einer Woche den Zeitpunkt gekommen sah, selbst im Kellerverließ eine erste Ladung schmutziger Wäsche einer Waschtrommel anzuvertrauen, stieß sie dort auf den ersten männlichen Mitbewohner.

      Das Haus der 60 Einzelzellen war seit zwei Jahren Helges Stützpunkt für sein improvisiertes Leben. Seine langjährigen Erfahrungen als Einsiedlerkrebs schlossen immer noch nicht die Bewältigung aller alltäglichen Routineübungen ein. Zum Beispiel Wäsche waschen nach den Regeln der Schadensbegrenzung.

      Der mürrische Typ, der mit einem Brummen auf Utes heitere Begrüßung geantwortet hatte, machte sich unverzüglich und hemmungslos ans Verfüllen der nächsten Maschine. Seine sowohl einzigartige als auch eigenartige Methode bestand darin, seine Kleidungsstücke wahllos und ungeordnet nach Materialien und Farben zusammenzustopfen.

      „Machen Sie das immer so?“ fragte Ute voller Verblüffung, weil sie ihren Augen nicht traute. Und als er sich schweigend abwandte, versuchte sie es mit einem freundlichen Rat.

      „Sie werden sehen, dass die weiße Wäsche länger weiß bleibt, wenn sie das Farbige separat waschen!“

      An seinem darauf folgenden Blick erkannte sie schon, was er von ihrer Empfehlung hielt; aber er verzichtete dennoch nicht darauf, ihr seine Meinung um die Ohren zu hauen.

      „Ihre klugen Sprüche können Sie ruhig für sich behalten. Darauf kann ich gern verzichten!“

      III.

      Nach dieser Begegnung legte sie verständlicherweise keinen Wert darauf, ihn so bald wiederzusehen. Am nächsten Tag jedoch hatte sie keine Chance, ihm aus dem Weg zu gehen. An einer scharfen Kurve hinter der Fleischtheke kam es nach einem Beinahe-Zusammenstoß zum Showdown. Die Gänge beim größten Discounter des Viertels waren nun einmal sehr eng geschnitten, und so kam es zur gegenseitigen Blockierung ihrer Einkaufswagen. Helge erstarrte, Ute zuckte die Schultern.

      Auch beim anschließenden Rangieren ähnelten ihre Entwirrungsversuche eher dem Duell zweier Auto-Scooter-Piloten.

      Nebenbei bemühte sich Ute, ihr Befremden über das Chaos in seinem Einkaufswagen, über die Menge der Fertig- und Tiefkühlprodukte zu verbergen.

      Er hatte jedoch ihren missbilligenden Seitenblick aufgefangen und trat ihr ergrimmt entgegen.

      „Wahrscheinlich wissen Sie auch hier alles besser! Sie kennen nicht nur die Rezepte für die perfekten Waschmethoden, sondern werden mir wohl gleich einen Vortrag über die richtige Ernährung halten. Alles in allem wären sie sicher die perfekte Frau für jemanden wie mich! Was gäbe es denn sonst noch, das sie zu meiner Vervollkommnung beitragen könnten?“

      „Der Typ ist ja völlig verkarstet!“ dachte Ute. Sie schwankte kurz zwischen Mitleid und Empörung; dann aber lief das Fass bei ihr über.

      Sie konnte auch anders und zeigte dies mit einem