ist. Wenn mein Bruder Werner mal zu viel Bier getrunken hat, heult er heute noch und meint:
»Ich würde ihr eigenhändig den Kragen, sprich Hals umdrehen, wäre sie noch unter den Lebenden.«
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»Hm ja, apropos Essen, ob ich jetzt schon einen der sieben Müsli Riegel genießen sollte, den mein Notfallkoffer beinhaltet?« Ich hatte im Dingi bei solchen Überseefahrten immer eine Notausrüstung festgezurrt. Mein winziges Schlauchboot erklomm gerade einen Wellenberg, und da sah ich es plötzlich. Es war ein weißer Lichtfleck, der sich im starken Seegang mit den Wellen hob und senkte. Ich versuchte, das schwache Licht nicht aus den Augen zu verlieren, während das kleine Dingi in ein Wellental hinunter sank. War das ein Fischerboot, das sich hier durch den Sturm kämpfte? Egal, was auch immer, Hauptsache ein Schiff. „Die werden mich nicht sehen, wie sollten sie auch.“ Wie zur Bestätigung verschwand ich mitsamt dem Dingi wieder in einer Wasserschlucht. Es gelang mir, auf dem Rücken liegend, trotz des heftigen Seegangs den Notfallkoffer zu öffnen. Vorsichtig versuche ich, ihn waagrecht zu halten, um ja nicht den kostbaren Inhalt an das Meer zu verlieren. Ich hatte den Koffer mit einer Leine an meiner Schwimmweste befestigt. Jetzt entnahm ich ihm eine der Rettungsraketen und verschloss ihn sofort wieder, bevor er sich mit Wasser füllen konnte. Dann zerbiss ich die Plastikfolie, welche die Rakete vor Feuchtigkeit schützen sollte.
»So … mit einer Hand halten, mit der anderen am Seil ziehen. Verdammt, verdammt, Scheiße!«
Wir hatten das zwar in der Segelschule und vor meiner ersten Atlantiküberquerung dutzende Male geübt, mir war richtig langweilig dabei geworden.
»Was soll das, ist doch Kinderkram«, hatte ich damal gedacht.
Und jetzt hatte ich mich, wohl vor Aufregung, beinahe selbst erschossen und samt Schwimmweste versenkt. Soviel zu Theorie und Praxis.
»Tief durchatmen, tief atmen «, redete ich mir selbst gut zu. Ich hatte nicht so viele Raketen und war noch zu lebenshungrig, um mich selbst zu erschießen. Also versuchte ich, mich zu konzentrieren, diesmal mit Erfolg. Die nächste Rakete stieg zischend und heulend gegen den Himmel.
»Na ja, zumindest sollte man bemerken, dass hier noch ein Mensch lebt. Falls die überhaupt in Sichtweite sind.« Ich verschwand mitsamt dem Schlauchboot schon wieder in einem Wellental.
„Verdammt noch mal!“, entfuhr es mir. Als ich nach einer Ewigkeit wieder hoch kam, war das schwache Licht ganz verschwunden. Meine Euphorie schwand augenblicklich und die Stimmung fiel ins Bodenlose. So bodenlos, wie die See unter mir. Es war unschwer, sich klarzumachen, wie meine Situation in Wirklichkeit ausschaute. In dieser beängstigenden Dunkelheit konnten die mich sogar überfahren, ohne etwas von mir zu bemerken. Die Wellen waren inzwischen so unvorstellbar riesig und brachen sich zudem ständig über mir. Es schien mir deshalb zu riskant, den Koffer noch einmal zu öffnen. Womöglich würde ich noch den ganzen Inhalt in der nächsten Minute ans Meer verlieren, sowohl Notfallraketen, als auch Müsli Riegel. Ich musste wohl noch länger durchhalten und zuerst den Sturm abwettern. Ich verwarf daher den Gedanken an weitere Signalraketen sofort wieder. Und jetzt schon meine Energiereserven anzugreifen wäre sicher gedankenlose Verschwendung gewesen. Auch die zwei Dosen Energy Drink wollte ich so lange wie möglich aufbewahren. Vielleicht verliehen sie ja wirklich Flügel, sollte keine andere Hilfe auftauchen. Träumen darf man ja. Hätte ich bloß als Kind schon so eine Dose gehabt.
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Ich wollte schon damals in meinen Tagträumen immer zur Kirchendecke hoch fliegen und Wunder nicht nur Jesus überlassen. An einen Ort fliegen, der weit entfernt wäre von meiner verrückten Kindheit. Einen Ort, an dem es nur mein wahres, kindliches Selbst gäbe, wo mein inneres Licht herausfinden konnte, wer ich wirklich war. Damals war ich von diesem Traum sehr weit entfernt, und im Moment wohl auch.
Die täglichen Kirchenbesuche, zu denen wir Kinder gezwungen wurden, werden uns wohl diese Institution für immer vermiest haben. Meine Oma sang, wie so viele Verwandte auch, fast täglich im Kirchenchor. Ein Grund mehr, davon zu fliegen. Wir mussten sie jedes Mal begleiten, in die Kirche, nicht beim Singen.
Zwei meiner Brüder waren ja auch noch zu Ministranten ausgebildet worden. Das war damals eine sehr wichtige Funktion für Burschen in diesem Alter und von einer gewissen Bedeutsamkeit.
An mir ging dieser Kelch leider vorüber. Mädchen wurden damals in dieser patriarchalischen Welt noch nicht geduldet, auch wenn sie noch so burschikos waren wie ich. Ich schmollte, wollte ich doch lieber in der Sakristei mit den Burschen albern, als brav mit meinen Artgenossinnen in der Kirchenbank sitzen.
So nebenbei wurden mir durch den Umzug nach Reutling, und dem damit verbundenen Kulturschock, gleich einige weitere Tiefschläge versetzt. Dazu zählten neben dem sprachlichen Schock eines für Reutlinger fast unverständlichen Grailtaler Dialekts, der kulturelle, kulinarische und auch finanzielle Schock. Wir waren aufgrund der Übersiedelung und dem Bau eines Hauses wirklich arm wie Kirchenmäuse geworden. Vom gesicherten Nest waren wir sozusagen in die Slums abgerutscht. Wie auch die gesamte Hausmauer, die während der Umbauten am großelterlichen Hexenhaus, sprich der umgebauten Waschküche des Bauernhofes meiner Urgroßeltern, während des Kartoffelsiedens an meiner Mutter und mir vorbei in das Kellerloch rutschte bzw. stürzte.
Um Geld und Zeit zu sparen hatte mein Onkel, als verantwortlicher Baumeister, die Wand des alten Hauses einfach nicht entsprechend abgestützt und gesichert. Heute würden wir mit dieser Aktion sicher auf der Titelseite einer Tageszeitung stehen. Und das ist ja inzwischen gar nicht mehr so einfach – zumindest nicht mit etwas Positivem. Damit hatte ich schon wieder eine ›Beinahe-Katastrophe‹ überlebt. Während wir Kinder – ich wiederhole Kinder – mit den Aufräumungsarbeiten beschäftigt waren, musste mein Vater mit unserer Großmutter, wie des Öfteren, wenn Arbeit angesagt war, Karten spielen. Meine Mutter hat, so glaube ich, badewannenweise Tränen wegen dieser greisen Tyrannin vergossen. Sehr lange war deshalb das Grailtal für mich die idyllische Heimat, die man mir genommen hatte. Meine Grailtaler Großmutter wusste diese Vorliebe von mir auch bei jedem meiner Besuche ganz gewaltig zu unterstützen. Mein Vater hatte es gewagt, ihr die Tochter, damit die Familie und auch die Enkel zu nehmen. Jetzt musste ich herhalten. Um Jo und Werner war sie ja nie sehr bemüht, die waren zu wild und rüpelhaft, aber ich hatte es ihr als Mädchen unter einer Horde von Wilden angetan. Hier gab ich mir ausnahmsweise Mühe und hielt die Hexe in mir versteckt. ›Verräterin‹ wurde ich dafür von meinen Brüdern genannt.
Bei meinen Aufenthalten im Grailtal musste ich immer wahre Schimpforgien auf meinen Vater, der ja Talflucht begannen hatte, über mich ergehen lassen. Ich kann ihn inzwischen voll und ganz verstehen und es akzeptieren. Aber was hätte ich damals als 8-jährige schon verstehen sollen? Ich erinnere mich noch genau an einen Besuch zwischen Weihnachten und Neujahr. Wir sollten ganze zwei Wochen, bis nach Dreikönig, bleiben. Meine Großmutter war glücklich und führte Regiment. Mein Vater ging mit uns Schifahren, um ihr auszuweichen. Es kam, dass mein Bruder Werner sich den Fuß brach. Wir mussten deshalb unseren Urlaub abbrechen. Da lernte auch ich meine bisher geliebte Großmutter so richtig kennen. Werner mit seinen sieben Jahren wurde von ihr regelrecht in der Luft zerrissen. Und das, obwohl er mit einem frischen Beinbruch und den damit verbundenen gewaltigen Schmerzen in der Bauernstube lag.
Leicht abgeschwächt klang das in etwa so: »Muss sich der saublöde Bua a no den Fuaß brechn. Du depperta Bua, iatz miaßn alle wegn dia hoam forn. I kennat di glei no derschlagn, so was bledes.« Und damit verbannte sie den 7-Jährigen trotz seines Schocks und starker Schmerzen zur Strafe auch noch in die Speisekammer.
Ich bin danach weniger gerne in den Ferien zur Grailtaler Oma gefahren. Das war nämlich bis dato mein Privileg gewesen. Inzwischen weiß ich auch, warum mein Großvater, der mich wirklich sehr gerne mochte, meine Besuche gar nicht so sehr schätzte. Meine Großmutter wollte nämlich immer, dass ich im gemeinsamen Schlafzimmer schlafen sollte.
»Das arme Mädchen hat ja so Angst, alleine in einem anderen Raum.«
Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, vor etwas Angst gehabt zu haben, getraute mich aber nicht, dem Hausdrachen zu widersprechen. Ich habe es dann irgendwann einmal geschnallt. So brauchte